„Florian, why do you still have a studio?“

Atelier von Florian Pumhösl

Das Atelier ist den alltäglichen Lebenszusammenhängen insofern enthoben, als dass sich Vorstellungsbilder daran knüpfen, die es als Wirkungsstätte des Künstlerischen ausweisen. Erwartungen und Klischees stilisieren den Arbeitsort des Künstlers zu einem Kultraum der Originalität, in dem der Arbeitsprozess einem Schöpfungsakt gleichkommt. Somit ist das Atelier nicht nur ein Ort, an welchem künstlerische Impulse ausgearbeitet werden, sondern auch symbolisch aufgeladener Topos.[1] Auf den Spuren dieser mythischen Aufladung ergab sich im Rahmen einer Lehrveranstaltung die Gelegenheit, den Konzeptkünstler Florian Pumhösl in seinem Atelier zu besuchen.[2] Das Vorgefundene entsprach nicht dem klassischen Bild der Künstlerwerkstatt. Vielmehr erweckte das Studio den Eindruck eines Büros und auch die Inaugenscheinnahme aktueller Arbeiten war nicht möglich. „Ich habe ein straßenseitiges Atelier. Das bedeutet, dass Dinge raus sollen und nicht rein“, erklärte Pumhösl schmunzelnd. Die Struktur des Raumes legt die Assoziation mit einem Denkgehäuse nahe, von dem aus Ideen nach draußen strömen. Somit wird deutlich, dass neue künstlerische Verfahren sichtlich Erfordernisse und Beschaffenheit des Ateliers verändert haben.[3]

Ein Atelier dient nicht nur der bohèmienhaften Imagesetzung, die den Künstler mit den äußeren Prädikaten eines Künstlerdaseins ausstattet, die Außenwirkung kann die Inszenierung des Künstlersubjekts lenken und zur Legendenbildung beitragen, denn das Bild der Künstlerwerkstatt ist eng verwoben mit der Vorstellung vom Künstlertum selbst. Geistesund ideengeschichtlich lassen sich solche Annahmen, Ideen und Motive aus langfristigen Entwicklungen ableiten, den historischen Rahmen bilden grundlegende Veränderungen auf dem Gebiet der künstlerischen Produktion. Nachdem im 18. Jahrhundert höfische Auftraggeber und Mäzene zunehmend an Bedeutung verloren, ein moderner Kunstmarkt entstand und damit auch eine wachsende Bedeutung des Publikums und bürgerlichen Auftraggebers einherging, geriet das Künstlersubjekt in die Rolle des sozialen Außenseiters. Antibürgerlichkeit wurde zum Markenzeichen und die Herstellung eines Kunstwerkes im Atelier und außerhalb der bürgerlichen Konventionen zu einer gezielt gesetzten Handlung, die eine künstlerische Gegenwelt herstellt. Das Atelier wird zum Kunstraum und nimmt eine Sonderstellung ein: Einerseits Ort privater Abgeschlossenheit, ist es andererseits auch ein Platz potentieller Öffentlichkeit. Diese Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Lebens- und Arbeitsraum setzt die Künstlerwerkstatt ins Zentrum eines Geflechts aus Künstler, Werk, Arbeitsprozess und Öffentlichkeit und ermöglicht es, davon ausgehend interessante Fragestellungen zu eröffnen.[4]

KATRIN MIGLAR: Nachdem wir heute die Gelegenheit haben, in Ihrem Atelier sein zu können, würden wir Sie insbesondere dazu befragen wollen, welchen Stellenwert ein Atelier für einen zeitgenössischen Künstler haben kann. In der Literatur stößt man eher auf den postmodernen Anspruch der Künstler, den Atelierraum zu verlassen. Deswegen die Frage: Welche Bedeutung und Relevanz kann ein Atelier noch haben und inwiefern ist Ihre künstlerische Tätigkeit an diesen konkreten Ort gebunden?

FLORIAN PUMHÖSL: Ich würde unterscheiden zwischen der symbolischen Komponente des Ateliers und der Notwendigkeit des Ateliers. Die symbolische Komponente des Ateliers interessiert mich wenig, die Notwendigkeit interessiert mich sehr. Erstens glaube ich – aber das ist auch sehr temperamentabhängig – es ist wichtig in einem Raum zu sein, in dem ich die Konzentration finde und die Umgebung, wo mich Dinge nicht substanziell stören. Für mich hat sich die Notwendigkeit des Ateliers ergeben. Bei einer Podiumsdiskussion habe ich gewitzelt, ich bin ein Roboter, der versucht, im Atelier sich selbst auszutricksen. Dann hat ein Kollege, ein honoriger Konzeptkünstler namens John Knight gesagt: „Florian, why do you still have a studio?“ Ich fand das sehr sympathisch. Für diese Generation war es wichtig mit diesem Nimbus zu brechen. Michel Asher und John Knight, die wirklich wichtige Figuren der konzeptuellen Kunst sind, haben sich sehr stark als non-studio artists verstanden mit dem Effekt, dass sie jetzt in ihren Häusern Hals über Kopf in ihren Archiven stecken. Das sind praktische Notwendigkeiten. Ich habe bis vor einigen Jahren ein größeres Arbeitszimmer in meiner Wohnung gehabt und das war mir auch sehr angenehm bis zu dem Zeitpunkt, wo regelmäßig Leute mitgearbeitet haben. Das ist auch eine der Notwendigkeiten ein Studio zu haben.

KATRIN MIGLAR: Sie haben direkt den symbolischen Gehalt vom praktischen Aspekt getrennt. Glauben Sie wirklich, dass der Topos des Ateliers gestorben ist, diese mythische Dimension, wenn man sich im Atelier des Künstlers aufhält, wo man quasi dem künstlerischen Schaffensprozess hautnah sein kann? Hat das für uns heute keine Bedeutung mehr?

FLORIAN PUMHÖSL: Das glaube ich nicht. Ich sehe, dass es für viele Leute eine Bedeutung hat. Mich wundert es auch zum Teil ein bisschen. Ich sage den Leuten: Wissen Sie, dass mein Atelier der Ort ist, an dem Sie am aller unwahrscheinlichsten eine Arbeit von mir sehen werden? Es gibt Sammler oder mäzenatische Gruppen und es gibt diesen Nimbus des Studio Visits, wo man denkt, man könne die Arbeiten schon vor der Ausstellung sehen. Das ist für mich sehr schwierig, gerade wo es um Verräumlichung geht oder Installationen und Filme. Ich kann hier nicht auch noch ein Kino haben.

Atelier von Florian Pumhösl

KATRIN MIGLAR: Das Atelier kann also nicht nur private Abgeschlossenheit sein, sondern erlaubt auch öffentliche Präsentation. Lässt sich damit auch eine Repräsentation, eine Selbstinszenierung oder ein Image gestalten?

FLORIAN PUMHÖSL: Nein. Als Imagesache sehe ich es nicht. Ich habe es gern, wenn Leute da sind, aber zur Repräsentation ist es mir nicht wichtig.

JULIA GELSHORN: Das hängt auch von der Art der Kunst ab, die man macht. Wenn hier nichts zu sehen ist, verliert es genau diese Bedeutung.

KATRIN MIGLAR: Dann kann man sagen, dass durch die Ausweitung des Werkbegriffs auch das klassische Atelier sich verändert hat. Ich weiß nicht, ob ich jetzt nicht zu weit gehe, wenn ich die Verbindung ziehe, dass der Bedeutungsverlust des Ateliers anzeigt, dass sich auch das Künstlersubjekt als solches verändert hat.

FLORIAN PUMHÖSL: Ja, das glaube ich wohl auch.

KATRIN MIGLAR: In meinem Kopf existiert die Vorstellung vom einsamen Künstler, der in Abgeschiedenheit verzweifelt an seinem Werk bastelt.

FLORIAN PUMHÖSL: Das ist schon so.

KATRIN MIGLAR: Der Künstler als Intellektueller und Kritiker hat eine Rolle im gesellschaftlichen Gefüge. Wenn Künstlerpersönlichkeiten aus dem Atelier hinausgehen und aktiv in die gesellschaftlichen Vorgänge eingreifen, partizipieren sie dann auf diese Weise?

FLORIAN PUMHÖSL: Ich bin immer relativ skeptisch, wenn es um Berufsbilddiskussionen geht. Das beobachte ich seit zwei Jahrzehnten, dass es ständig um die Normalisierung des Künstlerbildes geht. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich muss weder ein Architekt sein noch ein Politiker. Ich finde, man kann in der Kunst all das verhandeln. Es ist ein Raum auf den wir uns geeinigt haben, wo alle diese Dinge Platz haben, aber das bedeutet nicht, dass ich mir als Künstler jede Woche ein neues Rollenbild suchen muss. Ich kann mich auch kunstimmanent mit solchen Fragen befassen. Ich kann auch als Künstler einen politischen Anspruch haben. Mich interessieren diese Rollenbilddiskussionen nicht, ob der Künstler ein Forscher oder ein Architekt ist oder was immer. Das sind Ablenkungsdiskussionen. Letztlich geht es darum, ob einem etwas Relevantes gelingt und was immer man dafür tun muss, muss man halt tun.

JULIA GELSHORN: Das scheint eine gewisse Diskursmacht zu sein, gegen die man sich in der Praxis wehren muss beziehungsweise die man ignorieren muss. In diesem Sinn wird immer wieder die Frage gestellt, wo die zeitgenössische Kunst im gesellschaftlichen Zusammenhang steht. Es ist durchaus ein Statement, wenn du sagst, die Kunst sei ein mit Autonomie ausgestatteter Bereich (der Begriff Autonomie ist natürlich weit), der in Wechselwirkung steht mit gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen, aber doch eine autonome Schaffenszone ist. Es geht dann letztlich auch darum etwas herzustellen und auch das ist in großen Kunstrichtungen in Frage gestellt worden.

FLORIAN PUMHÖSL: Ein Werk muss ja auch nicht hergestellt werden. Das hat man ja auch durchaus bewiesen in der konzeptuellen Kunst, dass das Werk auch im Sichtbarmachen von Relationen liegen kann.

