Die Macht der Dokumentation

Mit dem Beginn der dOCUMENTA (13) startet auch die mediale Dokumentation der Weltkunstausstellung, ihrer Ausstellungsräume und einzelner dort präsentierter Werke. Manche der fotografischen Reproduktionen werden die spätere Sicht auf die Originalwerke entscheidend mitbestimmen, denn nach dem Ende der Laufzeit der Ausstellung werden die Werke wieder abgebaut und damit ihres intendierten Kontextes beraubt. Das Ausstellungsfoto wird so zum kunstwissenschaftlich relevanten Dokument des Werkes. Dies gilt bei auf den Raum bezogenen Kunstwerken ungleich mehr, da sie ihrem Wesen nach nicht transportabel sind und durch den Abbau ihr notwendiges Bezugssystem verlieren.

Dass dem so ist, zeigt prominent die Dokumentations- und Präsentationsgeschichte der documenta Bilder A, B und C von Ernst Wilhelm Nay: drei abstrakt-expressionistische Ölbilder mit figurativen Anleihen. Sie wurden auf Anregung Arnold Bodes, Begründer der Weltkunstausstellung und Kurator der documenta III, speziell für einen korridorialen, von beiden Seiten betretbaren Raum gemalt und dort hintereinander schräg an der Decke installiert. Unter dem Titel „Bild und Skulptur im Raum“ wollte Bode Rauminszenierungen schaffen, welche im bewussten Kontrast zu den gewöhnlichen musealen Seherfahrungen stehen. Er wollte dem Bild seinen Raum zurückgeben:

Wir haben eine Entwicklung durchlebt, die das Kunstwerk aus seinen geistigen, und das heißt gesellschaftlichen und architektonischen Zusammenhängen, aus den Kirchen und Palästen herausgelöst hat und die es zu dem Inhalt des Museums alter Form hat werden lassen […]. Daher versuchen wir nun, Räume zu schaffen und Raumbezüge herzustellen, in denen Bilder und Plastiken sich entfalten können, in denen sie sich nach Farbe und Form, nach Stimmung und Strahlkraft steigern und verströmen.[1]

Nach dem Ende der documenta III wurden die Bilder Nays bei verschiedenen Ausstellungen gezeigt: 1964 im Frankfurter Kunstverein und im Karlsruher Kunstverein, 1980 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und 1998 bei einer Nay-Retrospektive im Stedelijk Museum in Amsterdam. Allerdings jeweils in einem neuen räumlichen Kontext. Seit 2001 hängen sie nun als Dauerleihgaben im Pressesaal des Bundeskanzleramtes in Berlin. Plan an der Wand und nicht wie ursprünglich intendiert an der Decke.

Abb. 1: Ernst Wilhelm Nay, documenta Bilder A, B und C, 1964, Ansicht des Ausstellungsraumes vom Eingang aus.

Begibt man sich auf die Suche nach fotografischen Dokumentationen der Hängung von 1964 stößt man immer wieder auf ein und dieselbe Schwarz-Weiß Aufnahme (Abb. 1).  Die Fotografie stammt von Günther Becker, einem Bildreporter aus Kassel, und wurde nach dem Abbau des Werkes vielfach publiziert.[2] Sie zeigt eine Aufnahme des Raums mit den drei schräg an der Decke hängenden Bildern. Ebenfalls auf dem Bild zu sehen sind die in Ausstellungsfotografien obligatorischen BetrachterInnen. Zwei nach oben blickende Personen am rechten Rand des Fotos, welche durch ihre Blicke die Aufmerksamkeit  auf das Kunstwerk lenken. Zudem legen sie den Maßstab des Raumes fest, nur durch ihre Anwesenheit wird ein Gefühl für die reale Höhe des Raumes fotografisch vermittelbar. Da keine Raumpläne der damaligen Installation existieren, wurde diese Fotografie zur entscheidenden Grundlage einer Rekonstruktion der Originalhängung, die 2009 in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt im Rahmen der Ausstellung E. W. Nay – Bilder der 1960er Jahre unternommen wurde. Allerdings entsprach beim Nachbau der Abstand zwischen den Bildern nicht dem von 1964 – eventuell eine Folge des visuellen Eindrucks der Fotografie. Taucht im Diskurs eines Werkes immer wieder eine ganz bestimmte Reproduktion auf, beeinflusst dieses medial vermittelte Bild den Blick auf das Original. Denn jede Fotografie reproduziert nicht nur ein Objekt, sondern auch eine Sehweise.[3] Bei der Aufnahme von Becker fällt auf, dass sie vom Eingang des Raumes aus genau waagrecht in den Raum blickend aufgenommen wurde. Aus dieser Perspektive schließen sich die drei Einzelwerke zu einem scheinbar einheitlichen Bilderband zusammen. Es scheint, als würde kein Abstand zwischen den einzelnen Bildern existieren. Dieser Blick auf das Werk wird in der Rezeption oft als „ideal“ beschrieben. So schreibt Dirk Schwarze in seinem 2009 erschienen Buch Die Kunst der Inszenierung oder Als Arnold Bode Ernst Wilhelm Nay in den Himmel hob: „Denn nur in dieser Abfolge und in der Schräghängung unter der Decke schließen sie sich zu einer so geschlossenen Einheit zusammen, zu einem fortlaufenden Bilderband, zu einem Farbdreiklang, von dem schon Bode sprach. Deshalb ist die beste Position des Betrachters auch die Stelle, an dem der Bilderraum beginnt.“[4] Doch die Intention des Inszenators Arnold Bode lag auf einer bewegten Betrachtung der Bilder im Durchschreiten des Raumes. In einem Interview mit der Zeitschrift Magazin Kunst beschreibt er die ihm vor Augen stehende mobile Betrachtung der Bilder ausführlich:

„Ich bin der Meinung, dass man die Bilder von Nay, den ich für einen großartigen europäischen Maler halte, nur einzeln betrachten kann. Genau wie man nicht drei Grammophon-Platten gleichzeitig laufen lassen kann, so sollte man die Bilder von Nay nur einzeln sehen oder, wenn es sich um eine Folge von Bildern handelt, eben in der Abfolge. Wir haben versucht, eine solche Abfolge begreiflich zu machen in dem großen Nay-Saal, wo der Besucher erhobenen Hauptes drei große Farbklänge, die von der Decke her über ihn kommen, erleben kann.“[5]

Die Raumaufnahme friert das hier beschriebene dynamische Wahrnehmungserlebnis auf ein Standbild ein. Das auf eine bestimmte Perspektive beschränkte Medium der Ausstellungsfotografie stößt hier an seine Grenzen. Es scheint daher sinnvoll, die Dokumentgrundlage zu erweitern. Bei der Suche nach angemessenem, bewegtem Bildmaterial zeigt sich die filmische Dokumentation einer Durchwanderung des Bilderraums vom Hessischen Rundfunk als kunsthistorisch relevant.[6] Das Material zeigt die beispielhafte Begehung des Raumes durch einen bewegten Rezipienten. Im Vergleich zu der monoperspektivischen Fotografie des Ausstellungsraumes kann der Film die Idee einer bewegten Betrachtung vermitteln. Natürlich gilt auch hier die bereits 1936 von Walter Benjamin formulierte generelle Einschränkung technischer Reproduktionen: „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.“[7] Da einzelne Momentaufnahmen aus der Dokumentation wiederum der Aspekte Bewegung und Zeitlichkeit entbehren würden, soll hier stattdessen in einer Art Erlebnisbericht der fiktive Parcours[8] durch die Ausstellung beschrieben werden:

Als BesucherIn der documenta III betritt man den Nay-Korridor und erblickt an der Decke die drei Bilder. Man wird sogleich an sakrale Wahrnehmungserfahrungen erinnert, da die Bilder den Blick nach oben verlangen, eine Wahrnehmungshaltung, die man aus der Betrachtung von Deckengemälden in Kirchen, nicht aber aus der musealen Erfahrung gewöhnt ist. Auch die langgestreckte Architektur des Raumes erinnert schon durch ihre Form an das Langhaus einer Kirche. Die am Eingang positionierte Sitzbank verstärkt zusätzlich die sakrale Anmutung der Rezeptionssituation. Steht man am Eingang dieses Raumes, nimmt man die drei separaten Tafelbilder als ein sich optisch nach hinten verjüngendes Bilderband wahr. Dieses ist nur minimal, durch die aufgrund der Schräghängung entstandenen Höhenunterschiede zwischen den einzelnen Bildern, unterbrochen. Doch der Eindruck, ein zusammenhängendes Werk vor sich zu haben, entsteht nicht nur durch die Installation des Werkes. Nay schafft farbliche Anschlüsse zwischen den Ober- und Unterkanten der Bilder, welche die einheitliche Rezeption innerbildlich stützen. Zunächst wird das erste Bild, documenta Bild B (Blau-Rot-Gelb), die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es liegt den RezipientInnen räumlich am nächsten und schafft mit seinem naturalistisch und prominent platzierten Augenpaar in der oberen linken Ecke einen Einstieg in das Werk. Durch seine geneigte Installation an der Decke verlangt es einen Blick von zirka 45° schräg nach oben. Die Schrägansicht hat ihrem Wesen nach etwas Schwebendes, da in diesem Betrachtungswinkel die Richtungsvektoren von BetrachterIn und Bild weder deckungsgleich noch diametral verschieden sind.[9] Das Bild steht so zwar noch in direkter Beziehung zu den BetrachterInnen, es folgt jedoch bereits seinen eigenen räumlichen Gesetzmäßigkeiten. Dies ist vor allem für die figurativen Augenelemente von Bedeutung. Die Augen schweben hoch über dem Kopf der RezipientInnen an der Decke und neigen sich diesen doch explizit zu. Aus einer privilegierten Position heraus blicken die Augen auf die BetrachterInnen nieder und erzeugen so das Gefühl, beobachtet zu werden. Auch ihre zahlenmäßige Überdominanz lässt an eine Situation der Überwachung denken. Politisch ausgelegt könnten die Augen staatliche Überwachungsorgane symbolisieren und wurden auch vielfach so gedeutet.[10] Dass Nay selbst diese politische Sprechabsicht hatte, ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich, für Nay stellte das Auge ein „Kürzel von Mensch“[11] dar. In einem Katalogbeitrag zu einer Aquarell-Ausstellung äußerte Nay sich wie folgt: „von selbst emaniert das autonome artistische System meiner Kunst tiefgründige Zeichen, den Kreis, das Auge und andere, es verbindet sich darin die Größe des autonomen Menschen mit der Kleinheit des Universums.“[12] Und auch die Titel anderer von Nay gemalter Augenbilder, Die Nacht (1963), Traum (1963), Himmelsrichtung (1963), Quell (1964), Meteor (1964), Das Licht (1964)[13] verweisen auf eine kosmische Deutung im Sinne einer Verbindung von Mensch und Universum. Es ist zu vermuten, dass die schrägansichtige Präsentation der Bilder die Bedeutungsdimension des Beobachtetwerdens verstärkt, während bei an der Wand installierten Augenbildern die Reflexion des eigenen Sehens stärker auf die RezipientInnen wirkt.

Damit vom Eingang aus alle drei Bilder zu sehen sind, sind sie in absteigender Höhe an der Decke installiert. Eine Rezeption von dieser Position aus würde daher, wie bereits beschrieben, mit einem Blick von zirka 45° schräg nach oben auf das erste Bild beginnen und dann mit einem nur noch leicht nach oben gerichteten Blick beim letzten Bild enden. Die Schräghängung hat daher den optischen Effekt, dass – anders als bei drei plan hintereinander installierten quadri riportati – die sukzessive Entdeckung der Bilder ohne die Bewegung des ganzen Körpers, nur durch eine leichte Kopfbewegung erfolgen kann. Drei auf eine untersichtige Betrachtung ausgelegte Deckenbilder müssten im Unterwandern mit senkrechtem Blick nach oben rezipiert werden. Die schrägansichtig installierten documenta Bilder A, B und C können mit einer Kopfbewegung von oben nach unten vom Eingang aus betrachtet werden. Daraus lässt sich jedoch kein „idealer“ Standpunkt am Eingang des Raumes ableiten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bewusst zunächst ein einheitlicher optischer Eindruck geschaffen wird, der sich beim Gang durch den Raum auflöst und zu einer neuen Wahrnehmung verschiebt. Durch verschiedene Aktivierungsstrategien wird die Bewegung des eigenen Körpers durch den Raum angeregt. Zum einen ist der korridoriale Aufbau des Raumes mit den Zugängen an beiden Seiten auf Durchschreitung angelegt. Zum anderen entsteht durch die optische Verjüngung nach hinten eine Art Sogwirkung in den Raum hinein. Und obwohl alle drei Bilder vom Eingang aus fast vollständig sichtbar sind, regt die mehrteilige Struktur des Werkes doch dazu an, sich sukzessive körperlich zu nähern. Wir folgen daher den gegebenen Impulsen und bewegen unseren Körper in den Raum hinein. Dadurch aber geht der Eindruck der Einheitlichkeit des Bildbandes verloren. Die räumlich gestaffelt installierten Bilder trennen sich im Durchschreiten voneinander und werden zu schräg hintereinander befestigten Einzelwerken. Es wird deutlich, dass die Bilder nicht wie von der Position am Eingang aus vermutet, bündig aneinandergereiht sind, sondern ein deutlicher Abstand zwischen den einzelnen Werken existiert. Würde man ein Papiertheater betreten, würde sich ein ähnlicher Effekt einstellen: Beim Betreten würde es seine einzelnen, räumlich voneinander getrennten Ebenen preisgeben. Durch ihre Raumstaffelung bekommen die Bilder skulpturalen Charakter: Sie ragen in den Betrachterraum hinein. Betrachterraum und Bildraum sind somit nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden. Die RezipientInnen befinden sich, indem sie den Raum betreten, im Bildraum selbst. Ein distanziertes und kontemplatives Betrachten ist daher nicht mehr möglich, vielmehr verlangt der Bilderraum eine aktive Bewegung durch den Raum, was auch einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung des Werkes zur Folge hat. Wie die Bewegung durch den Korridor verläuft, ist individuell verschieden. Bevorzugte Standpunkte sucht man vergeblich. Da die Bilder keiner Perspektivausrichtung folgen und die Augenpaare rotierend über das gesamte Bildfeld verteilt sind, kann man eher vom Ideal der bewegten Rezeption sprechen. Vermutlich würden „ideale“ RezipientInnen sich den Bildern zunächst sukzessive, also Bild für Bild, nähern. Dabei erfolgt eine räumliche Annäherung an die Leinwand, da die Bilder, wie bereits beschrieben, in abnehmender Höhe installiert sind. Während die hoch über einem schwebenden Augenpaare von documenta Bild B (Blau-Rot-Gelb) noch auf einen hinunter blicken, befinden sich die Augen auf dem documenta Bild A (Rot-Grün) nur noch in geringer Höhe über den BetrachterInnen. Das Bild sucht ein annähernd senkrechtes Gegenüber und ist somit weniger Deckengemälde als schräg installiertes Wandbild. Mit der Bewegung in den Raum hinein findet daher eine körperliche Annährung an das Bild statt, die eine Veränderung der Beziehung zwischen Bild und RezipientIn bewirkt. Das erste Bild verkörpert das von den BetrachterInnen verschiedene, sich in einer anderen Sphäre befindliche. Das letzte hingegen sucht ein sich dialogisch positionierendes Gegenüber. Das dritte Bild, documenta Bild A, bleibt während der Bewegung durch den Raum dauerhaft sichtbar, documenta Bild B und C verschwinden dagegen sukzessive aus dem Sichtfeld der BetrachterInnen. Wir haben es daher mit einer raffinierten Vermischung von Über-Kopf- und Frontal-Rezeption zu tun, die simultan Aspekte von Dauer und Sukzessivität besitzt. Durch seine dauerhafte Sichtbarkeit nimmt das letzte Bild, documenta Bild A (Rot-Grün), bei bewegter Rezeption eine hervorragende Stellung ein. Es ist Ende und Höhepunkt des Bilderbandes. Nay hat das Bild durch seine gesteigerte Bewegtheit innerbildlich als ästhetischen Schlussakkord konzipiert, in der bewegten Betrachtung wird die hervorgehobene Stellung jedoch auch prozessual erfahrbar gemacht.

