Neben Andreas Gursky und Thomas Ruff konnte sich aus der ‚Becher-Schule’ auch Thomas Struth als international sehr bekannter und hochdotierter Fotokünstler etablieren. Von den ehemaligen Kommilitonen bei Bernd und Hilla Becher unterscheidet sich sein betont nüchterner Stil durch einen zurückhaltenden Gebrauch von digitalen Retuschen und Inszenierungen. Von 2010 bis 2012 werden über hundert Werke aus Struths OEuvre in Zürich, Düsseldorf, London und Porto bei der Wander-Retrospektive Thomas Struth: Fotografien 1978-2010 gezeigt. Sie wird von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit dem Kunsthaus Zürich und in Zusammenarbeit mit dem Künstler organisiert. Die zweite Station im Düsseldorfer K20 am Grabbeplatz ist für eine nähere Auseinandersetzung besonders interessant, denn Struth selbst hat mit einigen seiner frühen, bislang noch nicht gezeigten Düsseldorfer Straßenszenen eine außergewöhnliche Rauminstallation kreiert. Die ersten Vernissagenreaktionen waren durch einen positiven Tenor geprägt, wobei die starke Involvierung des Künstlers in die Ausstellungskonzeption zum Vorteil seiner kommerziellen Interessen bisher zu wenig problematisiert wurde. Die dadurch beeinträchtigte Deutungsinstanz des Museums soll im Anschluss an eine Analyse der Ausstellungskonzeption im K20 näher erläutert werden.
Die Arbeitsweise des Fotografen in zum Teil parallel entstehenden Serien legt eine nicht-chronologische, thematische Präsentation nahe. Sie beginnt in Düsseldorf in der Grabbe-Halle, die aufgrund einer Höhe von zwölf Metern und einer dominierenden Längserstreckung ein schwierig zu bespielender Raum ist. Dicht entlang der Längswände hat Struth auf Stellwänden kleinformatige Straßenszenen platziert (Abb. 1). Diese frühen, von Ed Ruscha beeinflussten Arbeiten sind streng zentralsymmetrisch aufgenommen, während die Gestaltung der späteren Werke freier ist. Bis auf einige jüngere Ansichten aus Lima in zurückhaltender Farbigkeit handelt es sich um Schwarz-Weiß-Aufnahmen. In ihnen versucht Struth, das Wesen der Städte fernab der Touristenattraktionen zu erfassen. Bei solchen sogenannten Unbewussten Orten rückt er gerade in Deutschland die unwirtliche und phantasielose Nachkriegsarchitektur in den Blick.
An den schmalen Querwänden und den Eckbereichen der Grabbe-Halle sind monumentale Fotografien von Wäldern und Dschungels aus der ganzen Welt gehängt (Abb. 2). Mit ihrer Naturthematik, der intensiven grünen Farbigkeit und dem großen Format heben sie sich betont von den Stadtansichten ab. Der Serientitel New Pictures from Paradise und die fehlende Tiefenperspektive bei diesen Aufnahmen sollen darauf alludieren, dass es keine Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem gäbe. Diese in den 1990er Jahren sehr virulente Thematik gewinnt zwar im Zusammenhang mit den tristen, urbanen Anblicken an Eindrücklichkeit, trotzdem mutet sie zu fatalistisch an. Die inhaltliche Fragwürdigkeit der Künstlerinstallation wurde bislang nicht diskutiert, gelobt wurde nur die räumlich ausgewogene Präsentation.
Nach der piazza-ähnlichen Atmosphäre der Grabbe-Halle wird der Besucher im zweiten Ausstellungsbereich mit einer genau gegenteiligen Raumsituation konfrontiert. In der säulenlosen, 1100 Quadratmeter großen Klee-Halle sind mit dreizehn Stellwänden viele kleine Kabinette eingerichtet worden. Es gibt keinen eindeutigen Rundgang; mit vielen kleinen Durchgängen wird der Eindruck eines Labyrinthes erzielt. Vom Künstler, der auch in die Hängung der Klee-Halle involviert war, wurde dies verbrämt als Anspielung auf das New Yorker Straßenraster.[1] Pragmatisch gesehen konnte man so in erster Linie möglichst viele Werke ausstellen und zugleich den Besucherblick trotz der Fülle an Großformaten noch auf die einzelne Fotografie zentrieren. Bei einer stärkeren Frequentierung der Ausstellung sind die kleinen Kompartimente allerdings ungünstig. Auch werden Ausstellungskonzeption und Besucherorientierung verunklart, vor allem, wenn sich Serien über zwei Kabinette erstrecken.