JULIA GELSHORN: Ja klar, aber trotzdem ist es was anderes, ob ich Sozialarbeiter werde oder ob ich auch aus formalen Problemen heraus etwas entwickle, das in unterschiedlichste Medien einfließen und ganz unterschiedliche Themen betreffen kann.

FLORIAN PUMHÖSL: Auf der einen Seite finde ich, dass der Freiraum der Kunst genutzt wird, um sozusagen eine Feigenblattfunktion zu haben, das heißt, wenn man die Sozialarbeit in der Kunst erledigen kann, muss man sie in der Gesellschaft nicht mehr erledigen. Wo ich aber schon Recht geben würde, mit dem modernen Kunstbegriff, dieser Raum der Autonomie ist schon wohl verhandelt. Der hat schon auch einen Sinn.

KATRIN MIGLAR: Die Kunst wäre demnach also auch ein Reservoir für all jene Dinge, die im alltäglichen Leben nicht möglich wären.

FLORIAN PUMHÖSL: Ich suche in der Hinsicht auch überhaupt nicht nach einer Funktion. Es braucht keine Legitimation, es soll es nur geben. Man muss keinen Grund dafür finden, es soll es einfach nur geben.

CLARA KUCHAR: Was ist Ihre Motivation, sich mit Kunst zu beschäftigen?

FLORIAN PUMHÖSL: Eine Grundmotivation ist, dass ich immer wieder von Kunst angezogen werde, dass ich sie gern anschaue und dass sie mir immer wieder Dinge aufgibt. Ich finde, es ist sehr profitabel, mit Kunstwerken und mit deren Auseinandersetzung zu leben, weil sie einem immer auch Dinge eröffnen, weil sie eine Möglichkeit der Erfahrung sind, die doch eine hohe Flexibilität hat und einen immer wieder überrascht. Was auch eine Motivation ist, dass Kunst keine alltägliche Beschäftigung ist. Sie funktioniert anders als Medien oder Alltag. Das ist eine gewisse Sehnsucht, die man hat. Dass es etwas gibt, das außerhalb von konventioneller Sprache existiert und auch im Stande ist, eine gewisse Komplexität zu repräsentieren.

CLARA KUCHAR: Wie politisch darf ein Künstler sein? Wie beeinflusst die Politik das Werk eines Künstlers?

FLORIAN PUMHÖSL: Das sind gute Fragen. Wie politisch darf ein Künstler sein? Wir leben in einer sehr luxuriösen Situation, was das betrifft. Nicht alle haben die Möglichkeit, das selber festzulegen. Wir dürfen so politisch sein, wie wir es eben in unserer krisengebeutelten, nicht immer vorwärtsgerichteten kleinen Demokratie sein dürfen. Das lege auch nicht ich fest. Wenn ich mich dadurch beschnitten fühlte, würde ich es wahrscheinlich sagen. Ich glaube, es ist ein Fehler zu fragen, wie die Politik das Werk eines Künstlers beeinflusst. Es ist nicht produktiv von der Politik und der Kunst auszugehen. Es ist immer interessanter solche Einflussnahmen im Einzelnen zu untersuchen. Die Kunst bildet politische Situationen und auch einen gewissen Zeitgeist ab, daraus kann man auch zum Teil schließen, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Wenn ich auf eine Kunstmesse gehe und ich sehe kleine Aquarelle, Porträts von Millionären und sehr mächtigen Leuten und ich stelle fest, dass das viele Leute interessiert, dann kann ich sagen, das ist schon ein Zeitbild. Das nächste ist der Begriff der Kreativität. Das ist etwas, was ich in Frage stelle. Es gibt bestimmte Eigenschaften und Wahrnehmungen, denen man folgen kann. Die Kreativität ist nichts, was ich genuin oder körperlich hervorbringe, sondern es kommt aus einer spezifischen Situation. Es kommt auch sehr stark aus der Zeit. Für mich macht die Zeit eine Arbeit, nicht unbedingt die Möglichkeit, etwas sofort aufs Papier zu bringen. Wie lange kann ein Gedanke reifen und sich auch mit anderen Erfahrungen verbinden. Irgendwann gibt es die Möglichkeit, das in einer Arbeit zu artikulieren.

JULIA GELSHORN ist seit April 2010 Professorin für Neueste Kunstgeschichte und Kunst
der Gegenwart am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien.
CLARA KUCHAR studiert Kunstgeschichte in Wien.


[1] Vgl. Michael Diers/Monika Wagner (Hg.), Topos Atelier: Werkstatt und Wissensform, Berlin 2010.
[2] Gespräch im Rahmen der Lehrveranstaltung „Kunstszene Wien – Räume, Institutionen, Akteure“, Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien, Prof. Dr. Julia Gelshorn, Wintersemester 2010/11. Das Interview führten Clara Kuchar, Katrin Miglar und Krisztina Pauer.
[3] Vgl. Sabine Breitwieser (Hg.), Designs für die wirkliche Welt, Katalog der Generali Foundation, Wien 2002 sowie Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.): Florian Pumhösl. 678 (Kat.), Beitr. von Eric de Bruyn, Jaleh Mansoor & Matthias Michalka. Interview von Matthias Michalka, Wien 2011.
[4] Vgl. Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie, Heilsbringer, Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007 sowie Verena Krieger: Sieben Arten, an der Überwindung des Künstlersubjekts zu scheitern. Kritische Anmerkungen zum Mythos vom verschwundenen Autor, in: Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, Martin Hellmold (Hg.), München 2003, S. 117 – 148.

Quellennachweis: Katrin Miglar, „Florian, why do you still have a studio?“. Ein Gespräch mit dem Wiener Konzeptkünstler Florian Pumhösl, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=427.

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Vom fotografischen Blue Chip zum Masterpiece der jüngeren Kunstgeschichte

Abb. 1: Thomas Struth, Sommerstraße, Düsseldorf, 1980, Silbergelatine- Abzug, 66 x 84 cm.

Neben Andreas Gursky und Thomas Ruff konnte sich aus der ‚Becher-Schule’ auch Thomas Struth als international sehr bekannter und hochdotierter Fotokünstler etablieren. Von den ehemaligen Kommilitonen bei Bernd und Hilla Becher unterscheidet sich sein betont nüchterner Stil durch einen zurückhaltenden Gebrauch von digitalen Retuschen und Inszenierungen. Von 2010 bis 2012 werden über hundert Werke aus Struths OEuvre in Zürich, Düsseldorf, London und Porto bei der Wander-Retrospektive Thomas Struth: Fotografien 1978-2010 gezeigt. Sie wird von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit dem Kunsthaus Zürich und in Zusammenarbeit mit dem Künstler organisiert. Die zweite Station im Düsseldorfer K20 am Grabbeplatz ist für eine nähere Auseinandersetzung besonders interessant, denn Struth selbst hat mit einigen seiner frühen, bislang noch nicht gezeigten Düsseldorfer Straßenszenen eine außergewöhnliche Rauminstallation kreiert. Die ersten Vernissagenreaktionen waren durch einen positiven Tenor geprägt, wobei die starke Involvierung des Künstlers in die Ausstellungskonzeption zum Vorteil seiner kommerziellen Interessen bisher zu wenig problematisiert wurde. Die dadurch beeinträchtigte Deutungsinstanz des Museums soll im Anschluss an eine Analyse der Ausstellungskonzeption im K20 näher erläutert werden.

Die Arbeitsweise des Fotografen in zum Teil parallel entstehenden Serien legt eine nicht-chronologische, thematische Präsentation nahe. Sie beginnt in Düsseldorf in der Grabbe-Halle, die aufgrund einer Höhe von zwölf Metern und einer dominierenden Längserstreckung ein schwierig zu bespielender Raum ist. Dicht entlang der Längswände hat Struth auf Stellwänden kleinformatige Straßenszenen platziert (Abb. 1). Diese frühen, von Ed Ruscha beeinflussten Arbeiten sind streng zentralsymmetrisch aufgenommen, während die Gestaltung der späteren Werke freier ist. Bis auf einige jüngere Ansichten aus Lima in zurückhaltender Farbigkeit handelt es sich um Schwarz-Weiß-Aufnahmen. In ihnen versucht Struth, das Wesen der Städte fernab der Touristenattraktionen zu erfassen. Bei solchen sogenannten Unbewussten Orten rückt er gerade in Deutschland die unwirtliche und phantasielose Nachkriegsarchitektur in den Blick.

Abb. 2: Thomas Struth, Paradise 9, Xi Shuang Banna, China, 1999, Chromogener Abzug, 269,4 x 339,4 cm.

An den schmalen Querwänden und den Eckbereichen der Grabbe-Halle sind monumentale Fotografien von Wäldern und Dschungels aus der ganzen Welt gehängt (Abb. 2). Mit ihrer Naturthematik, der intensiven grünen Farbigkeit und dem großen Format heben sie sich betont von den Stadtansichten ab. Der Serientitel New Pictures from Paradise und die fehlende Tiefenperspektive bei diesen Aufnahmen sollen darauf alludieren, dass es keine Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem gäbe. Diese in den 1990er Jahren sehr virulente Thematik gewinnt zwar im Zusammenhang mit den tristen, urbanen Anblicken an Eindrücklichkeit, trotzdem mutet sie zu fatalistisch an. Die inhaltliche Fragwürdigkeit der Künstlerinstallation wurde bislang nicht diskutiert, gelobt wurde nur die räumlich ausgewogene Präsentation.

Nach der piazza-ähnlichen Atmosphäre der Grabbe-Halle wird der Besucher im zweiten Ausstellungsbereich mit einer genau gegenteiligen Raumsituation konfrontiert. In der säulenlosen, 1100 Quadratmeter großen Klee-Halle sind mit dreizehn Stellwänden viele kleine Kabinette eingerichtet worden. Es gibt keinen eindeutigen Rundgang; mit vielen kleinen Durchgängen wird der Eindruck eines Labyrinthes erzielt. Vom Künstler, der auch in die Hängung der Klee-Halle involviert war, wurde dies verbrämt als Anspielung auf das New Yorker Straßenraster.[1] Pragmatisch gesehen konnte man so in erster Linie möglichst viele Werke ausstellen und zugleich den Besucherblick trotz der Fülle an Großformaten noch auf die einzelne Fotografie zentrieren. Bei einer stärkeren Frequentierung der Ausstellung sind die kleinen Kompartimente allerdings ungünstig. Auch werden Ausstellungskonzeption und Besucherorientierung verunklart, vor allem, wenn sich Serien über zwei Kabinette erstrecken.

