I.
Ein aufgeschlagenes Buch liegt auf einem Tisch.2 Es muss liegen, denn es ist zu groß, um komfortabel in der Hand gehalten und gelesen werden zu können. Die Papierbögen wölben sich im geöffneten Zustand. Vom Falz ausgehend biegen sie sich jeweils konvex nach oben, um dann links und rechts wieder abzufallen. „UN COUP DE DÉS“ – ein Würfelwurf – steht auf der rechten Seite linksbündig geschrieben (Abb. 1). Die linke Seite ist leer. Die vier Wörter stehen groß, fett gedruckt und in Versalien da. Die einzelnen Buchstaben wirken artifiziell. Es treffen fett gezogene Striche, um nicht zu sagen Flächen, auf feine Haarlinien.
Auf der nächsten Doppelseite tritt einem das Wort „JAMAIS“ in derselben Schriftart, -größe, -stärke und -lage wie „UN COUP DE DÉS“ entgegen (Abb. 2). Die drei unterschiedlich langen Verse darunter sind ebenfalls in Versalien gesetzt, jedoch wesentlich kleiner und in normaler Schriftstärke. Die Anordnung der insgesamt vier Verse ist unregelmäßig. Wieder ist nur die rechte Seite beschrieben und die linke leer.Auf der nächsten Seite fängt der Text zu fließen an (Abb. 3). Er verläuft von links oben nach rechts unten über die gesamte Doppelseite, wobei er rechts unten dichter wird. An der Stelle von „par“ zu „avance“ wird der Falz unterwandert, die Trennung in eine linke und eine rechte Seite aufgehoben, indem die Zeile sich wie ein Schussfaden in das Gewebe aus Buch und Text einfügt. Auf diese Weise wird die Doppelseite auf formaler Ebene aktiviert.3 Das die Doppelseite einleitende Wort führt die typographische Gestaltung der Seite davor weiter. Es wirkt wie eine Initiale, die in diesem Fall jedoch ein ganzes Wort enthält („SOIT“).4 Danach wechselt der Modus. Art, Größe, Stärke und Lage der Schrift bleiben gleich, doch treten nun Gemeine an die Stelle der Versalien. Der Blick rieselt mit den Wörtern in Richtung Falz. Er lässt sich von der Gestaltung leiten. Nur „l’Abîme“ – der Abgrund – wird durch einen Versal hervorgehoben. Eine Anspielung auf den Falz, den zu überwinden es gilt?
Weitergeblättert wird die „Wort-Initiale“ zitiert: „LE MAÎTRE“ – der Meister – ist in Versalien gesetzt (Abb. 4). Der Rest wird in Gemeinen fortgeführt. Nur in der Mitte der Doppelseite werden zwei Wörter durch jeweils einen großen Anfangsbuchstaben hervorgehoben: „Nombre“ links und „Esprit“ rechts vom Falz. Ein nach beiden Seiten hin stark ausschlagender Flattersatz prägt das Erscheinungsbild der Doppelseite. Hier führt die Syntax zu einer Mannigfaltigkeit: Die Zeilen können „langatmig“ von links nach rechts über den Falz hinweg oder aber „kurzatmig“ von oben nach unten, zuerst linker und dann rechter Seite gelesen werden. Eine Konstante wird evident: der Falz und sein Echo, das er in den vertikalen Achsen links an den Zeilenenden und rechts an den Zeilenanfängen findet. Die Verse scheinen geradezu aus dem Echo herauszukommen und horizontal über das Papier abzufallen. Insgesamt sieben überwinden den Falz. Als Horizontalen, die wie Fäden wirken, verbinden sie die linke und rechte Seite optisch miteinander.