Die hier beschriebene ästhetische Erfahrung ist geprägt von sich vollziehenden Perspektivverschiebungen. Das Werk entfaltet seinen Bedeutungsgehalt nur, wenn die BetrachterInnen sich in ihm bewegen. Die lediglich eine Perspektive repräsentierende Ausstellungsfotografie unterdrückt dieses polyperspektivische Potenzial des Werkes. Trotzdem scheint es eher Glücksfall denn die Regel zu sein, dass zu diesem speziellen Bilderraum auch bewegtes Bildmaterial existiert. Und auch heute, in einer Zeit des allgegenwärtigen Aufzeichnens und Verbreitens bewegter Bilder via Smartphone, Internet und Ähnlichem, scheint eine überindividuell verwertbare Dokumentation mobiler Wahrnehmungserlebnisse nicht selbstverständlich. So bleibt beispielsweise der Versuch, eine filmische Dokumentation der Begehung der Rekonstruktion von 2009 zu sichten, erfolglos. Es muss also die audiovisuelle Dokumentation von Ausstellungssituationen in größerem Umfang vorgenommen werden, damit es auch nach Ausstellungsende möglich bleibt, deren mobile Betrachtung nachzuvollziehen und so „einiges von dem wahren künstlerischen Leben solcher [Werke] einzufangen.“[14]


[1] documenta III (Hg.), documenta III – Malerei und Skulptur (Kat.), Köln 1964, S. 19.
[2] Unter anderem in: Dirk Schwarze, Die Kunst der Inszenierung oder Als Arnold Bode Ernst Wilhelm Nay in den Himmel hob, Berlin 2009, Umschlagmotiv und S. 28; Kunsthalle Schirn (Hg.), E. W. Nay. Bilder der 1960er Jahre (Kat.), München 2009, S. 26; Werner Haftmann, E. W. Nay, Köln 1991, S. 96; Elisabeth Scheibler-Nay (Hg.), E. W. Nay. Bilder und Dokumente, München 1980, S. 196; Harald Kimpel, documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1977, S. 26.
[3] Wolfgang Schöne, Zur Bedeutung der Schrägansicht für die Deckenmalerei des Barock, in: Martin Gosebruch (Hg.), Festschrift Kurt Badt, Berlin 1961, S. 144.
[4] Schwarze 2009, S. 38.
[5] Arnold Bode, Interview mit Alexander Baier, in: Magazin Kunst, Heft 2, 1964, S. 36.
[6] Hessischer Rundfunk, Das inszenierte Bild – Zweiter Bericht von der documenta 3 in Kassel. Dokumentarbericht. Autoren: Reinhard Ruttmann, Kurt Zimmermann. Redaktion: FS – Politik und Gesellschaft. Hessischer Rundfunk, 02.07.1964 (Do), 22.55 h.; 5:44–6:30 min.
[7] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1996, S. 11.
[8] Vgl. hierzu Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum: Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990, S.139-151.
[9] Siehe dazu Schöne 1961, S. 146: „Wenn wir unser Vorstellungsexperiment nun fortsetzen und das anfangs ins Auge gefaßte altarähnliche Gemälde, das zunächst uns gegenüber und dann senkrecht über uns stand, so anbringen, daß wir in einem Blickwinkel von etwa 45° schräg zu ihm hinaufsehen und seine Bildebene uns um dasselbe Maß zugeneigt ist, dann mischen sich die beschriebenen Phänomene: Die Übereinstimmung der dargestellten Ort- und Richtungsbegriffe mit den unseren bleibt bestehen, doch wirken die anderen Kräfte, die sich bei senkrechter Untersicht voll entfalten, bereits auf sie ein, und zwar nun durchgängig im Sinne der Sublimierung, so daß die veranschaulichten Orts- und Richtungswerte für uns insgesamt etwas Schwebendes bekommen.“
[10] Wolfgang Rothe in Sonntagsblatt, 23.8.1964: „Aus jedem der Bilder, unter denen man hindurchgehen soll, blickt eine Anzahl von Augen auf den Kunstpilger nieder. Die Kommentare reichen vom ‘Auge Gottes’ bis zum allgegenwärtigen ‘Großen Bruder’ aus Orwells pessimistischer Utopie ‘1984′.“
[11] Magdalene Cläsges-Bette, Die Geburt des elementaren Bildes aus dem Geist der Abstraktion, Köln 2001, S. 187. Über die Entwicklung des Augenmotivs bei Ernst Wilhelm Nay siehe auch Werner Haftmann, E. W. Nay, Köln 1991, S. 247–257.
[12] Zitiert nach Cläsges-Bette 2001, S. 187.
[13] Alle hier genannten sechs Augenbilder wurden ebenfalls bei der documenta III präsentiert, allerdings in einer konventionellen Hängung an der Wand in der Abteilung Kabinette im Museum Fridericianum.
[14] Schöne 1961, S. 145.

Quellennachweis: Katrin Kulik, Die Macht der Dokumentation, Reflexion über das Wahrnehmungsdispositiv Ausstellungsfotografie, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1084.

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Der Vermittlungsschalter

Design zeichnet sich im Ausstellungskontext der Gegenwartskunst durch eine besondere Zweideutigkeit aus: Einerseits wird man mit eindeutigen aktivistischen Impulsen angesprochen, andererseits – etwa in bestimmten Displays – jedoch durch die scheinbare, vermittelte Ausstellungssituation mit eher zweideutigen Signalen konfrontiert. Natürlich ist diese Spannung generell in vielen Ausstellungskontexten zu beobachten. Ich denke allerdings, dass die Platzierung von Design im Ausstellungskontext jene zweideutige Spannung erheblich erhöht. Dies geschieht sowohl durch eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung mit dem Gebrauchskontext als auch durch das inzwischen gewachsene Ausstellungsverständnis der Disziplin Design.

Im Folgenden möchte ich dieses Spannungsfeld am Beispiel von vier Ausstellungssituationen umreißen. Die ersten zwei Beispiele thematisieren meine persönliche Erfahrung auf dem Weg und in einer Ausstellung in Utrecht zum Zeitpunkt, als dieser Text entstand. Die beiden letzten Beispiele schildern zwei durch Archivrecherchen und Fotodokumente vermittelte Ausstellungsmomente aus den Archiven des Zürcher migros museum für gegenwartskunst und des Berner Möbelgeschäfts teo jakob.[1] Die beiden letztgenannten Einzelausstellungen lassen einschneidende Veränderungen in der Ausstellungspraxis von Design- und Kunstkontext erkennen. Konventionen einer Disziplin werden in den Ausstellungskontexten einer anderen Disziplin gezielt umgenutzt.

Orientierungsprobleme

Abb. 1: Gang im Einkaufszentrum Hoog Catherijne, Utrecht, 2008.

Kommt man am Bahnhof im niederländischen Utrecht an, führt der einzige Weg in die Innenstadt durch ein großes Einkaufszentrum. „Hoog Catharijne“ heißt das riesige Geflecht aus hell erleuchteten Gängen und Warenauslagen (Abb. 1). Es wurde 1973 offiziell eröffnet und galt damals als größtes Einkaufszentrum Europas. Das Motto lautet 2011: Fashion Food Freetime Fun, ein Atrium mit Oberlicht wird in der Eigenwerbung als The Heart of Utrecht angekündigt. Will man allerdings noch in die anderen Stadtteile gelangen, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich einen Weg durch die weit verzweigten Gänge und mehrere Etagen zu suchen. Es fällt nicht ganz leicht, sich inmitten der Flut an sinnlichen Eindrücken auf die Orientierung zu konzentrieren. Von den Gleisen kommend, wird man auf der Brücke, die beide Seiten des Bahnhofs miteinander verbindet, von intensivem Geruch nach Kaffee und Gebäck empfangen. Meine Aufmerksamkeit wird auf die verschiedenen Produkte hinter den Schaufenstern gelenkt. Mit dem Übertritt von der Bahnhofsbrücke in die Einkaufspassage scheint es, als würde die Menschenmasse von der gezielten Eile des öffentlichen Nahverkehrs in ein schlenderndes Freizeit-Tempo verfallen. Wobei damit keine Lethargie gemeint ist, sondern vielmehr die vorübergehende Suspendierung einer zielgerichteten Fortbewegung. Die „Zweideutigkeit des Raumes“[2], von der Benjamin in seiner Beschreibung der Pariser Passagen des 19. Jahrhunderts gesprochen hat, führt hier zu einem Orientierungs- oder zumindest zu einem Entscheidungsproblem. Die Transitzone zwischen Stadt und Bahnhof ist gleichzeitig zu einem Ausstellungsbereich ausgebaut worden.