In der Klee-Halle wird zunächst mit einer Reihe von urbanen Motiven eine Überleitung zu den Stadtszenen in der Grabbe-Halle geschaffen. Gezeigt werden unter anderem Fotografien von bekannten Sehenswürdigkeiten auf der ganzen Welt, bei denen Struth mit ungewöhnlichen Perspektiven den Touristenblick hinterfragen will. Es ist auffällig, dass der Fotograf parallel zu seiner zunehmenden internationalen Bekanntheit verstärkt weltweit relevante Motive wählt. Auch in Zeiten forcierter Globalisierung wäre es jedoch weiterhin sinnvoll, wenn Struth sich wie in seiner Frühzeit der häufig zu wenig beachteten und verdrängten ‚Exotik’ des deutschen Alltags, den übersehenen urbanen Veduten annehmen würde.[2] Anschließend wird eine Reihe von Familienporträts vorgestellt. Innerhalb einer vom Fotografen bestimmten Kulisse aus dem privaten Umfeld bestimmen die Dargestellten ihre Positionen selbst. An ihren Gesten sollen bestimmte psychologische Grundkonstellationen ablesbar werden, die den gemeinsamen Alltag prägen, weshalb die bislang noch unabgeschlossene Serie auch den Titel Familienleben trägt. Ohne nähere Hintergrundinformationen sind dem Betrachter zu den dargestellten Personen jedoch nur vage Spekulationen möglich. Die Porträts, die überwiegend sehr gut situierte Familien zeigen, wirken wie neofeudale, wenngleich eigenwillige Repräsentationsbildnisse. Propagiert wird dabei ein im 21. Jahrhundert immer weniger repräsentatives, bürgerliches Familienideal, das im Vergleich etwa zu Nan Goldins intimen Aufnahmen ihres Freundeskreises, der gleichsam als ‚Ersatzfamilie’ im subkulturellen Milieu dient, nicht sehr zeitgemäß wirkt.

Struth hat sich außerdem intensiv mit der touristischen Profanisierung von sakralen Orten auseinandergesetzt. In dem zugehörigen Kabinett der sogenannten Kultstättenstellt er darüber hinaus erstmals eine Aufnahme aus dem Petersburger Bahnhof aus. Die Flüchtigkeit der dortigen Passanten wird dadurch mit den transitorischen Besucherströmen der sakralen Orte in Verbindung gebracht. Dieser bildliche Bezug stellt allerdings eine etwas oberflächliche Problematisierung der Säkularisierung dar. In zwei weiteren Kompartimenten werden Struths neueste Arbeiten mit Industrie- und High-Tech-Motiven präsentiert. Indem die Arbeiten in Angrenzung an die Sakralbilder positioniert werden, wird auf den Topos von Technik als säkularisierter Religion der Moderne verwiesen. Ein wiederkehrendes Thema bei den technischen Sujets ist die erschwerte Kontrollierbarkeit und Verständlichkeit der hochkomplexen Strukturen und Apparaturen.

Abb. 3: Thomas Struth, Semi Submersible Rig, DSME Shipyard, Geoje Island, 2007, Chromogener Abzug, 279,5 x 349 cm.

Bei der Fotografie einer koreanischen Halbtaucher-Bohrinsel aus dem Jahr 2007 werden besonders die riesigen Stahlseile betont (Abb. 3), mit denen der Stahlkoloss scheinbar nur sehr mühsam an Land vertäut wird. Kaum wahrnehmbar ketten im Vordergrund zwei Männer mit deutlich weniger Aufwand ihre Fahrräder an. Dies mag ein kleiner Hinweis auf die Nutzung von erdölunabhängigen und umweltfreundlichen Fortbewegungsmitteln sein. In der Fotografie wird aber vor allem die Imposanz der Bohrinsel zelebriert, die harmonisch in die sonnige Hafenlandschaft der Geoje-Insel eingebettet ist. Besonders angesichts der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko durch die Explosion der BP-Ölplattform Deepwater Horizon im vergangenen Jahr erscheint die Darstellung Struths mit ihrer nur marginalen Kritik zu affirmativ und fragwürdig.

Die seit den ausgehenden 1980er Jahren entstandenen Museum Photographs halten, beeinflusst von zeitgenössischen rezeptionsästhetischen Debatten, die Beziehung zwischen Betrachter und musealen Objekten fest. Diese Aufnahmen sind maßgeblich für Struths Erfolg und Bekanntheit mitverantwortlich. So ist die Serie in Düsseldorf auch mit den meisten großformatigen Arbeiten vertreten; das zugehörige Kabinett nimmt die ganze hintere Querseite der Halle ein. Zentral ist der fünfteilige Fries der Audiences positioniert worden. Er stellt eine Weiterentwicklung der Museum Photographs dar, denn hier werden nur noch die Reaktionen der Touristen vor Michelangelos David fokussiert, nicht jedoch die Statue selbst. Die Museum Photographs bilden einen besonders effektvollen Abschluss, da der Besucher zur Reflexion seiner eigenen Rezeption aufgefordert wird.

Problematisch ist der schon exemplarisch herausgestellte, affirmative und wenig kritische Gehalt der Arbeiten Struths. Nicht unpassend erscheint die Charakterisierung von Struths Werken als Annäherung an „[…] National Geographic pics for the privileged”.[3] Auf vielen Fotografien fungieren die Menschen nur als Requisiten. Es handelt sich bei den Aufnahmen weniger um sozial engagierte Kunst, sondern in erster Linie um eine Befriedigung der Schaulust, unterstützt durch monumentale Abzüge und brillante Diasec-Qualität. Die Ausstellungsinstallation forciert eine intensive sinnliche Wahrnehmung, jedoch nicht eine kritischere inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fotografien. Die Bildungsaufgabe des öffentlichen Museums wird durch den gänzlichen Verzicht auf Informationstafeln und Bildtexte unterminiert. In Düsseldorf hat der Besucher immerhin die Möglichkeit, einen museumsextern produzierten Dokumentarfilm über Thomas Struth von Ralph Goetz und Werner Raeune zu sehen.[4] Darin wird die Entstehung der Technikbilder und die Hängung der Düsseldorfer Ausstellung gezeigt und der Künstler äußert sich zu seinem Werdegang und seinen Arbeiten. Dies wird von den Produzenten des Films jedoch kaum kommentiert, noch wird beispielsweise die technische Unterstützung des Künstlers durch das Labor Grieger erwähnt. Der Film tendiert so zur Künstlerheroisierung.

Zusammen mit der Eintrittskarte wird dem Besucher ein aufwendig gestalteter, kostenloser Kurzführer offeriert, der aber nur 14 der über 100 Fotografien vorstellt. Besonders auffällig sind die zahlreichen Vergleiche ausschließlich mit Hauptwerken der ständigen Sammlung des Museums. Sie sind mit Sicherheit bestimmt vom aktuellen museumspolitischen Anliegen, nach dem zweijährigen Umbau der Kunstsammlung die neue Sammlungspräsentation zu propagieren. Die Bezüge zwischen Struths Arbeiten und den Klassikern der Moderne sind allerdings häufig sehr deduktiv und formalistisch. Weitaus erkenntnisreicher wären Bezugnahmen auf näherliegende Vergleichswerke wie etwa der New Topographics-Bewegung, weiterer Becher-Schüler oder der Neuen Sachlichkeit gewesen. Zudem wäre es gerade bei einer Retrospektive wünschenswert, nähere Informationen zu den vielen weiteren Einzelaufnahmen mit Sujets aus der ganzen Welt zu erhalten. Selbst für das opulente Begleitbuch zur Ausstellung sind keine wissenschaftlichen Einzelbildanalysen erarbeitet worden. Im ersten Aufsatz werden vornehmlich jüngere Arbeiten Struths behandelt, in den anderen drei Beiträgen werden allgemeinere Charakteristika seines OEuvres thematisiert.[5] Von James Lingwood, dessen Mitarbeit von Struth gewünscht worden ist, und Tobia Bezzola werden die Serien ebenfalls nur allgemein vorgestellt. Diese Einführungen basieren auf Interviews mit dem Fotografen ohne näher auf den Forschungsstand zu Struths Arbeiten einzugehen. Sehr viel Wert wird dagegen auf eine luxuriöse Präsentation der Abbildungen gelegt, die innerhalb des großen Katalogformats vergleichbar monumentalisiert werden wie die ausgestellten Großformate. So erscheinen die Motive vielleicht imposanter, werden jedoch nicht gehaltvoller.

Eine Retrospektive stellt stets eine besondere Würdigung des Künstlers dar, wird seinem bisherigen Werk doch das Prädikat der Museumsreife verliehen. Die Jahresspanne im Ausstellungstitel verweist darauf, dass Struths Schaffen nun die Dauer einer Generation umfasst. Dies gilt generell als Beleg dafür, dass der Fotograf seinen festen Platz in der jüngeren Kunstgeschichte gefunden hat. Die kunstwissenschaftliche Bedeutsamkeit von Struth wurde zudem 2009 über die Publikation eines Readers mit ausgewählten, sehr wohlwollenden Beiträgen zu seinem Schaffen zusätzlich untermauert.[6] Die dadurch erzielte symbolische Wertsteigerung der Arbeiten Struths kann auf dem Kunstmarkt ideal in eine kommerzielle umgewandelt werden. Denn im erneuten Boom des Kunstmarktes nach der Finanzkrise können sich die bisherigen Blue Chips nur dann gegenüber den neuen Highflyers behaupten, wenn wie bei Struth eine lange internationale Reputation nachweisbar ist. Kurz vor der Eröffnung der Düsseldorfer Ausstellung konnte so am 15. Februar 2011 bei Sotheby‘s ein Selbstbildnis von Thomas Struth die stattliche Summe von 421‘250 Britischen Pfund erzielen, was sich auch günstig auf die Galeriepreise auswirken wird.[7] In dieser Hinsicht ist auffällig, dass Struths neue Serie der Technikbilder im Rahmen einer ‚Rückschau’ besonders viel Gewicht erhalten hat. Dagegen wird bei der deutschen Ausstellungsstation auf Struths Einzelporträts, Blumenstilleben und frühe Gemälde verzichtet. Bedingt durch die stark reduzierte Deutungsinstanz des Museums sowohl bei der Präsentation als auch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Vermittlung durch die weitreichende Involvierung des Fotografen wirkt die Retrospektive wie ein erweiterter, prestigeträchtiger Showroom von dessen Galerien.

