Die Gegenwart des Historischen in Christian Petzolds Transit

„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.“1

„»Ich sage Ihnen zum dritten Mal: Man läßt Sie hier nur eine Zeitlang in Ruhe bleiben, wenn Sie nachweisen, daß Sie abfahren wollen. Verstehen Sie das nicht?« Ich sagte: »Nein.«“2

Christian Petzolds Film Transit (2018) ist auf zweifache Weise das Ergebnis eines Transfers: als Verfilmung des gleichnamigen Exilromans von Anna Seghers (1944/48) und als Übertragung historischer Ereignisse in das Setting der Gegenwart. Der Besuch der Filmvorführung und eine knappe Notiz, die Harun Farockis (1944–2014) frühes Interesse für den Roman dokumentiert, lassen danach fragen, auf welche Weise die Gegenwart des Historischen in Transit behandelt wird.3

Abb. 1: Harun Farocki, Dokument über die Zulassungsprüfung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), Mai 1966
Quelle: Deutsche Kinemathek, Schriftgutarchiv: Signatur: N 7815-dffb

Farocki, den Petzold aus der gemeinsamen Studienzeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) kannte, blieb über viele Filmprojekte hinweg ein dauerhafter Gesprächspartner. Wie die Widmung im Vorspann von Transit nahelegt, gingen wohl auch für dieses Projekt wichtige Impulse von Farocki aus. Als eines seiner Lieblingsbücher hat Farocki Petzold bereits in den siebziger Jahren mit dem Buch bekanntgemacht: Die Schriftstellerin Seghers verarbeitet in diesem Roman ihre eigenen Erfahrungen, die sie während ihrer Emigration Anfang der vierziger Jahre gesammelt hatte.4 Auf der Flucht vor den nunmehr auch in Frankreich einfallenden Faschisten steuerte sie zusammen mit ihren Kindern den Überseehafen in Marseille an, um von dort aus weiter nach Mexiko zu fliehen. Eine im Rahmen seiner Aufnahmeprüfung an der DFFB angefertigte handschriftliche Notiz verrät, dass Farocki bereits 1966 über die Bearbeitung des Romans nachdachte (Abb. 1).5 Seine knappen Formulierungen sind bemerkenswert aktuell: In „Scheinaktivität[en]“ finden die Flüchtlinge „eine falsche Existenz“.6 Diese sei charakterisiert durch die unaufhörliche „Jagd nach Legitimationspapieren“, eine „Farce“ deren zersetzende „Zwanghaftigkeit“ sich insbesondere in der existentiell werdenden Abhängigkeit von „Transits, Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, Hilfsfonds, Tickets“ zeige. Farocki notiert, dass der Stoff geeignet ist „vorzüglich in [den] Bildern“ eines Films wiedergegeben zu werden. Die buchhalterische „Zwanghaftigkeit der Dokumente“ triumphiere über die Identität der Lebenden, die schließlich sogar abhanden zu kommen droht und ausgerechnet in derjenigen eines Toten neue Legitimation erfährt. „Der Stoff birgt im Gewand der ‚Realität‘ […] ‚Historischen Begebenheit‘ eine Parabel“, notiert Farocki abschließend. Das gestrichene Wort „Realität“ deutet dabei auf ein Verständnis des Historischen, das abseits von einem mimetisch gedachten Konzept von Realismus zu suchen ist.