Ich erinnere mich wieder: The Grand Domestic Revolution heißt mein Ziel. Eine Ausstellung zeitgenössischer KünstlerInnen, DesignerInnen und AktivistInnen über das Einrichten und Arbeiten in privaten Umgebungen, die an verschiedenen Orten stattfindet: einem Buchladen mit marxistisch/aktivistischem Hintergrund, einem volkskundlichen Stadtteilmuseum und dem Kunstraum CASCO, auf dessen Initiative das Projekt zurückgeht. An diesen Orten trifft man auf sparsam als Ausstellungsdesign eingesetzte Elemente von Ruth Buchanan und Andreas Müller: einzelne, einfache Lehnstühle, ein paar abgrenzende Balken im Raum – alles aus blau lackiertem Holz.

Abb. 2: Ausstellungsansicht, The Grand Domestic Revolution, Wohnzimmer, Ausstellungsdesign von Ruth Buchanan und Andreas Müller.

Der Ausstellungsraum von CASCO ist in verschiedene Wohnbereiche unterteilt, die durch unterschiedliche Raumteiler und Einrichtungsstile voneinander abgegrenzt werden: ein Wohnbereich mit einem Teppich, Kissen sowie einem Bett. Hinter einem gelben Vorhang befinden sich das Büro der Institution und eine Bibliothek des Projektes (Abb. 2). Die Küchennische mit Essbereich ist durch einen gitterförmigen, mit Kunstblumen dekorierten Raumteiler hindurch zu sehen. Buchanans und Müllers Eingriffe erinnern mit ihren etwas groben, aber einfachen und rechtwinkligen Formen an das vormoderne, protestantische Design der Shaker. Tatsächlich sind die blauen Holzelemente überwiegend aus IKEA-Möbeln zusammengesetzt. Die Szenerie diente auch als Requisite für die Aufnahmen einer WG-Soap, deren erste Folge sich um die Aufnahme einer neuen Bewohnerin in ein Hausbesetzer-Kollektiv dreht.

Im „Volksgebuurt“-Quartiermuseum sind die Arbeiten der Ausstellung dagegen ganz in das Display des Heimatmuseums eingebettet. Neben Hörstationen zu einzelnen Erinnerungen von Ortsansässigen, historischen Fotografien und einzelnen Epochenräumen aus dem 19. Jahrhundert sind dort auch Designexperimente von The Grand Domestic Revolution zu besichtigen. In einer Art Schaufenster Richtung Innenhof sind verschiedene Gegenstände ausgestellt, die in den letzten zwei Jahren für Situationen gemeinschaftlichen Wohnens im Rahmen des Projektes entworfen und erprobt wurden. So wurde etwa vom Centre for Cooperative Living ein Transportmechanismus für den Tausch von Balkon-Gemüse zwischen verschiedenen Wohnungen entwickelt. Allerdings kam es aufgrund mangelnden Interesses der NachbarInnen offenbar kaum zum Einsatz. Nun ist das Gerät im Außenschaufenster des Quartiermuseums ausgestellt. Neben anderen Kommunikations- und Tausch-Hilfsmitteln sowie demontierten Einrichtungsgegenständen ist der Mechanismus, der wie ein verlängerter Fahrrad-Antrieb ohne Rahmen aussieht, hinter Glas zum Ausstellungsgegenstand geworden (Abb. 3).

Abb. 3: Installationsansicht, The Grand Domestic Revolution, Sepake Angiama, Sam Causer & Doris Denekamp, Centre for Cooperative Living, 2010.

Zweideutige Gegenstände

Die Dinge sind hier zwar nur vorübergehend, aber dennoch sehr sorgfältig in einem Schaukasten platziert. Sie sind öffentlich zwischengelagert, allerdings wird ihr aktivistischer Einsatz wohl in den meisten Fällen mit der Projektlaufzeit von The Grand Domestic Revolution beendet sein. Die aufliegenden Orientierungskarten zum Ausstellungsparcours enthalten eine Legende, in der die Exponate systematisch verzeichnet sind. Zwar trägt dieser Transfer von Gebrauchsgegenständen, die im Rahmen des Projektes hergestellt und erprobt wurden, Züge einer volkskundlichen Musealisierung des Alltags wie beispielsweise in einem Heimatmuseum, wo auch ein Teil der Ausstellung stattfindet. Spuren eines früheren Gebrauchs können in musealer Umgebung ‚vermittelt’ und ‚vorgestellt’ werden. Jedoch ist keinesfalls klar, ob diese Gegenstände dauerhaft in diese neue Funktion übergeführt, also musealisiert wurden. Es ist wahrscheinlich, dass die meisten Objekte wohl nach der Ausstellungsdauer entweder entsorgt oder in anderen (Gebrauchs)Zusammenhängen wieder auftauchen werden.

Möbel und andere Gebrauchsgegenstände aus der häuslichen Sphäre werden in der Präsentation von The Grand Domestic Revolution als zweideutige Dinge platziert: eingebettet in Displays unterschiedlicher Ausstellungszusammenhänge sowie als Element einer Erzählung über eine alternative Lebenspraxis, die mit diesen Dingen umgeht.

Die Zweideutigkeit von Mobiliar lässt sich jedoch nicht nur in Ausstellungssituationen wahrnehmen, sondern ist auch in der Geschichte seiner Herstellung und Verwendung (in Europa vor allem ab dem 15. Jahrhundert) wiederzufinden: Nachdem Möbel etwa in Form von Reisetruhen oder Schränken auch ortsungebunden Verwendung fanden, integrierte man sie in repräsentative Ausstellungssituationen, wo sie wechselnden Öffentlichkeiten präsentiert wurden. Da solche Objekte entsprechend aufwändig von KunsthandwerkerInnen und KünstlerInnen verarbeitet wurden und bald eine regelrecht auf Kunstmöbel spezialisierte Handwerksbranche entstand, ist dieser Modus des Ausstellens nicht nur Nebeneffekt, sondern integraler Bestandteil in der medialen Geschichte des Möbels. Ab dem 16. Jahrhundert finden sich aufwändig gestaltete Kabinettschränke in den Sammlungsräumen von Kunst- und Wunderkammern wieder – Möbel ordnen Fundstücke einer Sammlung damit in ein persönliches Wissenssystem ein und dienen gleichzeitig der Repräsentation.[3] Das Möbel als Ablageort und Stauraum ist dabei völlig mit dem Display identisch. Unterschiedliche Display- und Stauraumfunktionen werden dabei durch die offenen oder geschlossenen Ebenen des Kabinettschrankes auch in einem materiellen Sinne markiert und können gleichzeitig als Ereignis vor Publikum aufgeführt werden. Die zweideutige Eigenschaft der historischen Kabinettschränke, gleichzeitig Display und Stauraum zu verkörpern, integriert dabei die herkömmliche Funktion des Möbels.

Trix und Robert Haussmann im Möbelgeschäft teo jakob (Bern, 1987)

Abb. 4: Trix und Robert Haussmann, Ausstellungsansichten im Möbelgeschäft teo jakob, Bern, 1987.