Museen können allerdings auf Ausstellungen von gehypten zeitgenössischen Blue Chips kaum verzichten, auch wenn deren Rang als Masterpieces nicht unumstritten ist. Die Institutionen verlieren zwar zunehmend ihre Glaubwürdigkeit als kulturelle Instanzen, können jedoch nur so in Zeiten der Krise leichter Sponsoren finden und Publikumsquoten erfüllen. Die Qualität und das Renommee der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen rührt jedoch gerade daher, dass sich ihr Gründer Werner Schmalenbach gegenüber hoch gehandelter zeitgenössischer Kunst sehr skeptisch zeigte und sich von den Verstrickungen des Kunstmarktes zu distanzieren wusste. Möglich war ihm dies allein durch eine ausreichende finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand.

Thomas Struth. Fotografien 1978-2010
Kunsthaus Zürich (11.6.-12.9.2010)
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (26.2.-19.6.2011)
Whitechapel Gallery, London (6.7.-16.9.2011)
Museu de Serralves / Museu de Arte Contemporânea, Porto (14.10.2011-29.1.2012)


[1] Magdalena Kröner, Operation am offenen Gehirn, in: FAZ, 03.03.2011 [15.03.2011], URL: http://www.faz.net/artikel/C30997/fotografie-operation-am-offenen-gehirn-30329394.html.
[2] Zum Verhältnis von Kultur und Alltagswelt im modernen Deutschland siehe auch: Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), in: Ders., Schriften I, Frankfurt am Main 1971, S. 205-304.
[3] Jerry Saltz, Struthsky, in: The Village Voice, 21.12.1999 [15.03.2011]. URL: http://www.villagevoice.com/1999-12-21/art/struthsky/.
[4] Institut für Kunstdokumentation und Szenografie (Hg.), Thomas Struth, Düsseldorf 2011.
[5] Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen/Kunsthaus Zürich (Hg.), Thomas Struth: Fotografien 1978-2010 (Kat.), München 2010.
[6] Hans Rudolf Reust/James Lingwood (Hg.), Texte zum Werk von Thomas Struth, München 2009.
[7] Thomas Struth, Alte Pinakothek, Selbstporträt, 2000, Chromogener Abzug, 159,4 x 187,3 cm, Sotheby‘s, Contemporary Art Evening Auction, Sale L 11020, London, 15.02.2011, Lot 22, verkauft für 421250,00 GBP [15.03.2011].

Quellennachweis: Viola Rühse, Vom fotografischen Blue Chip zum Masterpiece der jüngeren Kunstgeschichte. Thomas Struths Retrospektive im Düsseldorfer K20, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=434.

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… presso alcuni si stima haver esso rovinato la pittùra.[1]

Caravaggios erster Biograph Giovanni Baglione hatte wenig Positives über den Künstler zu sagen, den er persönlich gekannt hatte und mit dem er überdies verfeindet gewesen war.[2] Caravaggio habe sein Talent missbraucht, seine zahlreichen Nachfolger irregeleitet und die Malerei damit zerstört. Seine Nachahmer würden sich schlicht darauf beschränken – wie ihr Vorbild auch – die Natur zu imitieren und sich allein auf die Wirkung der Farben verlassen. Damit sei jedoch keine Erzählung zustande zu bringen, denn um Figuren zu einer historia zu verweben, sei es notwendig, die Grundlagen des disegno zu studieren, so Baglione.

Diese Kritik an der Malweise Caravaggios findet sich auch in Pietro Belloris Lebensbeschreibung des Künstlers wieder: Michelangelo da Caravaggio habe, als man ihn auf die Schönheit antiker Statuen hinwies, nur wortlos auf eine Menschenmenge gezeigt, berichtet Bellori und bringt dieses schweigende Zeigen mit einer ähnlichen Geste des antiken Malers Eupompos von Sicyon, die durch Plinius überliefert ist, in Zusammenhang.[3] Auch dieser hatte, nach den Vorbildern seiner Kunst befragt, auf eine Gruppe Menschen gedeutet – allerdings hatte Eupompos diesen Zeigegestus mit erklärenden Worten begleitet. Nicht so Caravaggio: Nach Belloris Bericht bleibt er stumm – und ebenso stumm bleibt seine Malerei. Wie schon Giovanni Baglione erklärt auch Bellori, dass die Konzentration auf kräftige Farben nichts anderes als eine Imitation der Natur und einen Effekt des Momentanen, Augenblickshaften hervorbringe, der im Gegensatz zu einer sich zeitlich entwickelnden Erzählung steht. Kontiguität, die sich nicht zu einer Erzählung schließen will, als Folge fehlender konzeptueller Anstrengungen, ist nach Bellori ein Charakteristikum der Malerei Caravaggios.

Die Wahrheit der Malerei liege vielmehr in der konzipierten Form, in der Zeichnung, die in der Tiefe des Bildes bleibt, verborgen unter Farbe, die nur einen Effekt sinnlicher Wahrnehmung darstelle. Die Beschreibungen, die alle ihre außerordentliche Farbwirkung und im Besonderen ihr Oberflächenrelief hervorhoben, sprachen der Malerei Caravaggios eben jene verborgene Tiefe ab, die durch die darunter liegende Zeichnung gegeben schien. Für das klassische Denken stellte disegno das Konzept dar, das nicht durch die Sinne erfahrbar, sondern durch die Anstrengungen des Intellekts lesbar wurde. Im Netz einer entstehenden akademischen Sprache waren die Begriffe disegno und colore zu Wertkategorien geworden, die universelle Gültigkeit beanspruchten, um damit die subjektive Kunstbetrachtung zu regulieren.[4] Vor allem den Autoren im Umkreis der französischen Académie Royal de Peinture et de Sculpture gelang es, daraus ein diskursives Feld zu formen, das die Rede über Kunst im 17. Jahrhundert und darüber hinaus bestimmen sollte.[5]

Mr. Poussin lui repartis-je, ne pouvoit rien souffrir du Caravage, & disoit qu’il étoit venu au monde pour d étruire la Peinture.[6]

In diesen Worten Poussins, die durch André Félibien überliefert sind, scheint sich die Kritik Bagliones zu wiederholen und doch gibt es entscheidende Differenzen zwischen den beiden so ähnlichen Aussagen über Caravaggios Kunst.[7] Bagliones Äußerung, Caravaggio habe die Malerei zerstört, lässt sich als Aussage über gewisse technische Aspekte künstlerischer Ausführung lesen, die Caravaggio und seine Nachfolger daran gehindert hätten, gute Historienbilder zu malen. Poussins Kritik stellt demgegenüber eine Radikalisierung dar, die Caravaggios Existenz auf eine einzige Funktion zusammenzieht und gleichzeitig diese Funktion, nämlich die Malerei zu zerstören, auf sein gesamtes Wollen hin ausdehnt. Darin zeigt sich ein Denken, das sich an Vorstellungen totalitärer Ganzheit orientiert, die auch Poussins künstlerisches Schaffen bestimmten, und die ihn zu einem zentralen Exempel und Informanten des institutionalisierten Kunstdiskurses werden ließen.[8] Poussins Urteil bezieht sich auf Caravaggios Stellung im Feld einer diskursiven Praxis, die ihre eigenen Grenzen als die der Malerei verstand, und die ihre Denkformen auf die Malerei zu übertragen versuchte. Das Ergebnis war eine Grammatik der Kunstbetrachtung und eine Hierarchie der Gattungen, die als Paradigmen der akademischen Theoriebildung jeden Äußerungsakt transzendierten.[9]

Es stellt sich die Frage, weshalb die genannten Autoren, die den Beginn des klassischen akademischen Diskurses im 17. Jahrhundert formten, nicht aufhören konnten, über jenen Maler zu sprechen, der ihrer Meinung nach von eben diesem Diskurs auszuschließen war. Könnte es sein, dass Caravaggios Kunst die Mechanismen einer sprachlichen Praxis sichtbar machte, die im Verborgenen bleiben mussten, damit sich ein spezifisches System der Repräsentation, wie es von den klassischen Autoren gefordert wurde, durchsetzen konnte? Ist die Malerei Caravaggios zu verstehen als der Ort im Zentrum der klassischen Repräsentation, das sprechende Subjekt, das den akademischen Diskurs hervorbringt – ein Subjekt, das nicht aufscheinen darf, um dem Sprechen über Kunst jene Transzendenz zu verschaffen, welche die klassische Theorie für sich in Anspruch nahm?[10] An jenen Orten jedoch, an denen das Negative wiederkehrt, wie in der Rede über Caravaggio, erscheint das Subjekt der Äußerung in seiner unreduzierbaren inneren Differenz.[11] Der Zwang, immer wieder über Caravaggio sprechen zu müssen, würde sich demnach aus einem Begehren des diskursiven Subjekts nach Totalität ergeben, das es in die paradoxe Lage bringt, jenen Teil seiner selbst, den es ausscheiden möchte, als das eigene Fremde unentwegt wiederkehren zu sehen.[12]

Détruire la peinture[13]

Der Titel einer 2003 erstmals in deutscher Sprache erschienen Publikation Louis Marins zu Caravaggios Malerei als eine weitere Wiederholung? Auch hier gibt es entscheidende Unterschiede, sowohl zu Bagliones als auch zu Poussins Aussage. Hatte bereits Baglione die Meinung nicht näher bezeichneter anderer wiedergegeben („[…] presso alcuni si stima […]“), und war Poussins Aussage durch einen anderen – nämlich Félibien – überliefert worden, so eröffnet der genannte Titel die Frage nach dem Autor sowohl der Aussage als auch des Zerstörungsaktes. Das unvermittelte Nebeneinander von Zerstören und Malerei verweist darüber hinaus auf Eigenschaften der Kunst, die möglicherweise immer schon in der Zerstörung zu suchen waren, leitet sich détruire doch vom lateinischen struere/stuctum ab, um mit der Anfügung des Präfix de- nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Aufhebung/Verneinung zu bezeichnen.[14] Welcher Art ist die Komplizenschaft zwischen Malerei, Struktur und Zerstörung – jenen Worten also, die als Titel einer Publikation über Caravaggios Kunst so geschickt ineinander gefaltet wurden?