Petzolds Transit ist nach Barbara (2012) und Phoenix (2014) der dritte Teil einer Trilogie historischer Stoffe. Den Entstehungsprozess des Projektes hat Farocki noch größtenteils begleiten können. „So könne man historische Themen behandeln“, soll er über den Film gesagt haben, wie sich Petzold erinnert.7 Das langanhaltende gemeinsame Gespräch über das bereits 2014 bewilligte Projekt zur Verfilmung des Buches von Seghers konnte jedoch nicht mehr fortgesetzt werden: Nach Farockis Tod legte Petzold die Arbeit vorerst nieder, um sich mit zwei Polizeiruf-Produktionen wieder der „Arbeit im Gegenwärtigen“ zu verschreiben.8

Gegenwart und Vergangenheit sind die beiden wesentlichen Zentripetalkräfte, die den Film Transit bestimmen. Obwohl der Film optisch der Gegenwart verhaftet bleibt, erwecken einzelne Worte und Dinge den Anschein des Historischen. Mehrfach durchkreuzen Schienengleise die Leinwand, die im Auf und Ab der Gleis- und Weichenführung die Partitur des Films leitmotivisch einfangen (Abb. 2). Auf der Ebene der Handlung entspricht die ununterbrochene Unruhe der Protagonisten dem beständigen Zeitendrift. Andauernd in Furcht versetzt, entweder entdeckt oder verraten zu werden, ist kaum ein Ort in der Lage, Geborgenheit zu vermitteln. Denn neben die unumgänglichen „Nicht-Orten“ (Marc Augé), die bürokratischen Wartezonen, reihen sich vielfach jene Orte und Räume, die als Transitzonen nur vorübergehend Aufenthalt erlauben: Bahnhof, Hafen, Hotelzimmer, Straßengasse, Taxi und schließlich ein Bistro. Dieser Ort und mehr noch der Wirt (Matthias Brandt), der zugleich als Erzählstimme durch den Film begleitet, bilden den einzigen Fixpunkt, in dessen Gravitationsfeld die Figuren ihre Bahnen ziehen.

Abb. 2: Georg und Heinz auf der Flucht nach Marseille, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Georg (Franz Rogowski) gerät als eine Art Mittelsmann eher beiläufig in die Handlung hinein. In einer Pariser Bar trifft er zunächst auf Paul (Sebastian Hülk), einen alten Bekannten, der ihn um einen Gefallen bittet. Zwei Briefe sollen dem Schriftsteller Franz Weidel überstellt werden, der in einem benachbarten Hotel wohnt. Als Gegenleistung winken etwas Geld und die Aussicht die Stadt zu verlassen – ein Platz im Auto sei noch frei. Im Hotel findet Georg nur noch das verlassene Zimmer vor. Das blutverschmierte Badezimmer deutet auf den Suizid des Schriftstellers. Paradoxerweise imaginieren dessen Hinterlassenschaften eine Form der Anwesenheit, die gegenüber jener raumgreifenden Abwesenheit opponiert, die der Tod für gewöhnlich hinterlässt. Und selbst noch in den Erzählungen der Hotelangestellten (Emilie de Preissac), die den Gast von früheren Besuchen zusammen mit seiner Frau her kannte, nimmt die Person des Schriftstellers förmlich Gestalt an. Das zurückgelassene Typoskript des letzten Buchprojektes zeichnet darüber hinaus das Bild eines melancholisch gewordenen Romantikers, dessen Zukunft plötzlich aussichtslos erschien. Georg ergreift die Chance, die sich durch die Leerstelle des Abwesenden ergibt. Er nimmt das Typoskript, die Briefe, den Pass und die Reisepapiere an sich und wird sich letztlich sogar – wenn auch zögerlich – die Identität des Schriftstellers aneignen. Für einen kurzen Moment eröffnet sich eine alternative Perspektive, die nur im falschen Leben ein (Über-)Leben verspricht. Der rettende Transit gerät erst dann in greifbare Nähe, wenn sich auch die Identitäten selbst im Übergang befinden. Aber der Fluchtplan misslingt. Paul wird von einer Polizeieinheit aufgegriffen und Georg kann gerade noch rechtzeitig entkommen. Die Situation verschärft sich, da die Ordnungskräfte das Viertel systematisch zu durchkämmen beginnen und die Stadt abgeriegelt zu werden droht. Doch bevor Georg überhaupt die Gelegenheit dazu bekommt sich einen Ausweg zu ersinnen, erhält er schon den nächsten Auftrag. Er soll seinen verwundeten Freund Heinz (Ronald Kukulies) in Sicherheit bringen. Auf einem Güterzug in einem Baucontainer versteckt, versuchen beide nach Marseille zu flüchten, doch der Freund erliegt seinen schweren Verletzungen. In Marseille angekommen kann Georg den herannahenden Ordnungskräften erneut nur knapp entwischen.