Auf dem Weg durch das Berner Möbelgeschäft teo jakob ist man im Jahr 1987 hauptsächlich Hindernissen begegnet – zumindest scheint dieser Gedanke bei der Ausstellungsplanung von Trix und Robert Haussmann als Leitmotiv gedient zu haben. Dort wird der Brückenschreibtisch, der Säulenschrank und die Mauerkommode mitten in einem langgestreckten Verkaufsraum präsentiert (Abb. 4, links unten). Die auf 15 Exemplare limitierten /objekte/ sind aus den trocken als Lehrstücke betitelten Experimenten der Haussmanns  zwischen 1977 und 1984 für den Möbelhersteller Röthlisberger entstanden und werden bei teo jakob keinesfalls als Einrichtungsvorschlag installiert, wie man es eigentlich von einem Möbelgeschäft erwarten würde. Hier wird keine Wohnsituation nachgebaut und es bietet sich auch kein übersichtlicher Blick über die Produktpalette des Möbelhändlers teo jakob. Im Gegenteil: Hintereinander aufgebaut und als freistehende Objekte im Raum platziert, ist es nur möglich, sich von einer Möbel-Mauer zur nächsten zu bewegen. Obschon einzelne Objekte ausgestellt sind, wirkt sich ihre gesamte Anordnung  massiv auf den umgebenden Raum aus – was auch die freie Sicht und Durchgangsmöglichkeiten spürbar einschränkt. Trix und Robert Haussmann „mauern“ die engen Verkaufsräume mit den vermeintlich architektonischen Fragmenten vergangener Jahrhunderte zu. Die erstmals für eine Ausstellung in Mailand 1981 als kritischer Manierismus[4] betitelte Gruppe von Arbeiten knüpft an die Zweideutigkeit historischer Kabinettschränke an, es existieren sogar motivisch direkte Verweise. So findet man das Bildprogramm eines süddeutschen Kabinettschrankes aus dem späten 16. Jahrhundert,[5]dessen Türen und Schubladen mit Intarsien platonischer Körper  verziert sind, ebenfalls bei einer limitierten Serie von Intarsienmöbeln der Haussmanns aus den frühen 1990er Jahren wieder (Abb. 5 und 6).

Abb. 5: Kabinettschrank Süddeutschland, erstes Viertel 17. Jahrhundert.

Die schon früh auf Display und Vermittlung ausgerichteten Eigenschaften von Möbeln werfen mediale Fragen auf, an die Trix und Robert Haussmann sicher nicht von ungefähr in den späten 1970er Jahren wieder anknüpfen. Die Oberflächen suggerieren Naturstein und greifen die Typologie von stabilisierenden Elementen wie Säulen oder Brücken auf, sind aber tatsächlich aus Oliveneschen-Maser mit Farbbeschichtung gefertigt. Die Einzelschau des Designduos lehnt sich eher an das museale Format der monographischen Wechselausstellung als an die üblicherweise gemischte Präsentation des Möbelhändlers an. Der Moment des Ausprobierens in einem imaginären Wohnraum – eine Absicht, mit der man ein Möbelhaus vielleicht betritt – rückt bei Trix und Robert Haussmann stark in den Hintergrund. Eine Kritik an der Zitat- und Aneignungskultur der 1970er und 1980er Jahre, die Baudrillard mit den Vorzeichen der Simulation versehen hat? Oder vielmehr ein hemmungsloses Monument für eben jene, lieferbar in limitierter Auflage fürs eigene Wohnzimmer?

Abb. 6: Trix und Robert Haussmann, aus der Kollektion Intarsia II.

Man könnte die raumgreifende Installation der Haussmanns auch als Kommentar auf die Musealisierung der Disziplin Design lesen, die mit Alessandro Mendini und später Ron Arad begann, sich radikal von der Orientierung an modernen Klassikern abzulösen und als zeitgenössische Ausstellungsdisziplin zu etablieren. Es sind bereits die Abziehbilder von historischen Architekturbezügen, die auf keine konkreten historischen oder stilistischen Referenten mehr verweisen. Will man hier von Aneignung sprechen, so würde ich mit Douglas Crimp diesen Umgang mit Vor-Bildern als „Aneignung der Aneignung“[6] bezeichnen. Einen Begriff, den Crimp für postmoderne Kunst und Architektur geprägt hat, die sich in Arbeiten der 1980er Jahre – man denke an Sherrie Levine, Richard Prince oder Frank Gehry – bereits durch die visuelle Kultur (Werbung, Medien, Kunst et cetera) geprägtes Material aneignen und nicht direkt historische Stile zitieren.

Alicia Framis im migros museum für gegenwartskunst (Zürich, 2000)

Abb. 7: Alicia Framis, Bloodshushibank, migros museum für gegenwartskunst, Zürich, 2000.

Auf der runden Plattform von Alicia Framis (Bloodsushibank, 2000) kann man bei einer Krankenschwester Blut spenden und sich danach eine Sushi-Mahlzeit servieren lassen (Abb. 7). Für jede Tätigkeit ist ein Abteil auf der Plattform abgetrennt. Diese Einladung zur Nutzung und Teilnahme an Infrastrukturen und Ereignissen wird in Kunstausstellungen der 1990er Jahre mit Hilfe von Design-Verweisen öfters explizit ausgesprochen, in vielen Fällen sogar vom Publikum gefordert. Um die Bühne von Alicia Framis herum stehen weiße, gepolsterte Sitzflächen bereit, von denen aus das Geschehen auch aus einer gewissen Distanz heraus beobachtet werden kann. Das Design erinnert an Business Lounges an Flughäfen oder Lobbies von Werbeagenturen. In ihrem kühlen, medizinischen Weiß strahlt die Installation jedoch gleichzeitig die formale Strenge moderner Kunstmuseen ebenso wie die Asepsis von Krankenhäusern aus. Eine großformatige Fotografie kombiniert die saubere Bildsprache zeitgenössischer Foodfotografie – Sushi-Rollen auf einem Leuchtkasten – mit einer kontaminierenden Blutspur und der klaren Aufforderung der Künstlerin: „Quiet Please!“ Nicolas Bourriaud hat für diese künstlerische Generation den Begriff der Esthetique Relationelle geprägt. „The possibility of a relational art (an art taking at its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context, rather than the assertion of an independent and private symbolic space) points to a radical upheaval of the aesthetic, political and cultural goals introduced by modern art.“[7] Bourriauds vielzitierter – und in den vergangenen Jahren auch vermehrt kritisierter – Entwurf eines radikalen Paradigmenwechsels der Kunst vom „symbolischen Raum“ zur sozialen Interaktion sagt jedoch weder etwas über die Qualität der Beziehungen aus, die dort entstehen (sollen), noch verzichten seine künstlerischen Beispiele auf die Herstellung „symbolischer Räume“. Claire Bishop hat diese Verkürzungen Bourriauds bereits 2004 kritisiert: Der Künstler oder die Künstlerin vollziehe die ökonomischen Veränderungen von der industriellen Produktion zur Dienstleistungsgesellschaft nach und werde schließlich in dieser „service-based economy“ der Esthetique Relationelle zum „artist-as-designer“, so Bishop.[8]  Kunst greift hier gerade einen Gebrauchsaspekt des Designs auf, den Design in seiner Ausstellungspraxis in den 1980er Jahren zunehmend hinter sich gelassen hat und reflektiert bereits einen auf Dienstleistungen erweiterten Designbegriff.

Vermittlung aus-/einschalten

Abb. 8: Ausstellungsplakat, The Grand Domestic Revolution, Casco, Utrecht 2011, Design: Julia Born und Laurenz Brunner.