Im Anschluss an eine Zusammenfassung der Diskussionen zwischen Erwin Panofsky und seinen Kollegen um die Bedeutung der Inschrift „et in arcadia ego“, wie sie auf dem Grabstein in Poussins Arkadischen Hirten von 1640 erscheint, stellt Marin die Frage: „Nutzlose Gelehrtendiskussion?“ und er antwortet: „Was in der Tat quer durch den Austausch der Argumente hindurch zu bedenken bleibt, ist die Frage nach der Wahrheit in der Malerei, nach dem Subjekt von Repräsentation als Äußerung, sowie nach der Autonomie des narrativ Geäußerten.“[15]

Repräsentation – um diesen Begriff kreist die Fragestellung und auch der Satz. Er führt zu einer Publikation aus dem 17. Jahrhundert, erstmals erschienen 1662 mit dem Titel L’Art de penser, bekannt als die Logik von Port-Royal.[16] In der Logik von Port-Royal wurde ein Modell der Repräsentation entfaltet, in dem das Verhältnis des Denkens zur Sprache einerseits und das Verhältnis zwischen der Sprache und den Dingen andererseits geregelt werden. Die Sprache, die bisher wie die Dinge entziffert werden musste, wurde dabei aus diesem Zusammenhang herausgelöst und als Zeichensystem thematisiert.[17] Sprache wurde vorgestellt als ein transparentes Medium, in dem sich Aussagesubjekt und Aussageakt auflösen, und in dem sich in objektiver Weise die Gegebenheiten einer vorgefundenen Welt wiederfinden. Diese Strukturen sprachlicher Repräsentation als Mechanismen des Denkens ließen sich offenbar mühelos auch auf bildliche Darstellungen übertragen. Wohl zu keiner Zeit war der Glaube an die syntagmatische Lesbarkeit von Bildern so ausgeprägt wie in der klassischen Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts. Poussins Anweisung aus einem der Briefe an seinen Freund und Förderer Fréart de Chantelou – „Lesen Sie die Geschichte und das Gemälde, um zu erkennen, ob jedes Ding dem Sujet angemessen ist“[18] – zeigt ein fast widerstandsloses Gleiten zwischen Text und Bild.

Ainsi ils étoient bien opposez l’un à l’autre.[19]

Mit diesen Worten klassifiziert Félibien die künstlerischen Auffassungen Caravaggios und Poussins als absolute Gegensätze und ordnet ihre Arbeiten damit als signifikante Elemente der gleichen paradigmatischen Achse zu. Beide Künstler beschäftigten sich mit den Möglichkeiten der Repräsentation im Historiengemälde, wobei sich ihre jeweilige Besonderheit durch die Differenz zum anderen bestimmen lässt.[20] Wie Félibien ausführt, besteht ihre Opposition in der Vornehmheit der Sujets bei Poussin gegenüber Caravaggios Neigung, sich zur Wahrheit des Natürlichen hinreißen zu lassen.[21]

Erinnern wir uns kurz an die Ausgangshypothese: Caravaggios Kunst als der abgründige Ort an dem das verdrängte Subjekt der Aussage wiederkehrt – ein Subjekt, das nur als Abwesendes, als Verneintes in der klassischen Repräsentation vorhanden ist. Während Poussin an der Totalisierung der Erzählung, an der Autonomie der Aussage gegenüber einer Äußerungsinstanz arbeitet, ist es die Ambivalenz jeglichen Äußerungsaktes, die für Caravaggio eine gegebene Bedingung von Abbildbarkeit darstellt. Die Gestalten seiner Malerei sind gespaltene Figuren: Abgetrennte Köpfe, Haarscheitel, Gewandfalten und gerissene Nähte sind äußerliche Spuren einer immer schon vollzogenen grundlegenden Teilung, die sich bei Caravaggio bis in die Sujets erstreckt.[22] Aus der Spaltbarkeit und Gespaltenheit der Gestalten Caravaggios ergibt sich ein weiteres Problem in Bezug auf die Regeln des ikonischen Syntagmas, dessen Lesbarkeit nicht nur von den Figuren selbst, sondern auch von deren Zwischenräumen abhängt: Durch die fehlende innere Kohärenz gelingt es den Figuren auch nicht, sich nach außen hin abzugrenzen. Wo immer mehrere Gestalten in Caravaggios Gemälden zusammentreffen lässt sich die Tendenz beobachten, sie zu Körperklumpen zusammen zu schließen – die Körper scheinen einem unwiderstehlichen Agglutinationszwang zu folgen. Beides, die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bedeutungseingrenzung der Figuren als auch ihre Unabgrenzbarkeit gegeneinander, sind Merkmale, die Caravaggios Malerei zum Gegenstand der klassischen Kritik werden ließen.

Abb. 1: Michelangelo da Caravaggio, Gefangennahme Christi, 1602, Öl auf Leinwand, 133,5 × 169,5 cm, Dublin, National Gallery

Die von Bellori beschriebene Gefangennahme Christi kann hierfür ein Beispiel geben. (Abb. 1) Es ist bezeichnend, dass Bellori die Darstellung nicht als zusammenhängendes, chronologisch geordnetes Geschehen erfasst. Seine Beschreibung gibt vielmehr ein Nebeneinander miteinander verbundener Details wieder.[23] Die Figuren drängen sich eng um Christus, so dass Körpergrenzen und Gliedmaßen sich vorerst nicht eindeutig zuordnen lassen. Jesus wird sowohl von Judas als auch von einem geharnischten Soldaten gepackt, deren Arme sich überkreuzen. Ein zweiter Soldat hat den Mantel des fliehenden Johannes ergriffen, der sich über den Köpfen von Jesus und Judas zu einem Baldachin bläht und so den unumkehrbaren Augenblick des verräterischen Kusses einfängt. Am erstaunlichsten allerdings ist die Gestalt des Johannes, der wie ein janusgesichtiges Doppel aus dem Hinterkopf Jesu heraus zu wachsen scheint. Die überaus menschliche Angst des Jüngers, dessen Panik sich in einem Schrei entlädt, und die stille Hinnahme des Geschehens durch den Gottessohn – sind das nicht jene beiden Aspekte, die das Wesen Jesu nach christlicher Lehre ausmachen? Zwei Figuren, die, sich voneinander lösend, zu einer Gestalt verschmelzen; ein Vorgang, der in den verschränkten Händen am unteren Bildrand nochmals Ausdruck findet. Christus wird von Caravaggio in diesem Gemälde als die paradigmatische Figur der inneren Differenz schlechthin gezeigt.

Wie in vielen seiner Historiengemälde hat sich Caravaggio auch in diesem selbst dargestellt. Er hält eine Laterne hoch und gibt uns damit nicht nur im übertragenen Sinn das Ereignis zu sehen.[24] Caravaggio selbst ist der Szene so nahe, dass er paradoxerweise durch das Gedränge der Körper hindurch kaum in der Lage ist die Ergreifung Jesu zu erblicken. Der zu sehen gibt kann selbst nicht sehen: Tritt er zurück um die Ereignisse, oder im Falle eines Selbstporträts sein eigenes Spiegelbild, zu betrachten, so verliert er das zu malende Bild aus den Augen.[25] Bewegt sich der Blick des Malers vom Modell zurück zum Bild, so durchläuft er jenen winzigen Augenblick, in dem er weder das eine noch das andere sieht, und in dem sich die Verschiebung der Dinge vom Sein in die Vorstellung vollzieht. Es ist jener Moment, der sich im klassischen Diskurs nicht darstellen lässt, der das Subjekt in seiner (Nicht-)Existenz repräsentieren würde.

Baglione hatte es bereits bemerkt: So lässt sich im Sinne des klassischen Denkens keine Geschichte erzählen. Caravaggios Gemälde präsentieren die Repräsentation jener Instanz, in der die geordnete Abfolge der Signifikanten zum Stillstand kommt, in der die syntaktische Kette reißt, in der Substitution des transzendentalen Signifikats durch die Präsenz eines Ichs im Akt der Aussage, der immer auch ein Akt der Auflösung und der Zerstörung ist.


* Der vorliegende Aufsatz ist die gekürzte Fassung eines 2010 am Wiener Institut für Kunstgeschichte gehaltenen Vortrags. Zur Entstehung haben vor allem Wolfram Pichler, Johanna Függer und Simon Vagts beigetragen, die unabhängig voneinander und doch gemeinsam einen Raum eröffneten, in dem sich die Arbeit erst entwickeln konnte. Ihnen gilt mein besonderer Dank.

[1]  „Nach der Meinung einiger habe er die Malerei zerstört.“, Giovanni Baglione, Le Vite de‘Pittori, Scultori et Architetti, dal Pontificato di Gregorio XIII del 1572 in fino a’tempi di Papa Urbano Ottavo nel 1642, Rom 1642, S. 138.

[2] Zu Bagliones Lebenslauf siehe die etwas einseitige Biographie von Maryvelma Smith O’Neil, Giovanni Baglione. Artistic Reputation in Baroque Rome, Cambridge et al. 2002.