Abb. 3: Marie hört ihren Namen und wendet sich um, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Marie (Paula Beer) ist ein rastloses umherwandelndes Phantom (Abb. 3): Die meiste Zeit des Films ist vornehmlich das hektische Klackern ihrer Schuhabsätze zu vernehmen. Auf der Suche nach ihrem Mann, dem Schriftsteller, kreuzen sich ihre Wege und Blicke immer wieder mit denjenigen Georgs. Dann eine Berührung, – die Hand auf seiner Schulter – eine Kontaktaufnahme ganz „aus Versehen“ (Abb. 4). Georg, der inzwischen die Identität des Schriftstellers angenommen hat, scheint diesem (wenn auch nur rückseitig) zu ähneln. Doch sobald er sich umwendet, reißt ihre nur kurzweilig andauernde Kontaktaufnahme ab. Wie schon im antiken Mythos führt seine Geste der Hinwendung (Orpheus, der hinter sich blickt) zu Verlust und Abwendung.9

Georg, dessen Name an den ebenfalls um 1940 nach Südfrankreich geflohenen Schriftsteller Georg K. Glaser angelehnt sein könnte, scheint ohne jede Vergangenheit.10 Eine unter den gegebenen Umständen mögliche Identität findet er allein in der Gegenwart. Marie dagegen fehlt im gleichen Maße der Zugang zur Gegenwart wie ihre Erscheinung selbst flüchtig und ungreifbar bleibt. Dem Nachhall eines allmählich ausklingenden Echos vergleichbar, scheint der initiale Impuls ihrer Identität allein aus der Vergangenheit begründet. Diese Form permanenter Zeitversetzung führt jedoch dazu, dass Georg und Marie, wie im Falle einer entgegengesetzten Polarität, kaum länger als für einen kurzen Augenblick zusammenbleiben können.

Abb. 4: Marie glaubt ihren Mann wiedererkannt zu haben, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Driss (Lilien Batman), der kleine Sohn des auf der Flucht verstorbenen Freundes, entwickelt dagegen eine ganz und gar gegenwärtige Präsenz. Im Spiel mit dem Jungen gewinnt Georg sogar eine Lebendigkeit zurück, die Erinnerungen an seine frühere Identität preisgibt. Für einen Moment eröffnet sich ihm eine alternative Zukunftsperspektive. Erneut könnte er eine Lücke füllen, die durch den verstorbenen Freund und Vater des Jungen gerissen wurde und es bräuchte dazu keinerlei „Schein-Identität“ oder Verstellung mehr: Wäre er bereit zu bleiben, dann würde der Junge ihn akzeptieren, ganz ohne Dokumente und mit welchem Namen auch immer. Die Szene, in der Georg das defekte Radio des Jungen repariert, spiegelt diese Konstellation besonders eindringlich wieder (Abb. 5). Hatte sich Georg dem Jungen zunächst nur aus Neugier und wahrscheinlich auch ein wenig aus Mitleid zugewandt, entsteht zwischen ihnen mehr und mehr eine Verbindung, die sich auf Zuneigung und Verantwortung gründet. Die Reparatur des Radios steht sinnbildlich für die Wiederherstellung eines unterbrochenen Kontaktes, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder miteinander verknüpft. Nicht nur, dass die Handarbeit Georg auf seine Ausbildung als Radio- und Fernsehtechniker zurückführt, aus dem Rauschen des Radios erklingt auch eine Melodie, in der Georg ein Lied (das „Abendlied“ von Hans-Dieter Hüsch) seiner Kindheit wiedererkennt. Das Tableau der Figuren ließe sich noch weiter entfalten, die Mutter des kleinen Jungen (Maryam Zaree) und der Arzt (Godehard Giese) … Ihnen allen gemein ist, dass sich ihre Wege mehrfach kreuzen und sich stetig neue Konstellationen zwischen ihnen eröffnen.