Aktivistische Ausstellungen der Gegenwart wie The Grand Domestic Revolution (Utrecht, 2011), bei denen Design als aktivierendes Element für soziale Veränderungen eine tragende Rolle spielt, knüpfen an das Designverständnis der Esthetique Relationelle an. Allerdings tritt The Grand Domestic Revolution mit einer völlig anderen Auffassung von Teilnahme an ihr Publikum heran: Der aktionistische Umgang mit Design wird weitgehend innerhalb eines spezialisierten Projektteams gepflegt, das innerhalb eines längeren Zeitraums (circa drei Jahre) dafür zusammengearbeitet und teilweise auch zusammen gewohnt hat (Abb. 8). Als BesucherIn hat man die Möglichkeit, die eigens produzierte Soap zu schauen, die unterschiedlichen Ausstellungsorte zu besuchen oder einzelnen Aktionen beizuwohnen. Das Publikum wird also im Gegenteil zu den Dienstleistungen der Esthetique Relationelle im Ausstellungsraum nicht zum Mitmachen und Dabeisein aufgefordert (sieht man einmal von speziellen Veranstaltungen wie etwa Workshops ab), sondern zur Rezeption der vermittelten Ausstellungsdisplays und Medienformate. Die Spuren früherer Aktivitäten gleichen strukturell den musealen Artefakten, die heute von den „Dienstleistungen“ der Esthetique Relationelle in Sammlungen übrig geblieben sind. Hier stellt sich die für Museen noch offene Frage nach dem Modus der Präsentation, nach Aktualisierung oder Konservierung nicht nur von Artefakten, sondern vor allem des Konzepts sozialer Dienstleistungen vor dem Hintergrund einer inzwischen völlig veränderten gesellschaftlichen Situation – ein Problem, auf das Judith Welter bereits am Beispiel der Sammlung des migros museum für gegenwartskunst aufmerksam gemacht hat.[9] Die Plötzlichkeit, mit der man als „relationales Publikum“ entgegen der Konventionen des Ausstellungskontexts zur Teilnahme aufgefordert wurde, liegt nicht mehr im Mittelpunkt aktueller Ausstellungen – vielleicht auch deshalb, weil diese Aufforderungen seit den 1990er Jahren selbst wieder zu einer Konvention des Ausstellungsbetriebs geworden sind. Trotz des aktionistischen Designverständnisses verzichtet The Grand Domestic Revolution ebenso wenig auf Design als museale Ausstellungsdisziplin: Ruth Buchanan bezieht sich sowohl in ihren früheren Arbeiten mit modernistischem Design am selben Ausstellungsort (zum Beispiel einer Führung durch das Rietveld-Schröder-Haus im Rahmen ihres Projektes Nothing Is Closed – Lying Freely Part I, Utrecht 2009) als auch in ihrem aktuellen Ausstellungsdesign von The Grand Domestic Revolution (gemeinsam mit Andreas Müller) auf bereits musealisierte Klassiker der kulturellen Disziplin Design.

Trotz aller Differenzen zu den sozialen Situationen der Esthetique Relationelle wird in The Grand Domestic Revolution seitens des Kunstkontexts eine ebenso große Hoffnung auf Design gesetzt, um die Abgrenzung zwischen Kunst- und Lebenserfahrungen zu überbrücken, wenn nicht sogar für einen bestimmten Moment auszuschalten. Design wird im zeitgenössischen Kunstkontext bei seinem Aufforderungscharakter angerufen, um den Schein der vermittelten Ausstellungssituation zugunsten eines Handlungsimpulses mit erhoffter sozialer Breitenwirksamkeit zumindest temporär aufzuheben. Die gemeinsame Verabredung (und teilweise das gemeinsame Wohnen) in der Produktionsphase des aktionistischen Projekts produziert in vielen Projekten einen ähnlichen Klang und bevorzugt mit Ausnahme von Buchanans/Müllers Ausstellungsdesign einen Do-it-yourself-Look. The Grand Domestic Revolution neigt dazu, Design als Ausstellungsdisziplin wieder auf bloß modernistisch-dienendes – als Gebrauchsgegenstand und Werkzeug zur gesellschaftlichen Veränderung – zu verkürzen. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch an den Referenzen des Ausstellungsdesigns. Damit wird eine selbstreferenzielle Entwicklung des Designs als Ausstellungsdisziplin, wie sie sich zum Beispiel in den 1970er Jahren mit Ausstellungen von Alessandro Mendini, Studio Alchemia und nicht zuletzt Trix und Robert Haussmann angekündigt hat, weitgehend ignoriert – eine Beobachtung, die sich besonderes im aktivistisch programmierten Kunstkontext heute vielerorts machen lässt und auch in aktuellen Debatten um gesellschaftliche Relevanz von Design in Richtung „agency“ dominiert. Im Anschluss an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie,[10] die Handlungen immer als Zusammenwirken verschiedener menschlicher oder dinglicher „Aktanten“ auffasst, ist der „agency“-Begriff im Kontext von Designdiskursen auffallend populär geworden. Insbesondere Tom Holert tritt dabei für Design als eine Kraft ein, die nicht nur versucht, sich möglichst nützlich in die Gesellschaft einzufügen, sondern auch im politischen Sinne neue Rahmenbedingungen schafft.[11]  „Agency“ meint dabei weniger das durch einen Gegenstand ausgelöste Handeln, sondern ausdrücklich ein politisches Handeln für eine bessere Gesellschaftsordnung. Natürlich bietet Design eine gute Gelegenheit, über diese Themen zu sprechen, da es selbst oft Fragen nach „agency“ stellt. Jedoch wirkt es befremdlich, wenn mittels Design versucht wird, den „Vermittlungsfaktor“, das Dispositiv des Ausstellens, gerade im Ausstellungskontext auszuschalten.

Die Zweideutigkeit der Warenpräsentationen, wie sie Benjamin in den Passagen des 19. Jahrhunderts auffällt, wird in Designreferenzen und Display-Gestaltungen der Kunst plötzlich als gemeinsame Geschichte zwischen Design und Kunst unter geteilten ökonomischen Umständen erfahrbar. Diese ausgestellte Zweideutigkeit des Designs als Ausstellungsdisziplin wurde besonders mit experimentellen Positionen der 1970er und 1980er Jahre wie Mendini, Trix und Robert Haussmann, Memphis und anderen erkundet und reflektiert und ist seitdem auf viele Arten in Ausstellungen und Displays von KünstlerInnen thematisiert worden. Designbezüge in der Kunst können meines Erachtens jedoch nur unter Berücksichtigung ihrer Vermitteltheit in Ausstellungszusammenhängen der Kunst einen weiterführenden Diskurs anstoßen, der sich als ästhetischer versteht. Das mag zunächst trivial klingen, scheint aber angesichts polemisch-totaler Zurückweisung einerseits oder pauschaler Politisierung andererseits eine wichtige Bedingung für diesen Diskurs zu sein. Dass die Zweideutigkeit des Designs im Ausstellungsmoment nie völlig in Richtung eines (vorgestellten) Gebrauchs in privater Umgebung und dem öffentlichen Präsentieren einer „Dingpolitik“[12] (Bruno Latour) aufgehoben werden kann, macht genau seine Spannung in diesen Situationen aus.


Die Arbeit an diesem Essay wurde im Rahmen des Projekts „Prototyp II“ am Institut für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste (2010–2011) vom Programm DORE des Schweizer Nationalfonds großzügig unterstützt. Der besondere Dank des Autors gilt auch den Archiven des migros museum für gegenwartskunst, Zürich sowie teo jakob, Bern.

[1] Huber/Meltzer/Munder/von Oppeln (Hg.), It‘s Not a Garden Table, Zürich 2011, S. 28 und 56.
[2] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. 1982, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Werke, Band V 2, Frühe Entwürfe, Pariser Passagen II, S. 1050.
[3] Virginie Spenlé, Der Kabinettschrank und seine Bedeutung für die Kunst- und Wunderkammer des 17. Jahrhunderts, in: Hackenschmidt/Engelhorn (Hg.), Möbel als Medien, Bielefeld 2011, S. 69 ff.
[4] Studio Marconi/Documenti 5, Trix und Robert Haussmann, Manierismo critico / progetti, oggetti, superfici, 19 Maggio 1981, Mailand 1981.
[5] Kabinettschrank Süddeutschland, Erstes Viertel 17. Jahrhundert, beschrieben in: Edla Colsman, Möbel: Gotik bis Jugendstil, Die Sammlung des Museum für Angewandte Kunst Köln, Stuttgart 1999, S. 132.
[6] Douglas Crimp, Über die Ruinen des Museums, Basel/Dresden 1996, S. 141 ff.
[7] Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon/Paris 2002, S. 14.
[8] Claire Bishop, Antagonism and Relational Aesthetics, October 110, Cambridge/MA 2004, S. 51–79.
[9] Judith Welter, Interieur als narratives Format, in: Huber/Meltzer/Munder/von Oppeln (Hg.) 2011, S. 250 ff.
[10] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2008.
[11] vgl. Tom Holert, Distributed Agency, Designs Potentiality, London 2011.
[12] Bruno Latour., From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public, in: Bruno Latour/Peter Weibel (Hg.), Making Things Public-Atmospheres of Democracy, Cambridge (MA) 2005, S. 4–31.