[3] Plinius d. Ä., Historia Naturalis, L XXXIV c 9. Vgl.: Alice Sedgwick Wohl (Hg.), Giovanni Pietro Bellori, The Lives of the Modern Painters, Sculptors and Architects. A New Translatation and Critical Edition, translated by Alice Sedgwick Wohl, Cambridge 2005, S. 180. Pietro Belloris Le Vite de Pittori, Scultori et Architetti moderni erschien erstmals 1672.

[4] Zu begriffsgeschichtlichen Entwicklungen vgl. Hans Körner, Auf der Suche nach der „wahren Einheit“. Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988, S. 14–24 u. 67–69, mit bibliographischen Anmerkungen. Ebenfalls: Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft XIX, 1974, S. 219–240.

[5] Zum gesellschaftlichen Umfeld und zur Rolle André Félibiens in der Festlegung eines begrifflichen Kanons vgl. Stefan Germer, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV, München 1997, S. 335–397.

[6] André Félibien, Entretiens sur les Vies et sur les Ouvrages des plus Excellens Peintres Anciens et Modernes avec la Vie des Architectes par Monsieur Félibien, Nouvelle édition, revue, corrigée et augmentée des conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture, London 1705. Entretien VI, t. iii, S. 152: „Monsieur Poussin konnte von Caravaggio nichts leiden, und er sagte, dass dieser auf die Welt gekommen sei um die Malerei zu zerstören.“ Zit. n. Louis Marin, Die Malerei zerstören, Berlin 2003, S. 13. (Détruire la peinture, Paris 1981.)

[7] Fraglich bleibt allerdings, ob diese Aussage tatsächlich von Poussin stammt, oder ob Félibien sie aus taktischen Gründen dem Idol in den Mund gelegt hatte.

[8] Vgl. Paul Duro, The Academy and the Limits of Painting in Seventeenth-Century France, Cambridge 1997, S.122–128; Germer 1997, S. 497–502; und vor allem Körner 1988, S. 24–32. In den Worten von Thomas Puttfarken, Roger de Piles’ Theory of Art, New Haven 1985, S. 2: „It would be wrong, I believe, to introduce Poussin‘s paintings as illustrating certain academic points of view. Like his theoretical letters they were considered by the academicians as statements, as contributions to an argument rather than an illustration of it.“

[9] Vgl. Germer 1997, S. 356 u. 357.

[10] Zu den gesellschaftlichen Bedingungen die zur Gründung der Akademie im Jahr 1648 geführt hatten und zur Entwicklung eines theoretischen Diskurses durch Schriftsteller wie Fréart de Chambray und André Félibien vgl.Thomas Puttfarken, The Discovery of Pictorial Composition, Theories of Visual Order in Painting 1400–1800, New Haven/London 2000, S. 229–243.

[11] Vgl. Barbara Johnson, The Critical Difference, Essays in the Contemporary Rhetoric of Reading, Baltimore/London 1980, S. X: „The problem of difference can […] be seen both as an uncertainty over separability and as a drifting apart within identity.“ Vgl. auch Kaja Silverman, The Subject of Semiotics, Oxford 1983, S. 32 u. 33 zum Begriff der „différance“ bei Jacques Derrida.

[12] Wie Louis Marin bemerkt: „Das Ausgeschlossene, das eben weil ausgeschlossen und verneint Verneinte, konnte dann in das Feld, das es abzudichten geholfen hatte, zurückkehren.“ (Louis Marin, Das Portrait des Königs. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, Berlin 2005, S. 103 [Le portrait du roi, Paris 1981]).

[13] Marin 2003.

[14]Hegels dialektischer Begriff der Aufhebung findet sich in Freuds Aufsatz zur Verneinung, wo er von Jean Hyppolite wieder gefunden, dessen Verständnis der Verneinung bestimmen sollte. Jacques Lacan, Schriften III, Olten 1994, S. 179–219 (Écrits, Paris 1966).

[15]  Marin 2003, S. 114 u. 115. Für eine kritische Kontextualisierung des Verhältnisses Marin/Panofsky siehe: Jutta Voorhoeve, Die Selbstverleugnung der Kunstgeschichte – Panofsky und Marin in Arkadien, in: Beyer/Voorhoeve/Haverkamp (Hg.), Das Bild ist König. Repräsentation nach Louis Marin, München 2006.

[16] Antoine Arnauld/Pierre Nicole, Die Logik oder die Kunst des Denkens. Aus dem Französischen übersetzt und eingeleitet von Cristos Axelos, Darmstadt 1994. Zur Logik von Port-Royal vgl. auch: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974, vor allem S. 91–107 (Les mots et les choses, une archéologie des sciences humaines, Paris 1966).

[17] Foucault 1974, S. 134: „In der Klassik ist das rohe Sein der Sprache – jene Masse von in der Welt niedergelegten Zeichen […] – verloschen, aber die Sprache hat mit dem Sein neue Beziehungen geknüpft, die noch viel schwieriger zu erfassen sind […].“

[18] Zit. n. Marin 2003, S. 50.

[19] Félibien 1705, S. 152. „So waren sie einander also völlig entgegengesetzt.“ (Zit. n. Marin 2003, S. 13.)

[20] Marin 2003, S. 46: „Poussin oder die Dekonstruktion des Historiengemäldes […] Caravaggio oder die Zerstörung der Historienrepräsentation […].“

[21] Nach Marin 2003, S. 13.

[22] Der folgende Abschnitt bezieht sich auf Beobachtungen aus einem bisher unveröffentlichten Vortrag von Wolfram Pichler.

[23] Bellori 1672, S. 207.

[24] Es sei darauf hingewiesen, dass die im Bild dargestellte Hand über der Laterne in dieser Weise durchaus auch einen Pinsel halten könnte.

[25] Vgl. Michael Fried, Thoughts on Caravaggio, in: Critical Inquiry, Vol. 24/1, Autumn 1992, S. 13–56.

Quellennachweis: Christine Brandner, Das gelesene Bild. Caravaggios Stellung in der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=374.

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After Abstract Expressionism oder Clement Greenbergs Qualität der „Offenheit“

1962 veröffentlicht Clement Greenberg in Art International einen Essay, der bereits durch seinen Titel – After Abstract Expressionism – eine Zäsur im modernistischen Diskurs markiert.[1] In dem kontrovers diskutierten Aufsatz macht der wohl einflussreichste Kritiker der US-amerikanischen Nachkriegszeit einen neuen Trend in der zeitgenössischen Malerei aus. Dabei stützt er seine Ausführungen auf die Prämisse, dass künstlerische Stile kontinuierlich und gemäß einer Progressionsreihe verlaufen. Einem solchen kulturevolutionistischen Denken verpflichtet, versucht Greenberg, der in seiner ungleich bekannteren Schrift Modernist Painting die „Flächigkeit“ („flatness“) zum Zeichen einer selbstreflexiven, modernen Malerei gemacht hatte, die Nachwirkungen des Abstrakten Expressionismus auf die jüngere Generation von Künstlern zu skizzieren.[2] Warum Greenberg, der als einer der ersten Jackson Pollocks Malerei des „All-Over“ als genuin amerikanische Malerei propagierte, nun die Farbfeldmalerei eines Morris Louis favorisiert, soll im Folgenden anhand zentraler Textpassagen nachvollzogen werden. Im Fokus steht dabei ein von der Forschung bisher kaum beachteter Begriff, der für Greenbergs Praxis als Kritiker jedoch eminent wichtig war: Gemeint ist die sogenannte „Offenheit“ des Bildes, die in seinen Aufsätzen zu einem ästhetischen Qualitätsmerkmal, ja sogar zu dem zentralen Kriterium für die Bewertung von Kunst avanciert.[3]

Der insbesondere in der deutschsprachigen Kunstwissenschaft erfolgreiche Terminus wird in After Abstract Expressionism im Zusammenhang einer schematischen Analyse vorbereitet, in der die Errungenschaften der ersten Generation „abstrakter Künstler“ abgewägt werden.[4] Entscheidend, so Greenberg, war für jene Maler zunächst die Auseinandersetzung mit dem synthetischen Kubismus, den er durch klare Konturlinien, flachen Farbauftrag und durch „geschlossene, mehr oder weniger regelmäßige Formen“ charakterisiert.[5] In einem zweiten Schritt wird dieses feste Kompositionsschema dann durch Anregungen aus dem Surrealismus „aufgelockert“, wodurch sich Greenberg zufolge eine stärker „malerische“ Ausrichtung, eine „new open abstract art in New York“ ergibt.[6]

Greenberg beginnt seinen achtseitigen Essay folglich mit einer klassischen Opposition zweier Begriffe – „geschlossen“ versus „offen“ – und schließt damit an Heinrich Wölfflins binäres Kategorienrepertoire an. So ging Wölfflin, der Wegbereiter einer ,formalistisch‘ orientierten „Kunstgeschichte ohne Namen“, in seinen 1915 zuerst publizierten Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen von fünf sogenannten „Kategorien der Anschauung“ aus. Letztere gebraucht er, in Abgrenzung zur Erkenntnistheorie Immanuel Kants, als Strukturgerüst, um die „Stilentwicklung“ von der klassischen zur barocken Kunst zu untersuchen.[7] Neben dem Begriffspaar der „geschlossenen“ und „offenen“ Form gehört dazu unter anderem auch die Gegenüberstellung von „Linearem“ und „Malerischem“, wobei sich alle katalogartigen Merkmale Wölfflins gegenseitig bedingen. Greenberg, der seinen Begriff der „Offenheit“ bezeichnenderweise ebenfalls aus einem adjektivischen Gebrauch heraus entwickelt, beruft sich explizit auf Wölfflins Grundbegriffe, um dessen für die barocke Kunst entwickelte Kategorie des „Malerischen“ zu übernehmen.[8] Übersetzt als „Painterliness“ wird sie bei Greenberg zu einem weiteren Schlagwort, das er als Charakteristikum der amerikanischen abstrakten Kunst ausmacht. Jedoch – und dies ist für ihn als Verfechter einer unbedingt „flachen“ Malerei der entscheidende Punkt – tendiere diese „malerische Abstraktion“ zu einer dreidimensionalen, „illusionistischen“ Räumlichkeit, die sich aus der Art des sich aufschichtenden Farbauftrages ergebe.[9] Eine Ausnahme bildeten Greenberg zufolge lediglich Künstler wie Still, Newman und Rothko, die der malerischen Tiefenräumlichkeit entsagten, die Farbe selbst zum primären bildnerischen Element machten und dadurch „wahre Offenheit“ („true openness“) erzeugten.[10] Der in diesem Kontext erstmals substantivierte Begriff bezeichnet dabei das „Ziel“ des Malerischen, das jetzt auf seine ihm angeblich wesentlichen Eigenschaften zurückgeführt werden könne. In dieser essentialisierenden Denkbewegung vollzieht Greenberg weiterhin einen Brückenschlag, der die Dialektik zwischen „Malerischem“ und „Nicht-Malerischem“ auflöst, sie in einer Hegelschen Synthese „transzendiert“, um darauf aufbauend eine neue ,modernistische Farbfeldmalerei‘ zu konstruieren.[11]