Auf der nächsten Seite zieht das laute „N’ABOLIRA“ die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und den Blick zunächst nach rechts unten (Abb. 5). Typographisch greift die Phrase die Gestalt der einleitenden Wörter „UN COUP DE DÉS“ und „JAMAIS“ auf. Die Schrift ist groß und fett gedruckt und in Versalien gesetzt. Den leeren Raum darüber kompensieren die vielen ungleich langen Verse auf der gegenüberliegenden Seite. Eine merkwürdige Stabilität bildet sich ab, die diesmal aber nur bedingt etwas mit dem Falz zu tun hat: Die vertikale Achse ist von innen nach außen verrutscht, von der Mitte an den Rand. Sechs Verse setzen auf gleicher Höhe ein. Das Lesen der Seite ist aufgrund der unterschiedlichen Einschübe ein sprunghaftes. Ein kurzer Vers folgt auf einen langen, ein langer auf einen kurzen und so weiter. Nur ein Wort tanzt aus der Reihe: „Fiançailles“ – Verlobung. Es fängt mit einem Versal an und grenzt sich zusätzlich räumlich vom restlichen Versgefüge ab. Stärker integriert in das Gefüge, sich aber ansatzweise lösend steht „folie“ unten, leicht versetzt. Der letzte Vers der linken Seite. Würde die Grundlinie des Wortes auf die rechte Seite durchgezogen, stieße sie im oberen Viertel auf die gegenüberliegenden Buchstaben des „N’ABOLIRA“. Der Wahnsinn trifft auf das „Nicht-auslöschen-wird“, streicht es gewissermaßen durch. Die Negation auf inhaltlicher Ebene wird performativ auf der syntaktischen wiederholt. Mit Jacques Derrida lassen sich die Verlobung und das Nicht-auslöschen-wird außerdem auf das Weiß der sonst leeren Seite beziehen beziehungsweise das Weiß auf die Wörter: Sogar die Verlobung, die den Vollzug der Ehe ankündigt, wird die Jungfräulichkeit des weißen Papiers nicht aufheben können.5 Das Hymen als Derridasche Figur der Unentscheidbarkeit bleibt – auch nach dem Hinterlassen einer (weißen!) Spur, dem Auftragen schwarzer Tinte – intakt; wie das Weiß der Seite erfüllt es seine Funktion nur in Bezug auf die Markierung/Penetration.
Mit dem Wenden der Seite verändert sich die Lage der Schrift (Abb. 6). Der Text neigt sich, kursiv gesetzt, nach rechts. „COMME SI“ – als ob – erscheint, den Text ein- und wieder ausleitend, gleich zweimal. Auf die Löschung folgt die Verdoppelung. Das Wort-Paar klammert den restlichen Text ein und scheint imaginär die Wörter durch eine gegengleiche Bewegung, die nach links oben beziehungsweise rechts unten führt, aus dem Falz zu ziehen. Dabei wird das Phänomen der „Wort-Initiale“ einmal mehr aufgegriffen. Das „Textinnere“, eingeklammert durch zweimal „COMME SI“, beginnt mit einem Versal: „Une insinuation“ – Eine Andeutung. Durch den Versal wird, zusätzlich zur Kursivlage der Schrift, der Einsatz eines zweiten Themas im Gedicht betont. Auf inhaltlicher Ebene ersetzt ein Prinz, der auf der nächsten Doppelseite genannt wird, den bisherigen Protagonisten, den Meister. Jene Verse, die den Falz kreuzen, wahren weiterhin den konstant bleibenden Abstand zur Mitte.
Blättert man zur nächsten Seite, wird die kursive Schriftlage beibehalten (Abb. 7). Der Text fließt in Gemeinen weiter. Links oben „schwebt“ ein dreiteiliger Vers über der weißen Weite des Papiers („plume solitaire éperdue“6). Erst ein wenig weiter unten, an die vertikale Achse anstoßend, erscheint ein weiteres Wort („sauf“ – außer). Es ist über den Falz hinweg auf einer Linie mit „que la rencontre ou l’effleure une toque de minuit“7. Es folgen mal längere, mal kürzere Verse. Das Schriftbild verdichtet sich nach rechts unten.
Der Text bleibt kursiv (Abb. 8). Der Falz wird sogleich überquert („muet rire“ – stummes Lachen). Dann setzt erstmals eine Art Rückwärtsbewegung ein. Sie führt hinunter zum aufleuchtenden „SI“, das größer, fett und in Versalien gesetzt ist. Es ist unklar, ob es ein Ende, einen Anfang oder eine betonte Pause markiert. „La lucide et seigneuriale aigrette de vertige“8. Das großgeschriebene L impliziert, zumindest orthographisch, einen Satzanfang. Die drei Verse, die über den Falz verlaufen, bilden eine Naht, ehe die übrigen in die rechte untere Ecke rieseln. In Form eines großen, kursiven R schreibt sich der Text in die Doppelseite ein.