Abb. 5: Reparatur und Kontaktaufnahme zwischen Georg und Driss, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Wie bei einer Parabel ist die Geschichte auf die Ebene der Gegenwart übertragen. Der Film selbst ist eine Transitzone, die den Transfer eines historischen Stoffes in die Gegenwart befördert. Der Film zeigt das Marseille der Gegenwart (Abb. 6 – 7). Während der Dreharbeiten finden dort Wahlen statt und sowohl Jean-Luc Mélenchon als auch Jean-Marie le Pen haben Wahlkampfauftritte. Transit ist eben kein Kostümfilm, der das Schauspiel vorrangig als historischen Schein in Szene setzt, und darum ist der Schritt, das Historische nicht abbildhaft einzuführen, so überzeugend. Es mag überzogen und irreal anmuten, wenn im Film uniformierte Polizeikräfte aus der Gegenwart die Stadt durchkämmen, um Razzien durchzuführen und Flüchtende und Oppositionelle festzusetzen. Doch gerade diese schroffen Montagen schaffen ein Moment der Irritation, das als Punktum, als Korn, auf die bis in die Gegenwart reichende Aktualität dieser Geschichte verweist. Wie hätte es wohl ausgesehen, wenn den kammerspielartigen Dialogen tatsächlich genau jene Nachrichtenbilder zur Seite gestellt worden wären, an die Petzolds Polizeitrupp-Einstellungen unweigerlich erinnern? Die Perspektive einer Überwachungskamera, die für einen kurzen Moment aufgegriffen wird, scheint ansatzweise in diese Richtung deuten zu wollen (Abb. 8). Die Nähe zum Fernsehen hat Petzold selbst einmal als produktives Moment herausgestellt. Gefragt über seine Motivation, für das Fernsehen zu arbeiten, betonte er, dass es für ihn etwas Anderes sei, einen Film zu konzipieren, der nicht im Kino, sondern zwischen Tagesschau und Tagesthemen seinen Platz finden müsse.11 Anders als in seinen früheren Kinoarbeiten scheint diese Klammer des „Gegenwärtigen“ nun auch für Transit zu gelten.

Abb. 6: Georg wird Zeuge einer Festnahme, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Abb. 7: Vor der amerikanischen Botschaft, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Abb. 8: Marie eilt zu Georg, den sie mit ihrem Mann verwechselt, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Atmosphäre entfaltet die Erzählebene des Films nicht zuletzt aus dem düster gefassten Typoskript des Schriftstellers und der Verzweiflung und Furcht, die aus ihm spricht. Dort ist von einem Mann zu lesen, der erst Tage und dann Jahre vor einem großen Tor wartete, bis er sich endlich an einen Passanten wendete: „Vielleicht können Sie mir helfen. Ich soll mich in der Hölle melden,“ „Aber mein Herr!“ entgegnet ihm schließlich der Vorübergehende, „Das ist die Hölle hier!“ Die Szene könnte in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz ein Vorbild erhalten haben. Als sogenannte Torhüterparabel ist die Geschichte 1915 als Teil des unvollendet gebliebenen Romans Der Prozess veröffentlicht worden.12 Orson Welles hat die Erzählung in Verbindung mit einer Zeichentricksequenz in seiner Verfilmung des Kafka-Romans Le Procès (1962) in Szene gesetzt.13 Die vielen Hürden, denen sich der Protagonist dort gegenüberstehen sieht, werden durch Türen und Tore repräsentiert, die auch im übrigen Teil des Films jede menschliche Proportion verloren zu haben scheinen (Abb. 9).