Quellennachweis: Burkhard Meltzer, Der Vermittlungsschalter, Ausgestelltes Design zwischen Aktivismus und Zweideutigkeit, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL:http://allover-magazin.com/?p=1081.

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Raum im Fluss

Materialströme

Wählte man ein oder zwei ganz spezifische Ansichten von Richard Serras Dirk’s Pod[1] (2004) und würde diese dem Signet von Novartis, auf dessen „Campus des Wissens“ in Basel die Skulptur installiert ist, gegenüberstellen, so könnte man eine gewisse formale Ähnlichkeit zwischen dem Firmenzeichen und der Skulptur erkennen: zeigen doch beide die Kombination mehrerer vertikaler, zum Teil geschwungener Linien (Abb. 1–2). Allerdings führt die Reduktion von Serras dreidimensionalem Werk auf eine einzelne fotografische Abbildung radikal an dessen wesentlichen Eigenschaften vorbei. Zusätzlich spricht streng genommen auch ein werkhistorisch-formales Argument gegen diesen Vergleich. Nichtsdestotrotz führt die Gegenüberstellung, wie noch zu sehen sein wird, zu einem zentralen Aspekt der Skulptur: der Bedeutung des Motivs von Fluss und Fließen.

Abb. 1: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von Norden), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.
Abb.2: Signet der Novartis AG.

Abb. 3: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von der Fabrikstraße [von Süden]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Spätestens seit den 1970er Jahren ist Serras skulpturales Werk durch eine Vielzahl divergierender Ansichten gekennzeichnet, die in einem peripatetischenWahrnehmungsprozess in der Zeit erfahren werden müssen. Dies trifft auch auf Serras Skulptur auf dem Novartis Campus zu. So ist beispielsweise bei einer Annäherung von Süden zunächst nur eine Gruppierung von gebogenen, rot-braunen Stahlkörpern zu erkennen, deren Anzahl und konkrete Gestalt nicht fassbar sind (Abb. 3). Erst im weiteren Verlauf der Annäherung rücken die schmalen, passierbaren Räume zwischen den Körpern in den Blick, es eröffnen sich Durchblicke auf die Formen selbst sowie auf die Treppe der Unterführung dahinter. Im Verlauf einer Begehung werden beständig einzelne Körper verdeckt und tauchen erneut auf. Je nach Standpunkt entsteht ein gänzlich unterschiedlicher Eindruck von Form und Dimensionen der Körper: Mal erscheinen die Körper schmal und kurz, dann präsentieren sie sich wieder als lang und flächig (Abb. 4).

Abb. 4: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von Osten), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Robert Polidori.

Die Synthese der gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen zu einer einheitlichen Vorstellung von Dirk’s Pod wird verweigert, weshalb auch ein fotografisches Einzelbild dem Werk nicht gerecht werden kann. Es bedarf der Bewegung und einer gewissen Zeit, bis die Erkenntnis reift, dass es sich um fünf identische Körper handeln muss, die um 180° verdreht zueinander installiert wurden. Zudem ist die Erfahrung von Dirk’s Pod eine unmittelbar leibliche: Die Materialität des tonnenschweren Stahls, die Dimensionen der fünf Meter hohen und über 14 Meter langen Stahlkörper, die Neigung aus der Lotrechten oder auch die Enge und Weite der unterschiedlichen Raumformen werden in der Begehung in Relation zum eigenen Leib erfahren, sodass die wesentlichen Aspekte der Arbeit nur vor Ort erlebt werden können, aber nicht abbildbar sind.

Abb. 5: Torus.

Formal besteht Dirk’s Pod aus einer Gruppe von fünf länglichen und an den Enden spitz zulaufenden Skulpturkörpern, die jeweils aus zwei gebogenen Stahlplatten bündig zusammengesetzt sind. Hinsichtlich ihrer Abgeschlossenheit und Körperhaftigkeit unter Verwendung von mehrdimensional gekrümmtenStahlplatten kommt hier ein neuartiges Formenvokabular innerhalb von Serras Œuvre zum Einsatz. Zuvor waren seine aus Stahlplatten bestehenden Arbeiten immer durch Offenheit gekennzeichnet und konnten betreten werden. Serra hat sein neues Vokabular allerdings bereits vor der Realisierung von Dirk’s Pod entwickelt: Er setzte es in Union of the Torus and the Sphere (2001), New Union (2003), Double Torus (2003) und Wake (2003) ein. Zudem generierte er die Form der im Aufriss S-förmigen Stahlplatten, aus denen die Stahlkörper von Dirk’s Pod zusammengesetzt sind, aus einer besonderen mathematischen Fläche: der Figur des Torus. Der „double torus“[2], wie Serra diese Platten bezeichnet, ist solcherart von der geometrischen Form des Torus abgeleitet, als dass zwei unterschiedliche Torussegmente übereinander in ein- und derselben Platte enthalten sind (siehe a und b in Abb. 5), wobei ein Segment um 180° gedreht auf das andere gesetzt wird. In den Stahlplatten gehen diese beiden Abschnitte fließend ineinander über, das heißt, eine Platte bildet vertikal übereinander eine konvexe und eine konkave Wölbung aus, horizontal ändert sich dagegen die durchgängig konvexe Krümmung nicht.

Eine formale Ähnlichkeit zwischen Dirk’s Pod und dem Novartis-Signet kann sich also, wie diese Betrachtung zeigt, nur indirekt ergeben haben. Trotzdem führt der Vergleich auf einer abstrakteren Ebene zur Thematik von Fluss und Fließen, mit der die zentralen Charakteristika von Serras Skulptur gefasst werden können. Im Firmenlogo verweisen die farbigen, teils geschwungenen Formen auf Bewegung und gleichzeitig ruft die Gesamtkomposition der drei Formen Assoziationen mit Laborbehältnissen für chemische Flüssigkeiten wie beispielsweise Glaskolben hervor. Als ein Kernelement in der Repräsentation von Novartis vermag das Motiv von Fluss und Fließen auf die chemische Produktion des Biotechnologie- und Pharmaunternehmens hindeuten, die man auch als Regulierung von Materialströmen und Fließbewegungen zueinander begreifen könnte. Im Falle von Dirk’s Pod sind es nicht nur die weich fließende Form der Körper und die schwarm- beziehungsweise schulenartige Gruppierung der Elemente, die auf das Motiv des Fließens rekurrieren.[3] Die Arbeit strukturiert darüber hinaus an ihrem Aufstellungsort – einem der Eingänge zum Novartis Campus – den Raum ausgehend vom Bewegungsfluss der Belegschaft. Des Weiteren liegt der Skulptur eine Raumkonzeption zugrunde, die den Raum als Material denkt und diesen als etwas in Bewegung Befindliches und damit auch Verzeitlichtes vorstellt. In dem Flüchtigkeit, Bewegung, Prozess und Veränderung implizierenden Thema der Skulptur wird gleichzeitig eine Vorstellung von Transformation versinnbildlicht. Daraus ergibt sich schließlich die Frage, wie sich dieses Werk zu den auf dem Novartis Campus vollzogenen Veränderungen in der Arbeitswelt und den Umwälzungen von materieller Produktion zu kognitiven Wissensprodukten verhält.