Mit dem Umblättern ist der Höhepunkt der Komposition erreicht (Abb. 9). Schwarz auf Weiß leuchten die fett gedruckten Wörter unterschiedlich stark auf. „C’ÉTAIT“, „LE NOMBRE“ und „CE SERAIT“ greifen sie das Erscheinungsbild der „SI“ der vorhergehenden Seite auf. Darunter befinden sich jeweils kursiv gesetzte Gemeine, die jedoch kleiner als bisher auftreten. Sie scheinen zu flüstern. Auf der rechten Seite erscheint ab „LE NOMBRE“ ein Konglomerat aus Versalien im Sinn der „Wort-Initialen“ und den kleinen Gemeinen. Fünfmal blitzt dieselbe Endung, „-ÂT-IL“, wie ein Echo hervor. „LE HASARD“ ist dezent mit dem letzten Vers der linken Seite („indifférement mais autant“9) verwoben, indem sie sich eine Grundlinie teilen. Auffälliger ist dagegen der Zusammenhang mit den gleich gestalteten Versen „UN COUP DE DÉS“, „JAMAIS“, „N’ABOLIRA“. Der Text läuft mit „Choit“ – Fällt – kursiv weiter. Und wieder ist der Anfangsbuchstabe ein Versal. Zum dritten Mal im Seitenthema. Typographisch weist diese neunte Doppelseite die bisher größte Vielfalt auf. Sechs verschiedene Schriftvarianten sind auszumachen.
Das „RIEN“ der nächsten Seite lässt einmal mehr die „Wort-Initiale“ zum Zug kommen (Abb. 10). Gleichzeitig steht es visuell eng in Verbindung mit den Versen „N’AURA EU LIEU“ und „QUE LE LIEU“, die in den weiteren Textverlauf verwoben sind und gemeinsam einen Satz bilden.10 Der Rest besteht aus Gemeinen. Das Seitenthema scheint verlassen, da die Kursivierung aufgehoben ist. Ein Vers überbrückt den Falz unter Wahrung des konstatierten Abstands („l’évènement accompli en vue de tout résultat nul“11). Die restlichen Wörter fließen, wie nun schon gewohnt, nach rechts unten.
Ein letztes Mal umgeblättert schließen die Verse „EXCEPTÉ“, „PEUT-ÊTRE“ und „UNE CONSTELLATION“ visuell an die vorangegangenen „RIEN“, „N’AURA EU LIEU“ und „QUE LE LIEU“ an (Abb. 11). Wieder bleibt der Rest in Gemeinen. Und wieder verläuft ein Vers, relativ weit oben, über den Falz. Während die linke Seite – abgesehen von der Treppe, die zur Mitte führt – vor allem das Weiß des Papiers prägt, ist die rechte von einem dichten Versgefüge durchzogen. Ein paar Versalien haben sich darin eingeschlichen. Die Verse „le Septentrion aussi Nord“12 und „Toute Pensée émet un Coup de Dés“13 weisen insgesamt sechs Versalien auf – so viele wie der Würfel Seiten hat.
Beim Zurückblättern fällt auf, dass vier der Doppelseiten strukturell gleich gestaltet sind: die den Fließtext einführende dritte, die siebente, die zehnte und die das Buch abschließende elfte. Ihre Gemeinsamkeit liegt im Verhältnis des Textverlaufs zum Weiß und zum Falz. Sie alle führen eine Bewegung durch von links oben nach rechts unten. An jeweils einer Stelle wird der Falz mit einem Vers überwunden. In Richtung rechte untere Ecke verdichtet sich der Text. Im gesamten Gedicht wird vollständig auf die Verwendung von Satzzeichen verzichtet. Manchmal tauchen sie geisterhaft zum Beispiel in Form einer Verdoppelung („COMME SI“-Klammer) oder ausgeschrieben („à quelque point dernier qui le sacre“14) auf. Auch die Zahl ist getilgt. Das Buch ist nicht paginiert. Lediglich als Wort bleibt die Zahl erhalten. Mit „Nombre“ wird sie auf der vierten Doppelseite explizit genannt. Am Ende des Gedichts wird sie noch einmal, auf ganz andere Art, impliziert: im Siebengestirn. Die Zahl in den Sternen wird auf die weißen Seiten eines geöffneten Buches projiziert, indem sie im Schriftbild in Form des Großen Wagen erscheint. Das Gedicht beginnt mit „UN COUP DE DÉS“. Und es endet mit „Toute Pensée émet un Coup de Dés“. Das Ende führt an den Anfang zurück.
II.