Abb. 9: Josef K. wird der Einlass verwehrt, Orson Welles, Le Procès, 1962
Quelle: DVD, Studio Canal 2012

Die Parabel handelt davon, dass ein „Mann vom Lande“ nie zum Gesetz gelangen wird, das ihn, repräsentiert in Form einer furchteinflößenden Architektur, vor die Mauern verweist. Unerträglich erscheint die Situation insbesondere durch deren offensichtliche Paradoxie: Das Tor steht zwar offen, aber der Türsteher, der sich als mächtige Gottheit ausgibt, verwehrt den Durchgang, nicht ohne gleichzeitig zu offenbaren, dass sich nach jeder Tür nur noch ein weiterer Saal mit einer weiteren Tür und einem weiteren Türsteher befände (Abb. 10). Das bleierne Warten, das der Pförtner einfordert, dauert letztlich genauso lang wie sich die restliche Lebenszeit des um Einlass Bittenden bemisst: eine für ihn auf ewig verlängerte Schwellensituation ohne jede Möglichkeit des Transits.14 Kurz vor dessen Tod eröffnet der Pförtner schließlich, dass er nun das Tor, das allein für den Wartenden geschaffen wurde, für immer verschließen werde. So surreal die Parabel erscheint, so real ist die darin angelegte „Farce“, die sich in der kafkaesken „Jagd nach Legitimationspapieren“, die durch die Historie belegt und durch das Buch von Seghers einmal mehr dokumentiert wurde, wiederfindet:

„Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Gewährung des Visa de sortie habe aber so lange gedauert, daß ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt. Letzte Woche habe man ihm das Visa de sortie gewährt, er warte jetzt Tag und Nacht auf die Verlängerung des Kontraktes die ja dann ihrerseits die Verlängerung seines Visums bedinge. Die aber sei die Vorbedingung für die Gewährung des neuen Transits.“15

Abb. 10: Der Schattenwurf von Josef K. über den Projektionen nach Kafkas Torhüterparabel, Le Procès, 1962
Quelle: DVD, Studio Canal 2012

Auch in Petzolds Transit muss gewartet werden. Vor den Ämtern, in Wartezimmern und Treppenaufgängen bilden sich lange Menschenschlangen (Abb. 11). Als Georg im Konsulat endlich an den ungeduldigen Mitarbeiter im Vorzimmer gelangt, wird ihm mitgeteilt, dass erst geprüft werden müsse, ob er in das Zimmer des Konsuls weitergeleitet werden könne. Allein der Rang und die Bekanntheit des Schriftstellers, dessen Namen er sich angeeignet hat, eröffnen ihm schließlich einen privilegierten Zugang. Wie vielen Menschen das endlose Warten auf die richtigen Dokumente tatsächlich das Leben gekostet hat, lässt sich anhand der Vielzahl geschriebener oder aber ungeschrieben gebliebener Biografien nur erahnen. Auch in Petzolds Film werden Menschen von der zeitverzehrenden Warterei aufgerieben oder in Verzweiflung und Tod getrieben: Neben dem eigentlichen Schriftsteller und einem Komponisten (Justus von Dohnáni), der an Herzversagen stirbt, wird dort die Figur einer Architektin (Barbara Auer) entwickelt, die sich ausgerechnet vor der neuzeitlichen Kulisse des „Museums der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers“ (MUCEM) in den Abgrund stürzt.