Abb. 1: Clyfford Still, 1951-L, No. 2, 1951, Öl auf Leinwand, 290 x 244 cm, Buffalo, Albright-Knox Art Gallery

Grundlegend für dieses dreigliedrige Stufenmodell ist die Annahme, dass sich erst durch jene neue Art des ,flachen Malerischen‘ der endgültige Bruch mit dem Kubismus ereignet. Dabei kommt Clyfford Still in Greenbergs Kunstgeschichte die Rolle des Initiators zu. Denn in seinen Bildern sei erstmals nach den spät-impressionistischen Gemälden eines Monet – in denen er ebenfalls „a new kind of openness“ erkennt – die Malweise des Raum konstituierenden Hell-Dunkels, des Schattierens also, aufgegeben worden (Abb. 1). Stattdessen sind es nun „reine Farbtöne“ („pure hues“), die miteinander kontrastiert werden.[12] Genau dadurch seien die Bilder letztlich als „Farbfelder“ („fields of color“) wirksam geworden, wobei die Farbe – trotz oder eben weil stärker „autonom“ – eine eigene Art der Räumlichkeit entwickeln kann. Diese zeichne sich durch ein „freies Fließen“, einen anscheinend „unendlichen Raum“ aus. Die in den Abschnitten über Still, Newman und Rothko so häufig deklarierte „Offenheit“ der Bilder wird demnach durch die Begriffe des „Feldes“ und des „Raumes“ konturiert. Dabei vermag insbesondere die Idee des Feldes aufgrund ihrer aus der Physik stammenden semantischen Prägung auf ein Kräfteverhältnis hinzuweisen, das sich zwischen Werk und Betrachter entfalten kann. Zentral für eine solche gleichsam dialogische Situation sind deshalb die bildlichen Bewegungsimpulse, die exemplarisch auch an Clyfford Stills baumrindenartigen Faserstrukturen sichtbar werden. Die vertikalen Maserungen, die den äußeren Rahmen innerbildlich verdoppeln, lassen eine periphere Drift und ein Spannungsgefüge entstehen, in dem das Auge zu keinem Zentrum findet. Diese von Greenberg erkannte Strategie der Betrachteraktivierung scheint weiterhin mit der latenten Auffassung des Bildes als Organismus zusammenzuhängen. Erneut könnte hierfür Heinrich Wölfflin vorbildhaft gewesen sein, da für ihn „jedes Kunstwerk ein Geformtes“ und ein „Organismus“ war.[13] So versteht Wölfflin das barocke Bild aufgrund seines Kolorits als einen „atmenden Körper“, der den „ganzen Bildraum“ beweglich macht.[14] Dem entspricht, dass an der Stelle, wo Greenberg 1955 zum ersten Mal vom „Öffnen“ des Bildes spricht, eben dieser Vorgang zu einer Verlebendigung der flachen Leinwand führt und die Farbe zu „atmen“ beginnt:

A concomitant of the fact that Still, Newman, and Rothko suppress value contrasts and favor warm hues is the more emphatic flatness. Because it is not broken by sharp differences of value or by more than a few incidents of drawing or design, color breathes from the canvas with an enveloping effect, which is intensified by the largeness itself of the picture. The spectator tends to react to this more in terms of decor or environment than in those usually associated with a picture hung upon a wall.[15]

Der Verzicht auf farbliche Abschattierungen und die Minimierung graphischer Oberflächengestaltung führen demnach dazu, dass die Leinwand eine atmosphärische Strahlkraft ausübt, die über die Grenzen des Formats diffundiert. Dieses Ausufern des Bildes in den physischen Raum des Betrachters, auch zu verstehen als eine Verschiebung, vielleicht sogar Verwischung der ästhetischen Grenze, schafft für Greenberg implizit ein Gegenmodell zum illusionistischen Raum gegenständlicher Malerei. Dabei gewinnt das Bild eine Eigendynamik und transgressive Qualität, die seine Wirkung, verglichen mit einem traditionell an die Wand gehängten Bild, intensiver erscheinen lässt. Ausgehend von dieser Beobachtung beziehungsweise Erfahrung nimmt Greenberg 1957 eine Neubestimmung des Spätwerks von Monet vor und macht ihn zum Wegbereiter der Abstrakten Expressionisten:

[…] today those huge close-ups which are the last Water Lilies say – to and with the radical Abstract Expressionists – that a lot of physical space is needed to develop adequately a strong pictorial idea that does not involve an illusion of deep space. The broad, daubed scribble in which the Water Lilies are executed says that the surface of a painting must breathe, but that its breath is to be made of the texture and body of canvas and paint, not of disembodied color; that pigment is to be solicited from the surface, not just applied to it.[16]

Folgt man Greenbergs metaphorischer Formulierung, muss sich der „Atem“ aus der Materialität der Leinwand selbst ergeben. Auch deshalb kann es nicht ausreichen, Farben lediglich unvermittelt auf die Leinwand zu setzen, vielmehr müssen sie mit dem Untergrund eine körperliche Einheit bilden.[17]

Abb. 2: Morris Louis, Twined Columns II, 1960, Acryl auf Leinwand, 258 x 355 cm, Privatsammlung

Dieses organistische Bildkonzept wird drei Jahre später radikal modifiziert und zugespitzt auf die Sphäre des Visuellen. Nicht zufällig sind es dabei Morris Louis’ Bilder, welche durch das Gießen sehr flüssiger Acrylfarbe auf die rohe, am Boden liegende Leinwand entstanden, die 1960 die Greenbergsche Umorientierung begleiten (Abb. 2). So wird die Farbe nunmehr als „körperlos“ beschrieben: Eingesogen in das Trägermaterial und untrennbar mit diesem verbunden, vermittelt sie einen zunehmend „rein optischen Effekt“. An die Stelle des „körperhaften Bildes“ rückt folglich das Ideal einer strikt „visuellen Entität“; jedoch gilt auch für letztere, dass die Farbe – ergänzen könnte man: und der weiße Grund – einen Raum „eröffnet“, der sich scheinbar über die Grenzen der Leinwand hinausbewegt:

The effect conveys a sense not only of color as somehow disembodied, and therefore more purely optical, but also of color as a thing that opens and expands the picture plane. The suppression of the difference between painted and unpainted surfaces causes pictorial space to leak through – or rather, to seem about to leak through – the framing edges of the picture into the space beyond them.[18]

Dass Greenbergs durchaus treffende Beschreibung optischer Effekte zugleich auf die Ausschaltung anderer Sinneswahrnehmungen, insbesondere der taktilen Reize, gerichtet ist, kündigt sich an dieser Stelle bereits an. Zwar lässt sich die Homogenität der Oberfläche am Beispiel von Louis’ transparent wirkenden Twined Columns gut nachvollziehen, jedoch bedeutet die von Greenberg vollzogene Verabsolutierung des Augensinns eine einseitige Konzentration auf die phänomenale Dimension des Bildes und kann gedanklich zu dessen physischer Auflösung überleiten.[19] Das Verb des „Öffnens“ markiert dabei den Umschlag des flachen Bildes in einen quasi immateriellen Farbraum, eine imaginäre dritte Dimension, die ausschließlich dem Betrachterauge gehören soll.[20] Obwohl „Flächigkeit“ und „Offenheit“ demnach gegensätzliche Tendenzen in Greenbergs Bildkonzept darstellen – auf der einen Seite die tendenzielle Negation dreidimensionaler Tiefe und auf der anderen Seite die farbräumliche Entgrenzung – verhalten sie sich dennoch komplementär zueinander. Vor allem weil „Flächigkeit“, als medienspezifische und notwendige Bedingung für eine modernistische Malerei, die Konsequenz ergab, dass bereits die bloße Leinwand ein Bild darstellen konnte, formte Greenberg seinen Begriff der „Offenheit“ zu einem Korrektiv aus:

Openness, and not only in painting, is the quality that seems most to exhilarate the attuned eyes of our time. Facile explanations suggest themselves here which I leave the reader to explore for himself. Let it suffice to say that by the new openness they have attained, Newman, Rothko and Still point to what I would risk saying is the only way to high pictorial art in the near future.[21]

Zum Maßstab für eine teleologisch motivierte ‚Hochkunst‘ geworden, verliert Greenbergs Qualitätsmerkmal jedoch an dieser Stelle seine produktive Kraft und wird stattdessen zu einer gattungsübergreifenden ,Zauberformel‘. Im Gegensatz zu der oben aufgezeigten Verwendung als ein formales Analysemittel wird hier lediglich verallgemeinernd behauptet, dass „Offenheit“ die wirkungsmächtigste Eigenschaft des zeitgemäßen Bildes sei. Auch deshalb erscheint es besonders trickreich, zu unterstreichen, dass eben jene Qualität, um überhaupt wahrgenommen zu werden, ein darauf ‚abgestimmtes‘ Auge benötigt. Betont wird – zugespitzt formuliert – ein ,elitäres Sehen‘, das nicht für alle gleichermaßen erfahrbar ist. Die Kritik an Greenbergs Verallgemeinerung muss sich implizit also mit dem Vorwurf des ungeschulten Auges konfrontiert wissen.