Paris, im Mai 1897. Ein Spaziergang auf den Champs-Élysées. An einer Straßenecke, ein Zeitungsstand. Beim Griff in die Hosentasche scheppern die Münzen. Für 3 Francs 25 kann man hier die 17. Ausgabe der Zeitschrift Cosmopolis erwerben. Eine Zeitschrift, in der Beiträge in französischer, englischer und deutscher Sprache veröffentlicht werden. Die Ausgabe enthält unter anderem ein Gedicht von Stéphane Mallarmé: Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard.15 Es verblüfft durch seine Form. Daher ist dem Gedicht ein einführendes Vorwort beigefügt. Doch Mallarmé ist nicht zufrieden mit dieser erstpublizierten Fassung (Abb. 12). Die typographische Gestaltung entspricht noch nicht seinen Vorstellungen und auch das Vorwort sollte eigentlich entfallen. Er beginnt zu korrigieren. Bereits ein halbes Jahr zuvor hat ihm der französische Galerist und Verleger Ambroise Vollard vorgeschlagen, eine „Luxusausgabe“ des Gedichts herauszugeben. Sie sollte wesentlich größer ausfallen als der herkömmliche Gedichtband. Man entscheidet sich für das Folio-Format. Ein Format, bei dem die Papierbögen jeweils nur einmal gefaltet werden. Eine Seite entspricht in etwa der Größe eines A3-Blattes. Das heißt: viel leerer Raum. Ein Aspekt, der Mallarmé besonders wichtig erscheint, im kommerziellen Buchdruck allerdings selten auftaucht. Schließlich soll so wenig Papier wie möglich „verschwendet“ werden. Bei der Frage nach der Schrifttype fällt die Wahl auf die Didot. Eine klassizistische Antiqua, die sich durch stark voneinander abweichende Strichstärken auszeichnet. Satte Flächen treffen auf feine Linien. Weitere Schriften kommen nicht zum Einsatz. Dafür: Variationen der Didot. Zahlreiche Andrucke werden angefertigt, die Mallarmé unermüdlich überarbeitet. Neunzehn korrigierte Exemplare existieren noch. Zur Veröffentlichung einer finalen Ausgabe wird es aber nicht mehr kommen. 1898, gut ein Jahr nach der Erstveröffentlichung, stirbt Mallarmé unerwartet. Un Coup de Dés bleibt ohne Ende. Eine autorisierte, letzte Version existiert nicht.
Und trotzdem muss das Erscheinungsbild in eine Analyse miteinbezogen werden, will man das Gedicht auch nur ansatzweise erfassen, handelt es sich doch um eine sehr spezielle Art der Notation. Verse, die teilweise nur noch aus einzelnen Wörtern bestehen, sind mehr oder weniger lose, das heißt isoliert, auf dem Weiß des Papiers verteilt. Zusätzlich sind sie durch sich verändernde Schriftgrößen und -stärken unterschiedlich stark betont. Auch wurde neben dem Hauptthema, das in normaler Schriftlage gesetzt ist, ein „kursives“ Seitenthema erkannt. Die Nähe zur Musik ist evident. Und tatsächlich zieht Mallarmé im Vorwort der Erstausgabe die Partitur als Vergleich heran. Die Variationen im Bereich der Typographie sind insofern als Hinweise für die Intonation sowie für die Lautstärke und Klangfarbe zu verstehen.16 Drei Jahre zuvor hebt er in einem Vortrag hervor, dass Musik und Literatur dieselbe Sprache sprechen – die sich nicht zuletzt in der einander überlappenden Terminologie äußert –, weil beide aus einer Quelle entspringen.17 Das Metrum existiert in der Musik und es existiert in der Poesie. Es könnte auch Takt geheißen werden. Da wie dort zeigt die Metrik den Rhythmus an.
Das genau komponierte „Rieseln“ der Wörter von links oben nach rechts unten, das einem die Lesebewegung vor Augen führt. Die Betonung einzelner Wörter durch die variierende Typographie und die damit einhergehende Akzentsetzung im Fließtext. Momente, die dem Coup de Dés seine Rhythmik verleihen. Mallarmé notiert nicht so sehr eine Form als vielmehr eine Bewegung. Nicht zuletzt eine Schreibbewegung. Sprache wird dabei ins Räumliche übersetzt. Und so meint Jacques Rancière in dem Gedicht einen Akt der Verräumlichung zu erkennen, durch den die Bewegungen des Geistes – das Zusammenfalten und Entfalten, das Zusammenziehen und Ausdehnen – ans Licht treten. Diese ahmen den Rhythmus von Nacht und Tag – Rancière nennt sie „den täglichen Tod und die tägliche Wiederauferstehung der Sonne“ – nach.18 „Rhythmus“ ist in diesem Sinne stark an etwas Zeitliches, vielleicht sogar Periodisches, das heißt regelmäßig Wiederkehrendes, gebunden – an dieser Stelle ist wiederum an den Takt zu erinnern.