Abb. 11: Die Gegenwart des Historischen im mexikanischen Konsulat, Christian Petzold, Transit, 2018
Quelle: DVD, good!movies 2018

Aussichtslos erscheint auch jene Schwelle, an der sich Georg und Marie unüberwindbar gegenüberstehen. Die Hoffnung, ihren Mann doch noch wiederzufinden, hindert sie daran, die (vermeintlich) rettende Flucht über das Meer anzutreten. Gleichzeitig muss Georg an der Identität des Schriftstellers festhalten, um seinerseits seine Flucht und damit sein Weiterleben zu ermöglichen. Da Georg seine vorige Identität aufgegeben hat, muss Weidel am Leben bleiben, der so lange zwischen Georg und Marie stehen wird, wie diese mit ihrer Vergangenheit nicht abschließen kann. Deshalb wird Georg auf Schritt und Tritt von dem Phantom des Schriftstellers verfolgt, der sich so wenig abschütteln lässt wie sich ein Schatten vertreiben ließe. Denn überall dort, wo Georg seinen Namen nennt und die Papiere vorzeigt, wird Marie kurz darauf die Anwesenheit ihres Mannes bestätigt bekommen. Die Tragik der Erzählung besteht darin, dass sich die Indizien und Spuren, den Schriftsteller wiederzusehen, umso mehr verdichten je näher sich Georg und Marie kommen. Gibt Georg seine Verstellung preis, würde er sich auf Zeiten hinweg von Marie entfernen, der er sich doch gerade anzunähern versucht. „Wer vergisst schneller? Der Verlassene oder die, die ihn verlassen hat?“, fragt ihn der Konsul (Alex Brendemühl) im mexikanischen Konsulat, der ein zeitversetztes Gespräch zwischen Georg und Marie zu moderieren scheint. Erinnerungen und Lieder hätten nur die Verlassenen, wird Marie andernorts erzählen. Ihnen bleibe wenigstens das starke Gefühl der Melancholie, an dem sie sich festhalten können und das eben dadurch ihre Identität festige. Genau danach sehnt sich die rastlos Suchende, die den Schriftsteller verlassen hatte, um kurz danach wieder alles ungeschehen machen zu wollen. Doch ihr Brief hat den Schriftsteller nicht mehr rechtzeitig erreicht. Jetzt erscheint ihr allein die Erinnerung noch stark genug, um einen Halt zu vermitteln, den die Gegenwart nicht mehr bietet. Als Georg – der sich seiner Fluchtabsicht von Anfang an sicher war – das erkennt, bleibt ihm nur noch der Ausstieg. Das Taxi, das beide zum Hafen bringen soll, verlässt er unter einem Vorwand, der obwohl beiläufig daher gesagt dennoch etwas Wahres enthält: „Ich habe etwas vergessen … ich komme gleich nach.“ Vergessen und zurückgelassen hat er seine frühere Identität, gewonnen hat er aber eine Existenz, die das Janusgesicht der Verstellung und Lüge nicht länger akzeptieren möchte. Durch die Umstände in eine falsche Identität gedrängt, findet er zuletzt doch zur richtigen zurück.

Noch ein anderer Gedanke entspinnt sich aus dem Gespräch mit dem amerikanischen Konsul (Trystan Pütter). Georg wird befragt, ob er nach der Flucht über seine Erlebnisse schreiben würde und ob nicht gerade darin seine Rolle als Schriftsteller begründet sei. In Erklärungsnot greift Georg auf seinen eigenen Erfahrungshorizont zurück, der so stimmig erscheint, dass er auch von dem Schriftsteller selbst stammen könnte. In der Schule habe er immerfort Erlebnisse, die er in den Ferien und an den Feiertagen gesammelt hatte, zu Schulaufsätzen verarbeiten müssen, so als ob die Ferien bloß ein Vorwand wären, um Schreibanlässe zu generieren. Christian Petzold hat, wie es der aktuelle Umgang mit historischen Stoffen innerhalb der deutschen Filmlandschaft durchaus hätte nahelegen können, weder einen Schulaufsatz noch einen Lehrfilm hergestellt. Eine Lehre im Sinne einer in die Gegenwart weisenden Parabel ist dennoch in ihm enthalten.