In der Klee-Halle wird zunächst mit einer Reihe von urbanen Motiven eine Überleitung zu den Stadtszenen in der Grabbe-Halle geschaffen. Gezeigt werden unter anderem Fotografien von bekannten Sehenswürdigkeiten auf der ganzen Welt, bei denen Struth mit ungewöhnlichen Perspektiven den Touristenblick hinterfragen will. Es ist auffällig, dass der Fotograf parallel zu seiner zunehmenden internationalen Bekanntheit verstärkt weltweit relevante Motive wählt. Auch in Zeiten forcierter Globalisierung wäre es jedoch weiterhin sinnvoll, wenn Struth sich wie in seiner Frühzeit der häufig zu wenig beachteten und verdrängten ‚Exotik’ des deutschen Alltags, den übersehenen urbanen Veduten annehmen würde.[2] Anschließend wird eine Reihe von Familienporträts vorgestellt. Innerhalb einer vom Fotografen bestimmten Kulisse aus dem privaten Umfeld bestimmen die Dargestellten ihre Positionen selbst. An ihren Gesten sollen bestimmte psychologische Grundkonstellationen ablesbar werden, die den gemeinsamen Alltag prägen, weshalb die bislang noch unabgeschlossene Serie auch den Titel Familienleben trägt. Ohne nähere Hintergrundinformationen sind dem Betrachter zu den dargestellten Personen jedoch nur vage Spekulationen möglich. Die Porträts, die überwiegend sehr gut situierte Familien zeigen, wirken wie neofeudale, wenngleich eigenwillige Repräsentationsbildnisse. Propagiert wird dabei ein im 21. Jahrhundert immer weniger repräsentatives, bürgerliches Familienideal, das im Vergleich etwa zu Nan Goldins intimen Aufnahmen ihres Freundeskreises, der gleichsam als ‚Ersatzfamilie’ im subkulturellen Milieu dient, nicht sehr zeitgemäß wirkt.
Struth hat sich außerdem intensiv mit der touristischen Profanisierung von sakralen Orten auseinandergesetzt. In dem zugehörigen Kabinett der sogenannten Kultstättenstellt er darüber hinaus erstmals eine Aufnahme aus dem Petersburger Bahnhof aus. Die Flüchtigkeit der dortigen Passanten wird dadurch mit den transitorischen Besucherströmen der sakralen Orte in Verbindung gebracht. Dieser bildliche Bezug stellt allerdings eine etwas oberflächliche Problematisierung der Säkularisierung dar. In zwei weiteren Kompartimenten werden Struths neueste Arbeiten mit Industrie- und High-Tech-Motiven präsentiert. Indem die Arbeiten in Angrenzung an die Sakralbilder positioniert werden, wird auf den Topos von Technik als säkularisierter Religion der Moderne verwiesen. Ein wiederkehrendes Thema bei den technischen Sujets ist die erschwerte Kontrollierbarkeit und Verständlichkeit der hochkomplexen Strukturen und Apparaturen.
Bei der Fotografie einer koreanischen Halbtaucher-Bohrinsel aus dem Jahr 2007 werden besonders die riesigen Stahlseile betont (Abb. 3), mit denen der Stahlkoloss scheinbar nur sehr mühsam an Land vertäut wird. Kaum wahrnehmbar ketten im Vordergrund zwei Männer mit deutlich weniger Aufwand ihre Fahrräder an. Dies mag ein kleiner Hinweis auf die Nutzung von erdölunabhängigen und umweltfreundlichen Fortbewegungsmitteln sein. In der Fotografie wird aber vor allem die Imposanz der Bohrinsel zelebriert, die harmonisch in die sonnige Hafenlandschaft der Geoje-Insel eingebettet ist. Besonders angesichts der Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko durch die Explosion der BP-Ölplattform Deepwater Horizon im vergangenen Jahr erscheint die Darstellung Struths mit ihrer nur marginalen Kritik zu affirmativ und fragwürdig.