„Rhythmus“ leitet sich etymologisch vom griechischen Wort für Form ab, wie Émile Benveniste aufgezeigt hat.19 Darunter ist jedoch keine starre Form zu verstehen, sondern die Formwerdung, das Fließen in die Form. Ursprünglich meint Rhythmós „die Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt“20 – eine Form also, in der das Regelmäßige kategorisch ausgeschlossen ist. Die Verwendung des Wortes veränderte sich im Laufe der Zeit aber, ist gewissermaßen „verflossen“. Der Begriff der flüssigen, noch formlosen Form wird nach und nach mit Begriffen der Dauer gesättigt, durch die Wiederholung strukturiert. Die autonome, das heißt freie, Bewegung der Form wird in gleichmäßige Intervalle zerlegt. „Unser“ Rhythmus ist geboren. Seit Platon ist der Rhythmus an das Maß gebunden, womit die Zahl als Ordnungsinstanz ins Spiel kommt. Das Wort beschreibt von nun an ein Phänomen, das kontinuierlich durch das Metrum gegliedert ist. Indem Mallarmé den „getakteten“ Rhythmus in seine „Formlosigkeit“ rückübersetzt, der dadurch seine Beweglichkeit wiedererlangt, hebt er diesen Schritt auf. Un Coup de Dés ist als eine Form zu begreifen, die sich nicht festlegt. Eine Form, die beweglich bleibt und sich im Schweigen der Buchseiten ausbreitet.
Mallarmé gelangt nun zu dieser Form, indem er den Vers – in dem Fall den Alexandriner – zerbricht, da er schal geworden ist. Von Victor Hugo auf seinen Höhepunkt gebracht, ist von ihm nicht mehr als eine leere Worthülse („vieux moule fatigué“) übriggeblieben.21 Doch gerade das Wort – und nicht seine Hülse – scheint Mallarmé zu interessieren. Nicht umsonst akzentuiert er es auf spezifische Art und Weise im Coup de Dés. Mit dem Freistellen der Wörter und dem Verzicht auf Interpunktion geht ihre Aufwertung einher, da sie derartig anfangen, in mannigfaltige Beziehungen zu treten und mithin mehrdeutig zu werden. Die weiße Fläche wird ihnen zum Handlungsspielraum. Fügt man die Verse „UN COUP DE DÉS / JAMAIS / N’ABOLIRA / LE HASARD“22 zusammen, erhält man einen klassischen Alexandriner mit weiblicher Kadenz (13 Silben). Die Zäsur würde sich zwischen „JAMAIS“ und „N’ABOLIRA“ befinden, wäre sie nicht woanders hin gewandert. Das Ungewöhnliche an diesem Vers ist nun aber, dass er über das gesamte Buch verteilt ist. Sein Zusammenhang ergibt sich aus der typographischen Gestaltung, indem er die größten Lettern aufweist, fett und in Versalien gesetzt ist. Ähnlich verhält es sich mit den Versen „SI / C’ÉTAIT / LE NOMBRE / CE SERAIT / LE HASARD“23 und „RIEN / N’AURA EU LIEU / QUE LE LIEU / EXCEPTÉ / PEUT-ÊTRE / UNE CONSTELLATION“24.
Der Alexandriner ist also nur insofern anwesend, als er gerade dabei ist zu zerfallen. Nach Hans-Jost Frey kann der Verszerfall in drei Stufen verlaufen, wobei er bei Mallarmé zwei davon verwirklicht sieht: Auf der ersten Stufe entfällt die Zäsur. Die zwölf Silben verlieren ihre Maßeinheit, ihren regelmäßigen Takt, und werden dadurch frei kombinierbar. Die Brücke, die sie verbindet wie trennt, kann nicht mehr beobachtet werden. Die zweite Stufe betrifft die Silben selbst. Sie werden um eine verlängert oder brechen frühzeitig, schon nach der elften, ab. Der Vers und sein Maß bleiben als Andeutung oder Erinnerung jedoch erhalten. Als die Instanz, von der abgewichen wird. Mit der letzten Stufe wäre der freie Vers erreicht, in dem der alte völlig verschwunden ist.25 Weil die Zäsuren im Coup de Dés nun über die Seiten in den Falz hinein gerutscht sind – wohin wären sie sonst verschwunden? –, fängt der Vers an wieder beweglich zu werden und sich über die Buchseiten zu verteilen. Die Lektüre stellt sich als ein Spiel heraus, bei dem er wiedergefunden werden soll. Sie ist Verssuche. Man blättert vor und zurück, zählt die Silben und sucht die Zäsur. Doch sobald man den Vers zu haben meint, ist er auch schon wieder entwischt. Stets gleitet er einem durch die Finger. Denn der Vers ist nur in bereits aufgelöster Form da. Als etwas Negiertes. Er ist zu erahnen, nicht aber zu fassen.