„Im Gewand der historischen Begebenheit“, schrieb Farocki, berge der Roman von Seghers das Material für eine Parabel. Eine interessante Formulierung, die das Historische nicht durch Kostüm, Verkleidung und Verstellung definiert, sondern durch „Begebenheiten“, die bis in die Gegenwart vordringen können. Den identitätszersetzenden Transitzonen, den Ämtern, Lagern und Grenzstreifen sowie dem dumpfen Gefühl der Bedrohung werden in Transit alternative Erzählungen zur Seite gestellt, die der Anonymität der Verallgemeinerungen widersprechen, wie sie in der erregten Berichterstattung gegenüber aktuellen „Begebenheiten“ vielmals kolportiert werden.


1 Anna Seghers, Transit, Berlin 2017, S. 45.

2 Seghers 2017, S. 47f.

3 Der Film feierte am 5. April 2018 seine Deutschlandpremiere. Am selben Tag hat Volker Pantenburg das Dokument mit der Notiz Farockis online gestellt, siehe: Volker Pantenburg, Harun Farocki über TRANSIT (1966), in: new filmkritik, 5. April 2018, URL: http://newfilmkritik.de/archiv/2018-04/harun-farocki-ueber-transit-1966/ [8. April 2018]. Dieser Aufsatz ist unmittelbar daraufhin entstanden und wurde für die vorliegende Veröffentlichung ergänzt.

4 Aus einem Brief von Jeanne und Kurt Stern geht hervor, dass Seghers den Roman offenbar noch während der Zeit ihrer Überfahrt nach Mexiko begonnen hatte: „Seghers verließ mit ihrer Familie auf einem Frachtschiff Marseille im März 1941 und erreichte im November 1941 Mexiko“, schreibt Sonja Hilzinger im Nachwort der hier verwendeten Ausgabe (Seghers 2017, S. 278). Laut Hilzinger ist der Roman 1944 zunächst auf Spanisch erschienen und lag erst 1948 in deutscher Fassung vor. Die Aussicht sowie konkrete Erfahrungen ihrer Flucht hat Seghers zudem in Reise ins Elfte Reich (1939) sowie in der Erzählung Das Obdach (1941) verarbeitet.

5 Zehn Jahre später unternahm die Filmregisseurin Ingemo Engström, mit der Farocki zuvor für einige Filmprojekte zusammengearbeitet hatte, zusammen mit ihrem Mann Gerhard Theuring entlang des Fluchtwegs von Paris bis Marseille mehrere Recherchereisen. Unter Einbezug des Romans von Seghers, dem Arbeitsjournal von Bertolt Brecht, Texten und Briefen von Walter Benjamin sowie einem Gespräch mit Alfred Kantorowicz entstand dann 1977 der von Engström und Theuring gemeinsam fertiggestellte Recherchefilm Fluchtweg nach Marseille. Bilder aus einem Arbeitsjournal. Siehe dazu die nachgereichte „Chronologie einer Filmreise“ in der Ausgabe der Filmkritik, 22. Jg., 1978, H. 2, S. 66 – 97.

6 Dass Farocki diesem Narrativ auch aus anderer Perspektive nachhing, zeigt eine spätere Formulierung, die im Hinblick eines filmhistorischen Streiflichts auf das Motiv der vertauschten Frau, getroffen wurde: „Und dann muß die falsche Frau etwas von dem Leben der richtigen fortführen. Aus der Schein-Identität wird gefühlte Wirklichkeit. […] Daß ein Mensch in den Umriß des anderen tritt und damit etwas von dem Leben des anderen leben muß: das ist als Idee zu gut, um leicht eine gute Geschichte zu werden.“ Harun Farocki, Vertauschte Frauen, in: Filmkritik, 24. Jg., 1980, H. 6, S. 274 – 297, hier S. 275, 277.

7 Cornelia Geißler, „Heimat fordern die, die andere nicht reinlassen“, Interview mit Christian Petzold, Berliner Zeitung, 2. April 2018, URL: https://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/interview-mit-christian-petzold–heimat-fordern-die–die-andere-nicht-reinlassen–29942202 [17. April 2018].