Die seit den ausgehenden 1980er Jahren entstandenen Museum Photographs halten, beeinflusst von zeitgenössischen rezeptionsästhetischen Debatten, die Beziehung zwischen Betrachter und musealen Objekten fest. Diese Aufnahmen sind maßgeblich für Struths Erfolg und Bekanntheit mitverantwortlich. So ist die Serie in Düsseldorf auch mit den meisten großformatigen Arbeiten vertreten; das zugehörige Kabinett nimmt die ganze hintere Querseite der Halle ein. Zentral ist der fünfteilige Fries der Audiences positioniert worden. Er stellt eine Weiterentwicklung der Museum Photographs dar, denn hier werden nur noch die Reaktionen der Touristen vor Michelangelos David fokussiert, nicht jedoch die Statue selbst. Die Museum Photographs bilden einen besonders effektvollen Abschluss, da der Besucher zur Reflexion seiner eigenen Rezeption aufgefordert wird.
Problematisch ist der schon exemplarisch herausgestellte, affirmative und wenig kritische Gehalt der Arbeiten Struths. Nicht unpassend erscheint die Charakterisierung von Struths Werken als Annäherung an „[…] National Geographic pics for the privileged”.[3] Auf vielen Fotografien fungieren die Menschen nur als Requisiten. Es handelt sich bei den Aufnahmen weniger um sozial engagierte Kunst, sondern in erster Linie um eine Befriedigung der Schaulust, unterstützt durch monumentale Abzüge und brillante Diasec-Qualität. Die Ausstellungsinstallation forciert eine intensive sinnliche Wahrnehmung, jedoch nicht eine kritischere inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fotografien. Die Bildungsaufgabe des öffentlichen Museums wird durch den gänzlichen Verzicht auf Informationstafeln und Bildtexte unterminiert. In Düsseldorf hat der Besucher immerhin die Möglichkeit, einen museumsextern produzierten Dokumentarfilm über Thomas Struth von Ralph Goetz und Werner Raeune zu sehen.[4] Darin wird die Entstehung der Technikbilder und die Hängung der Düsseldorfer Ausstellung gezeigt und der Künstler äußert sich zu seinem Werdegang und seinen Arbeiten. Dies wird von den Produzenten des Films jedoch kaum kommentiert, noch wird beispielsweise die technische Unterstützung des Künstlers durch das Labor Grieger erwähnt. Der Film tendiert so zur Künstlerheroisierung.
Zusammen mit der Eintrittskarte wird dem Besucher ein aufwendig gestalteter, kostenloser Kurzführer offeriert, der aber nur 14 der über 100 Fotografien vorstellt. Besonders auffällig sind die zahlreichen Vergleiche ausschließlich mit Hauptwerken der ständigen Sammlung des Museums. Sie sind mit Sicherheit bestimmt vom aktuellen museumspolitischen Anliegen, nach dem zweijährigen Umbau der Kunstsammlung die neue Sammlungspräsentation zu propagieren. Die Bezüge zwischen Struths Arbeiten und den Klassikern der Moderne sind allerdings häufig sehr deduktiv und formalistisch. Weitaus erkenntnisreicher wären Bezugnahmen auf näherliegende Vergleichswerke wie etwa der New Topographics-Bewegung, weiterer Becher-Schüler oder der Neuen Sachlichkeit gewesen. Zudem wäre es gerade bei einer Retrospektive wünschenswert, nähere Informationen zu den vielen weiteren Einzelaufnahmen mit Sujets aus der ganzen Welt zu erhalten. Selbst für das opulente Begleitbuch zur Ausstellung sind keine wissenschaftlichen Einzelbildanalysen erarbeitet worden. Im ersten Aufsatz werden vornehmlich jüngere Arbeiten Struths behandelt, in den anderen drei Beiträgen werden allgemeinere Charakteristika seines OEuvres thematisiert.[5] Von James Lingwood, dessen Mitarbeit von Struth gewünscht worden ist, und Tobia Bezzola werden die Serien ebenfalls nur allgemein vorgestellt. Diese Einführungen basieren auf Interviews mit dem Fotografen ohne näher auf den Forschungsstand zu Struths Arbeiten einzugehen. Sehr viel Wert wird dagegen auf eine luxuriöse Präsentation der Abbildungen gelegt, die innerhalb des großen Katalogformats vergleichbar monumentalisiert werden wie die ausgestellten Großformate. So erscheinen die Motive vielleicht imposanter, werden jedoch nicht gehaltvoller.