Etwas Unfassbares – im Sinne von Nichtgreifbaren – scheint Mallarmé auch darstellen zu wollen. Im Vorwort zur Cosmopolis-Ausgabe spricht er von prismatischen Aufteilungen der Idee („subdivisions prismatiques de l’Idee“).26 Sofort fühlt man sich an die Zersplitterung und Verteilung des Verses erinnert. Indem das, was aufgeteilt wird, Idee heißt, scheint es einen engen Zusammenhang zu geben zwischen dem Vers, der Idee und ihrer Darstellung. Dass die Aufteilungen schließlich „prismatisch“ verlaufen, verweist auf zweierlei: Einerseits, dass es sich um einen Zerlegungsprozess handelt und andererseits, dass diese Zerlegung auf einen Reinzustand – wie zum Beispiel die Spektralfarben in einem sind – zurückführen soll. Da die Idee aber eben nicht unmittelbar erfasst und demnach auch nicht dargestellt werden kann, weil Mallarmé sie als etwas im Wort oder im Begriff Abwesendes denkt,27 kann man nur versuchen sie zu reflektieren. Und genau das scheint Mallarmé im Coup de Dés mittels seiner Notation zu tun.
Gérard Genette hat darauf hingewiesen, dass der Vers im Mallarméschen Sprachgebrauch im Wesentlichen mit dem Wort zusammenfällt. Im Isolieren einzelner Wörter aus ihrer Syntax drückt sich der große Wert aus, den Mallarmé ihnen beimisst.28 Seine Poesie ist der Versuch das Wort der Alltagssprache zu entheben, die – abgesehen von wenigen onomatopoetischen Ausdrücken – ganz und gar arbiträr ist. Sinn und Klang sind nicht aufgrund von Ähnlichkeit, sondern Konvention miteinander verbunden. In dem Aufsatz Crise de vers beklagt Mallarmé, dass im Französischen das dunkle „jour“ den hellen Tag sowie das helle „nuit“ die dunkle Nacht beschreiben muss.29 Ihre Zuschreibung ist eine rein zufällige oder „falsche“. Mallarmé scheint ihre Entsprechung herbeizusehnen. An der Stelle fängt der Vers zu wirken an und das Wort seine schöpferische Kraft zu entfalten. Denn seine „souveräne Geste“, wie Genette sich ausdrückt, leugnet die Arbitrarität des Zeichens, ohne dass diese rückgängig gemacht wird.30 Der von einer Sprachgemeinschaft festgelegte Sinn wird nicht ausgelöscht (und kann auch nicht ohne weiteres ausgelöscht werden). Der Vers dient nicht der Korrektur. Mallarmé sagt nicht plötzlich „jour“ zur Nacht. Vielmehr soll dieser „Mangel der Sprache“, das heißt ihre Zufälligkeit, kompensiert werden.31 Die Verbindung zwischen Sinn und Klang wird gelockert, bleibt aber – wenn auch leiser geworden – erhalten. Auf diese Weise entsteht eine gewisse Spannung zwischen den Inhalten, der Klangqualität und dem nun mehrfach besetzten Wort – die für die Poesie allgemein von höchster Bedeutung ist. Es wird dem Wort ein Spielraum geboten, in dem es ungeahnte, vielleicht „richtigere“, Verbindungen eingehen kann und dadurch neue Assoziationsfelder eröffnen.