8 Geißler / Petzold 2018.

9 Das entgegengesetzte Motiv findet sich in Phoenix, wo die Ähnlichkeit der Rückkehrerin mit der totgeglaubten Nelly (Nina Hoss) zwar unübersehbar ist, ihre Identität jedoch, selbst von Johnny (Ronald Zehrfeld), ihrem einstigen Mann, nicht (an-)erkannt wird. Wie bei Transit geht auch die Idee für Phoenix auf einen Vorschlag seitens Farocki zurück. Dabei handelt es sich um den Roman Der Asche entstiegen (1961, frz. Le retour des cendres) von Hubert Monteilhet. Wertvolle Hinweise zu den Filmen Petzolds finden sich in einem jüngst erschienenen Sammelband, in dem Transit jedoch nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Für den Nachweis der Romanvorlage in Phoenix siehe ebenda: Jaimey Fisher, Petzolds Phoenix, Fassbinders Maria Braun und die filmische Archäologie der Nachkriegszeit, in: Ilka Brombach/Tina Kaiser (Hg.), Über Christian Petzold, Berlin 2018, S. 191 – 212, hier S. 199.

10 Glasers 1951 verfasstes und erst 1989 auf Deutsch erschienenes Werk in zwei Bänden Geheimnis und Gewalt (frz. Secret et violence. Chronique des années rouge et brun (1920 – 1945)) nennt Petzold dann auch als eine weitere wesentliche Quelle für die Erarbeitung des Drehbuchs. Farocki hat 1988 mit seinem Film Georg K. Glaser – Schriftsteller und Schmied ein eindrucksvolles Porträt Glasers vorgelegt (Erstausstrahlung am 20. September 1988, SWF 3).

11 Geißler / Petzold 2018.

12 Zu Lebzeiten Kafkas wurde die Erzählung dann in die Textsammlung Ein Landarzt (1920) aufgenommen. Franz Kafka, Vor dem Gesetz, in: Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (Hg.), Ein Landarzt, Frankfurt am Main 2002, S. 267 – 269.

13 Die im Pin-Screen-Verfahren hergestellte Prologsequenz haben der französische Zeichentrickpionier Alexandre Alexeieff und Claire Parker hergestellt. Für die spätere Fassung des Films wurde die Prologsequenz jedoch weggelassen. Geblieben ist die Sequenz zum Ende des Films in der Josef K. (Anthony Perkins) in einem Diavortrag mit den Bildern von Alexeieff und Parker konfrontiert wird, während ihm der Advokat (Orson Welles) die Geschichte erzählt. Für Hinweise danke ich Jens Meinrenken.

14 Insbesondere unter dem Aspekt des ewig verlängerten Aufschubs hat sich auch Derrida mit dem Text Kafkas beschäftigt. Die Nicht-Ankunft, das heißt die Nicht-Begegnung von Gesetz und Individuum, ist dort zugleich der Anfang der Literatur wie das Ende des Gesetzes. Siehe Jacques Derrida, Préjuges. Vor dem Gesetz, Wien 1992.

15 Seghers 2017, S. 45. Über Seghers’ Reise ins Elfte Reich, schreibt Hilzinger im Nachwort von Transit: „Die Sammlung von neun kurzen Prosastücken […] gestaltet Alltagserfahrungen von Emigranten auf humoristisch-skurrile Art, verfremdet im Grundmotiv der verkehrten Welt. So ist die wichtigste Voraussetzung für die Einreise in das phantastische Exilland, keine Papiere, Pässe und Visa zu besitzen […].“ Ebd., S. 279.

Thomas Helbig hat Kunstgeschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Derzeit promoviert er als Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung über Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma und ist assoziiertes Mitglied in der Abteilung Das Technische Bild am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Humboldt-Universität zu Berlin.
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