Eine Retrospektive stellt stets eine besondere Würdigung des Künstlers dar, wird seinem bisherigen Werk doch das Prädikat der Museumsreife verliehen. Die Jahresspanne im Ausstellungstitel verweist darauf, dass Struths Schaffen nun die Dauer einer Generation umfasst. Dies gilt generell als Beleg dafür, dass der Fotograf seinen festen Platz in der jüngeren Kunstgeschichte gefunden hat. Die kunstwissenschaftliche Bedeutsamkeit von Struth wurde zudem 2009 über die Publikation eines Readers mit ausgewählten, sehr wohlwollenden Beiträgen zu seinem Schaffen zusätzlich untermauert.[6] Die dadurch erzielte symbolische Wertsteigerung der Arbeiten Struths kann auf dem Kunstmarkt ideal in eine kommerzielle umgewandelt werden. Denn im erneuten Boom des Kunstmarktes nach der Finanzkrise können sich die bisherigen Blue Chips nur dann gegenüber den neuen Highflyers behaupten, wenn wie bei Struth eine lange internationale Reputation nachweisbar ist. Kurz vor der Eröffnung der Düsseldorfer Ausstellung konnte so am 15. Februar 2011 bei Sotheby‘s ein Selbstbildnis von Thomas Struth die stattliche Summe von 421‘250 Britischen Pfund erzielen, was sich auch günstig auf die Galeriepreise auswirken wird.[7] In dieser Hinsicht ist auffällig, dass Struths neue Serie der Technikbilder im Rahmen einer ‚Rückschau’ besonders viel Gewicht erhalten hat. Dagegen wird bei der deutschen Ausstellungsstation auf Struths Einzelporträts, Blumenstilleben und frühe Gemälde verzichtet. Bedingt durch die stark reduzierte Deutungsinstanz des Museums sowohl bei der Präsentation als auch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung und Vermittlung durch die weitreichende Involvierung des Fotografen wirkt die Retrospektive wie ein erweiterter, prestigeträchtiger Showroom von dessen Galerien.
Museen können allerdings auf Ausstellungen von gehypten zeitgenössischen Blue Chips kaum verzichten, auch wenn deren Rang als Masterpieces nicht unumstritten ist. Die Institutionen verlieren zwar zunehmend ihre Glaubwürdigkeit als kulturelle Instanzen, können jedoch nur so in Zeiten der Krise leichter Sponsoren finden und Publikumsquoten erfüllen. Die Qualität und das Renommee der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen rührt jedoch gerade daher, dass sich ihr Gründer Werner Schmalenbach gegenüber hoch gehandelter zeitgenössischer Kunst sehr skeptisch zeigte und sich von den Verstrickungen des Kunstmarktes zu distanzieren wusste. Möglich war ihm dies allein durch eine ausreichende finanzielle Unterstützung der öffentlichen Hand.
Thomas Struth. Fotografien 1978-2010
Kunsthaus Zürich (11.6.-12.9.2010)
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (26.2.-19.6.2011)
Whitechapel Gallery, London (6.7.-16.9.2011)
Museu de Serralves / Museu de Arte Contemporânea, Porto (14.10.2011-29.1.2012)
[1] Magdalena Kröner, Operation am offenen Gehirn, in: FAZ, 03.03.2011 [15.03.2011], URL: http://www.faz.net/artikel/C30997/fotografie-operation-am-offenen-gehirn-30329394.html.
[2] Zum Verhältnis von Kultur und Alltagswelt im modernen Deutschland siehe auch: Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), in: Ders., Schriften I, Frankfurt am Main 1971, S. 205-304.
[3] Jerry Saltz, Struthsky, in: The Village Voice, 21.12.1999 [15.03.2011]. URL: http://www.villagevoice.com/1999-12-21/art/struthsky/.
[4] Institut für Kunstdokumentation und Szenografie (Hg.), Thomas Struth, Düsseldorf 2011.
[5] Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen/Kunsthaus Zürich (Hg.), Thomas Struth: Fotografien 1978-2010 (Kat.), München 2010.
[6] Hans Rudolf Reust/James Lingwood (Hg.), Texte zum Werk von Thomas Struth, München 2009.
[7] Thomas Struth, Alte Pinakothek, Selbstporträt, 2000, Chromogener Abzug, 159,4 x 187,3 cm, Sotheby‘s, Contemporary Art Evening Auction, Sale L 11020, London, 15.02.2011, Lot 22, verkauft für 421250,00 GBP [15.03.2011].
Quellennachweis: Viola Rühse, Vom fotografischen Blue Chip zum Masterpiece der jüngeren Kunstgeschichte. Thomas Struths Retrospektive im Düsseldorfer K20, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=434.