Im Coup de Dés erweist sich das Weiß des Papiers als ein solcher Spielraum. Neben den Alexandrinern – sie sozusagen begleitend – entstehen Gleichklänge wie das „-ÂT-IL“-Echo oder die Treppe, die auf der letzten Doppelseite durch „veillant“, „doutant“, „roulant“, „brillant et méditant“ gebildet wird und ihre tonale Abstufung über „den vakanten Raum“32 visuell evoziert. Aber nicht einmal ein Würfelwurf – warum auch gerade der? – kann den Zufall aufheben. Höchstens es gelingt einem, die unwürfelbare Zahl, die Sieben, zu erzielen. Und tatsächlich versteckt sie sich, als Sternbild verkleidet, auf der letzten Seite („le Septentrion aussi Nord“). Der große Versuch das Unmögliche für einen Moment möglich zu machen, Genettes „souveräne Geste“ sich vollziehen zu lassen. Mallarmé zerbricht den Vers und rhythmisiert im selben Schritt das Schriftbild, um das Andere der Sprache – das, was sie nicht bedeutet, wonach sie aber klingt – zum Vorschein zu bringen. Die Zwischenräume werden zu Orten (oder viel eher Nicht-Orten) der Reflexion. In ihnen kann sich die Idee abzeichnen, um da und dort – je nach Lichteinfall, möchte man fast sagen – kurz aufzuleuchten. Ihre Darstellung geschieht nicht durch den Vers – denn das wäre seine Instrumentalisierung –, sondern in ihm, in jenem Zerbrechen, das die Möglichkeit enthält des Anderen, ebenso facettiert hervorzuschimmern.
Rancières Vorschlag, es handle sich um die Darstellung von Denkbewegungen, erscheint plausibel, sofern diese Bewegungen nicht als etwas Regelmäßiges aufgefasst werden. Und vielleicht stellt sich in ihnen die Idee dar, von der Mallarmé immer wieder spricht und die er mit Hilfe der Metapher der Blume und ihren Sträußen als etwas Fehlendes denkt.33 In ihrer ganzen Komplexität nicht darstellbar, kann sie nur „prismatisch“ zerlegt, mit anderen Worten zersplittert, sichtbar gemacht werden. Die Splitter schreiben sich in die Buchseiten ein als Verse eines gleichsam übergeordneten Verses der Idee – der Konstellation. Das, was fehlt, das Gesuchte, findet in den Zwischenräumen statt: in der schweigenden Leere des Papiers oder, indirekt, im Falz, in dem die Zäsuren gebündelt sind. Mit dem Auffinden und gedanklichen Zusammensetzen des Verses ist das kurze Aufblitzen der Idee verbunden, die sich zwar permanent entzieht und letztlich also unfassbar bleibt, ihren Entzug aber, auf indirektem Wege, immerhin darzustellen vermag.
1 Für zahlreiche Anregungen danke ich herzlich Wolfram Pichler und Gregor Pirgie.
2 Es handelt sich hier und im Folgenden um die Rekonstruktion des Coup de Dés von Michel Pierson & Ptyx aus dem Jahr 2004, die auf den erhaltenen Andrucken und Korrekturen Mallarmés basiert. Zwei Andrucke befinden sich in der Bibliothèque nationale de France und sind über Gallica zugänglich.
3 Die Doppelseite fällt hier – sowie bei etwa der Hälfte der folgenden Doppelseiten – mit der klassischen Lesart von linker und rechter Seite zusammen. Auf jenen Seiten, in denen mehrere Zeilen den Falz unterwandern, ist das Schriftbild und mit ihm der Schriftverlauf zwar enger an die Doppelseite gebunden, die klassische Lektüre jedoch keineswegs ausgeschlossen, sondern vielmehr Teil des multivalenten Beziehungsgeflechts, das sich im Coup de Dés entfaltet.
4 Der Begriff der Initiale wird hier auf das Phänomen der Hervorhebung eines oder zweier Wörter, die die jeweilige Seite einleiten, übertragen. Im Folgenden wird von der „Wort-Initiale“ die Rede sein.
5 Derrida spricht vom „jungfräulichen Papier“, das sogar der Akt der Einschreibung nicht zu beflecken vermag, ohne dabei aber die Jungfräulichkeit mit der Verlobung oder dem Nicht-auslöschen-wird in Verbindung zu bringen. Jacques Derrida, Dissemination, hg. von Peter Engelmann, Wien 1995, S. 249.
6 „Einsame, bestürzte/leidenschaftliche Feder“. Übertragungen ins Deutsche von der Autorin. Ich danke Cedric Huss und Céline Juyou für das Korrekturlesen.
7 „Sie trifft oder berührt flüchtig/streift eine Mitternachtsmütze“.
8 „Der helle und herrschaftliche Federschmuck des Schwindels“.