In Verbindung mit der Ausbildung einer Urteilsskala – als Kritiker war Greenberg immer zugleich auch Richter – steht abschließend der Versuch, die Farbfeldmalerei als eigenständigen Stil zu klassifizieren. Newman, Rothko und Still werden hierfür als „first serious abstract painters, the first abtract painters of style, really to break with Cubism“ bezeichnet.[22] Greenbergs Strategie ist dabei einerseits, die heterogene Richtung des Abstrakten Expressionismus auf die Form einer gestischen Malerei, auf eine ,Materialschlacht‘ zu reduzieren. Andererseits nutzt er diese Aufspaltung, um die aktuelle Malerei eines Morris Louis oder Kenneth Noland über eine eigenständige Tradition zu legitimieren und sie – im Gegensatz zu der von ihm verkannten Pop-Art – als folgerichtige Weiterführung zu deklarieren.

Dass diese Form der Geschichtskonstruktion zugleich beansprucht, zukünftige Entwicklungen vorherzusagen, hat insbesondere Greenbergs früherer Freund und späterer Gegenspieler Harold Rosenberg erkannt. Polemisch betitelt er zwei Jahre später einen auf Greenberg gemünzten Artikel mit After next, what? und wendet sich dort, ohne Namen zu nennen, gegen eine normativ prophezeiende Kunstkritik.[23] Differenzierter noch antwortet der Kunsthistoriker Max Kozloff in einem umfangreichen Brief an den Herausgeber von Art International.[24] Dort arbeitet er detailliert die Reduktionismen heraus, die Greenberg zu seiner Schlagkraft verhalfen und gibt zu bedenken, dass ein evolutionistisches Stilmodell nach dem Abstrakten Expressionismus seine Aussagekraft verloren hat. Bemerkenswerter ist jedoch, dass Kozloff den Begriff der „Offenheit“ aufnimmt und ihn zu präzisieren versucht. So unterscheidet er am Beispiel der Arbeiten Mark Rothkos „Offenheit“ erstens in Bezug auf das Format und zweitens angewandt auf die gesteigerte Wirkung der Farbe. Genau dadurch nimmt er gleichwohl der Greenbergschen Verwendung ihre Pointe, ging es doch bei dieser letztlich um die Interaktion beider Momente, ihre Verflechtung zu einem Farbraum und um ein dynamisches Bildkonzept, das, ungeachtet seiner zweifelhaften Totalisierung des Augensinns, die ikonische Grundspannung zwischen Faktizität und ästhetischem Schein zu umkreisen vermochte. Auch wenn Greenberg und sein Konzept des „Modernismus“ ab den 1970er Jahren zunehmend kritisiert werden, können seine Beobachtungen deshalb auch heute noch eine ungebrochene Reibungsfläche bilden, um das eigene Sehen zu schärfen und zur Sprache zu bringen.[25] Die Koinzidenz, dass After Abstract Expressionism im selben Jahr erscheint wie Umberto Ecos grundlegendes Buch Opera aperta kann darüber hinaus sichtbar machen, dass Greenberg – ausgehend von seiner Arbeit am Bild – Ecos Idee einer unabschließbaren Kommunikationssituation zwischen Werk und Betrachter produktiv zu nutzen wusste.[26]


[1] Clement Greenberg, After Abstract Expressionism, in: Art International, Vol. 8, Oktober, 1962, S. 24-32; wieder in: John O’Brian (Hg.), Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism, Chicago/London 1986 (Vol. 1, Vol. 2), 1993 (Vol. 3, Vol. 4), hier: Vol. 4, S. 121-134. Eine deutsche Übersetzung findet sich in: Karlheinz Lüdeking (Hg.), Clement Greenberg. Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, übers. v. Christoph Hollender, Amsterdam/Dresden 1997, S. 314-335.

[2]  Modernist Painting erschien 1960 als schriftliche Fassung eines Radiobeitrages für Voice of America in Forum Lectures, Washington D.C; wieder in: O’Brian 1993, 4, S. 85-93.

[3] Die prekäre Bedeutung des Begriffs erwähnt Rosalind Krauss in ihrem Beitrag The Crisis of the Easel Painting, in: Pepe Karmel (Hg.), Jackson Pollock. New Approaches (Kat.), New York 1999, S. 155-179; wieder in: Ellen Landau (Hg.), Reading Abstract Expressionism. Context and Critique, New Haven/ London 2005, hier insb. S. 652.

[4] Zur heuristischen Verwendung des Begriffs in der deutschsprachigen Forschung vgl. Valeska von Rosen, Art. Offenes Kunstwerk, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart/Weimar 2003, S. 256-258; sowie zuletzt den Tagungsband Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, (Hg.) Friedrich Teja Bach/Wolfram Pichler, München 2009.

[5] O’Brian 1993, 4, S. 121.

[6] Ebd., S. 123. Greenberg paraphrasiert hier Robert Coates, der in seinem Artikel The Art Galleries [1946, New Yorker] die Bezeichnung „Abstrakter Expressionismus“ erstmals auf US-amerikanische Künstler übertrug. Zur Begriffsgeschichte siehe David Anfam, Art. Abstract Expressionism, in: Jane Turner (Hg.), The Dictionary of Art, Vol. 1, London 1996, S. 83 ff.

[7] Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel/Stuttgart 1979 [erstmals 1915], insb. S. 264. Das Buch lag ab 1932 auch in englischer Übersetzung bei Dover, New York unter dem Titel Principles of Art History. The Problem of the Development of Style in Later Art vor.

[8] O’Brian 1993, 4, S. 123.

[9] Ebd., S. 125.

[10] Ebd., S. 129.

[11] Ebd., S. 130, vgl. dort auch die folgenden Zitate.

[12] Greenberg grenzte die Farbtöne („hues“), die als Spektralfarben zu verstehen sind, von den Farbwerten („values“) ab, die er als farbliche Abschattierungen beschrieb. Diese Terminologie verteidigte er bereits 1955 in einem Schriftwechsel mit dem Maler und Kritiker Fairfield Porter. (O’Brian 1993, 3, S. 236-240.)

[13] Wölfflin 1979 [1915], S. 147.

[14] Ebd., S. 266.

[15] Clement Greenberg, ,American-Type‘ Painting [1955, Partisan Review], in: O’Brian 1993, 3, S. 231- 232. Zuvor wurde Clyfford Still als derjenige beschrieben, der den Weg ebnete, das Bild zu „öffnen“.

[16] Clement Greenberg, The Later Monet [1957, Art News Annual], in: O’Brian 1993, 4, S. 11.

[17] Die „malerische Oberfläche“ als „atmend und offen“ wird wenig später auch für Pollocks Bilder konstatiert, in: New York Painting Only Yesterday [1957, Art News], in: O’Brian 1993, 4, S. 19.

[18] Clement Greenberg, Louis and Noland [1960, Art International], in: O’Brian 1993, 4, S. 97.

[19] Auch hier sind die Parallelen zu Wölfflin zahlreich: So ist bei ihm die „Entwicklung vom Linearen zum Malerischen“ ebenfalls mit einer Verabsolutierung des Sehens verbunden. Dieses wird zwar als ein möglicher Erfahrungsmodus relativiert (S. 44), gleichwohl gilt es ihm als „Fortschritt“ gegenüber dem Begreifen durch den Tastsinn (S. 266). Vgl. exemplarisch die Begriffe „Tastbild“ und „Sehbild“ (S. 36). Des Weiteren versucht er – wie Greenberg steht er in der Tradition Lessings – die Gattungen mittels je spezifischer Werte voneinander zu trennen. Dass dabei die Malerei erst in der „offenen Form“, d.h. im barocken Bild, ihre eigentliche Erscheinungsform verwirklicht, erweist sich an der Behauptung: „Die Malerei entwickelt die ihr eigentümlichen Werte erst ganz, wo sie sich von der Tektonik lossagt […]“. (Wölfflin 1979 [1915], S. 175.)

[20] So Greenberg in After Abstract Expressionism, in: O’Brian 1993, 4, S. 130. Zur Genese und zum Kontext dieses ,absoluten Augensinns‘ siehe Caroline A. Jones, Eyesight Alone. Clement Greenberg’s Modernism and the Bureaucratization of the Senses, Chicago/London 2005, S. 303 ff.

[21] O’Brian 1993, 4, S. 131.

[22] Ebd., S. 129.

[23] Harold Rosenberg, After next, what?, in: Art in America, Vol. 52, No. 2, April, 1964, S. 64-73.

[24] Max Kozloff, A Letter to the Editor, in: Art International, Vol. 6, Juni, 1964, S. 88-92.

[25] Zu den Debatten um Greenberg und seiner Rolle als „Kunstpapst“ siehe Karlheinz Lüdekings Vorwort in: Ders. 1997, S. 9-28, dort auch mit weiteren Literaturhinweisen.

[26] Ob Greenberg Ecos literaturwissenschaftliche Studie bereits 1962 kannte, ist unklar. Ins Englische wurde diese erst 1989 übersetzt, jedoch hatte Greenberg zu Beginn seiner Laufbahn als Übersetzer gearbeitet und besaß Italienischkenntnisse (vgl. O’Brian 1986, 1, xix). Thematische Berührungspunkte zwischen beiden konnten sich zumindest durch ihre, wenn auch unterschiedlichen Interpretationen von Massenkultur und „Kitsch“ ergeben. Vgl. Saul Ostrow, Avantgarde und Kitsch: Fünfzig Jahre danach. Ein Gespräch mit Clement Greenberg [zuerst auf Engl. 1989, Arts Magazine], in: Lüdeking 1997, S. 456-462, hier S. 461.

Quellennachweis: Anne-Grit Becker, After Abstract Expressionism oder Clement Greenbergs Qualität der „Offenheit“, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=326.

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Freitag, 15. Juli 2011, ab 20.30 Uhr im Restaurant Ando (Yppenplatz, Stand 40, 1160 Wien)

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