9 „Gleichgültig aber so (viel)“.
10 Für den Satz und dessen Übersetzung siehe Fußnote 24.
11 „Das Ereignis erfüllte im Hinblick auf das Resultat nichts“.
12 „Das Siebengestirn des Großen Wagen“.
13 „Jeder Gedanke ergibt einen Würfelwurf“.
14 „Am letzten Punkt, der ihn heiligt“.
15 Die Editionsgeschichte des Gedichts ist eine äußerst komplizierte. Diesbezüglich sei vor allem auf die Ausführungen von Thierry Roger, L’archive du Coup de dés. Étude critique de la réception d’Un coup de dés jamais n’abolira le hasard de Stéphane Mallarmé, Paris 2010, S. 1035 – 1037 verwiesen.
16 Vgl. Stephane Mallarmé, Vorwort zum Coup de Dés, in: Cosmopolis, 17, 1897, S. 418.
17 „Alsdann besitzt man gerade eben die wechselseitigen Mittel des MYSTERIUMS – vergessen wir die alte Unterscheidung, zwischen MUSIK und LITERAE, sie ist nur die gewollte Trennung, um ihn dereinst wiederzufinden, des ursprünglichen Zustands: die eine hierbei Beschwörerin von Zaubern, die an dem abstrakten Punkte des Hörens und beinahe Sehens angesiedelt sind, aus dem Verstehen wurde; das, verräumlicht, dem bedruckten Blatt gleiche Tragweite zugesteht.“ (Stéphane Mallarmé, La Musique et les Lettres, in: ders., Kritische Schriften, Bd. 2, hg. von Gerhard Goebel/Bettina Rommel, Gerlingen 1998a, S. 92 – 127, S. 107). Musik und Literatur bilden „zweimal vollendet sich oszillierend eine einzige, ganze Gattung.“ (Mallarmé 1998a, S. 109).
18 Jacques Rancière, Der Raum der Wörter. Von Mallarmé zu Broodthaers, in: Sabine Folie (Hg.), Un Coup de dès. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache (Kat., Generali Foundation), Wien/Köln 2008, S. 26 – 38, S. 30.
19 Vgl. Émile Benveniste, Der Begriff des „Rhythmus“ und sein sprachlicher Ausdruck, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363 – 374.
20 Benveniste 1974, S. 370 – 371.
21 Stéphane Mallarmé, Crise de vers, in: ders., Kritische Schriften, 2, hg. von Gerhard Goebel/Bettina Rommel, Gerlingen 1998b, S. 210–231, S. 216. Vgl. „Während am Anfang des Jahrhunderts das mächtige romantische Gehör das Zwillingselement in seinen schwingenden Alexandrinern kombinierte, denen mit markierter coupe und enjambements; schwindet die Fusion hin zur Ganzheit. Als ein glücklicher Fund, mit dem die Experimente von gestern etwa abgeschlossen scheinen, wird sich der freie Vers erweisen, eine (sage ich oft) individuelle Modulation, weil jede Seele ein rhythmisches Zentrum ist.“ (Mallarmé 1998a, S. 97).
22 „Ein Würfelwurf / niemals / auslöschen wird / den Zufall“.
23 „Wenn / es wäre / die Zahl / wäre es / Zufall“.
24 „Nichts / wird stattgefunden haben / als der Ort / außer / vielleicht / eine Konstellation“.
25 Vgl. Hans-Jost Frey, Vers und freier Vers bei Mallarmé, in: ders., Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel/Weil am Rhein/Wien 2000, S. 21 – 28, S. 21 – 22.
26 Mallarmé 1897, S. 417.
27 Mallarmé 1998b, S. 229. Die Idee zu fassen, hieße „den Begriff eines Dings schaffen, das sich entzieht, das fehlt.“ (Mallarmé 1998b, S. 105).
28 Vgl. Gérard Genette, Mimologiken. Reise nach Kratylien, Frankfurt am Main 2001, S. 303.
29 Mallarmé 1998b, S. 219.
30 Genette 2001, S. 322.
31 Genette 2001, S. 320 – 321.
32 Mallarmé 1998a, S. 103.
33 „Ich sage: eine Blume! und, jenseits der Vergessenheit, der meine Stimme jede Kontur überantwortet, als etwas anderes als die gewußten Kelche, steigt musikalisch, Idee selbst und sanft, die aus allen Sträußen abwesende auf.“ (Mallarmé 1998b, S. 229).