Bewegungsfluss

„Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“[4]

Die Skulptur Dirk’s Pod befindet sich im Norden des Firmengeländes von Novartis in Basel und wurde im Rahmen der umfassenden Umwandlung des ehemaligen Werkareals in einen „Campus des Wissens“ auf dem sogenannten „Swiss Place“ am Ende der repräsentativ ausgebauten Fabrikstraße errichtet (Abb. 6). Der Installationsort liegt direkt an einem Zugang zum Gelände, denn hier besteht mittels einer Unterführung ein Durchgang zum Parkplatz und ein Übergang über die Grenze nach Frankreich. Die Skulptur ist also dergestalt am „Swiss Place“ installiert, dass die Passierenden in unmittelbarer Konfrontation aufgefordert sind, sich mit dem eigenen Körper aktiv zur Körperhaftigkeit der Skulptur zu verhalten. Ob die Skulptur umschritten oder durchschritten wird, in jedem Fall wird der Weg in bewusster Bezugnahme zur Gruppierung fortgesetzt.[5] Dirk’s Pod funktioniert wie eine Passage und antwortet damit auch auf die vorgelagerte Passage der Unterführung.[6] Der „Swiss Place“ als transitorischer Ort zwischen dem Kernbereich des Firmenareals, der Fabrikstraße, und der Unterführung, die zum ‚Außerhalb‘ führt, wird durch die Skulptur als Verbindungs-, Vermittlungs- und Verteilungsort definiert.[7]

Abb. 6: Richard Serra, Dirk’s Pod (Grundriss), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Lageplan: Uwe Pickhan, Pickhan Engineering GmbH, Siegen.

Richard Serra hat die einzelnen Körper so positioniert, dass sie die menschlichen Bewegungsverläufe an diesem Ort lenken. Zum einen nimmt die Formation diejenigen auf, die von der Unterführung kommend das Areal betreten (Abb. 7). Hier erfolgt eine abrupte, unvorhersehbare Konfrontation. Von unten kommend ist zunächst nur der obere Bereich der Stahlformen zu sehen, kontinuierlich wird mehr von den Einzelkörpern sichtbar. Ist man oben an der Treppe angekommen, befindet man sich bereits inmitten der Skulptur, welche nun die Bewegung in Richtung Fabrikstraße lenkt. Dabei ist vor allem die Gruppierung der Stahlkörper in einer pfeilähnlichen Anordnung richtungsleitend (vgl. Abb. 6). Indem die Anzahl der Körper und damit die Breite der Formation zur Fabrikstraße hin abnimmt und in einen Stahlkörper mündet, der exakt in der Mittelachse der Fabrikstraße positioniert wurde, leitet Dirk’s Pod die passierenden MitarbeiterInnen entlang der Stahlformen – sei es durch die Gruppe hindurch oder außen vorbei – auf die bauliche und funktional zentrale Achse des Campus. Die Anordnung der Körper gleicht dabei die seitlich zueinander verschobenen Achsen von Unterführung und Fabrikstraße aus. Zusätzlich forciert wird die Aufnahme der das Areal Betretenden von der Skulptur dadurch, dass der nördlichste Körper so platziert wurde, dass dieser im Osten die Treppe umschließt und abschirmt (vgl. Abb. 6).

Zum Zweiten lenkt Serras Werk auch in der entgegengesetzten Richtung die Bewegungen von der Weiträumigkeit des „Swiss Place“ und den drei auf den Platz zulaufenden Straßen zur Unterführung. In dieser Bewegungsrichtung fungieren vornehmlich die Zwischenräume als leitend für die Bewegung. Je nachdem von welcher Straße Passierende auf den Platz mit der Formation stoßen, sei es von der Fabrikstraße oder sei es von einer der beiden kleineren Querstraßen, treffen sie zunächst auf einen Stahlkörper (insbesondere auf die Körper 3 und 5, vgl. Abb. 6) und es bestehen nun mehrere Möglichkeiten, die Skulptur zu durchschreiten. Ist die Formation betreten, werden sie so geleitet, dass sie in dem weiteren Bereich (zwischen den Körpern 2, 1 und 4, vgl. Abb. 6) auf der nördlichen Seite der Skulptur aus der Gruppe heraustreten und sich direkt vor der Unterführung befinden. Bewegungen von der Fabrikstraße können entlang der Längsausrichtung der Formen in gleicher Richtung fortgeführt werden. Passierende, die sich von der Querstraße oder aus dem angrenzenden Gebäude dem Platz nähern, werden dagegen mit den breiten Längsseiten der Formen konfrontiert und in ihrer Bewegungsrichtung um 90° umgelenkt. Eine gerade Bewegung auf der Querstraße über den Platz hinweg wird durch Dirk’s Pod verhindert.

Abb. 7: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von der Unterführung [von Norden]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Richard Serra beschreibt die Raum- und Bewegungsstrukturierung wie folgt:

„Der Standort der Skulptur ist durch die Anordnung ihrer fünf Körper topologisch so gegliedert, dass das Werk die Funktion eines Durchgangs, eines Filters, eines Trichters oder auch eines Einganges vom Fußgängertunnel auf den Campus hat.“[8]

Interessant ist hier insbesondere die Beschreibung von Dirk’s Pod als Trichter, denn dieser stellt eine Verbindung zwischen zwei Räumen dar und regelt auf eine spezifische Weise den Austausch zwischen diesen. Die Eigenschaft eines Trichters ist es, gestreute Bewegungsrichtungen und -flüsse zu einer Verengung hin zu bündeln und durch diese hindurch zu ermöglichen. Dass in der Skulptur kein Trichter im engeren Sinne vorliegt, ist offensichtlich, dafür ist die Struktur zu offen gestaltet und es verbleiben mehrere, auch ausweichende Bewegungsmöglichkeiten. Verabschiedet man sich vom konkreten Bild des Haushalts- und Laborgegenstands, so kann man dennoch in Bezug auf die Bewegungslenkung von Dirk’s Pod eine Funktionsweise in Ähnlichkeit zu einem Trichter konstatieren, denn gleichwohl findet durch Dirk’s Pod auf dem „Swiss Place“ eine Kanalisierung von Bewegungsflüssen über Engstellen als Verbindung zwischen zwei Räumen statt und dies entlang beider Bewegungsrichtungen.

Indem Dirk’s Pod die Relation zweier Räume zueinander definiert und strukturiert, manifestiert sich ein der Arbeit zugrundeliegendes topologisches  (relationales) Raumdenken.[9] Es liegt eine Lenkung der Bewegungsströme zwischen den zwei Räumen – dem Campus und dem ‚Außerhalb‘ – vor. Das topologische Raumdenken ist hier folglich über die Bewegungserfahrung vermittelt. Diese Betrachtung zeigt weiter, dass Dirk’s Pod nicht von einer Raumkonzeption ausgeht, in der Raum gegeben und konstant vorhanden ist, sondern erst durch stattfindende Bewegungen, in diesem Fall durch einen Bewegungsfluss auf, von und zu diesem Areal, konstituiert wird. Da die Menschenbewegung durch die Skulptur als Bewegungsfluss konzipiert ist, richtet sich die Arbeit in erster Linie nicht an einzelne Personen, sondern an einen Menschenstrom, die Masse der MitarbeiterInnen.

Fließender Raum

Die Verwendung des Begriffs des Trichters von Serra mag darüber hinaus auch eine rhetorische Funktion erfüllen und dazu dienen, mithilfe des Motivs von Fluss und Fließen den Topos des fließenden Raumes aufzurufen. Im selben Text schreibt Serra entsprechend: „Geht man durch die Skulptur, wird man regelrecht physisch in die Kräfte des fließenden Raumes eingesogen, […].“[10] Das Denkbild des fließenden Raumes, welches als das kanonische Attribut der Architektur Ludwig Mies van der Rohes seinen Ausgang nahm, ist eine Bezeichnung für architektonische Raumgestaltung mit offenen Grundrissen, bei der die Grenze zwischen innen und außen nicht mehr einfach definiert werden kann.[11] Ist die Frage nach der Gestaltung von Grundrissen und dem sich darin ausdrückenden Verhältnis von innen und außen in Bezug auf Dirk’s Pod weniger von Relevanz, so hilft ein bereits für Mies van der Rohe vorgenommener Deutungsvorschlag der Figur des fließenden Raumes weiter, der das Ineinanderfließen des Raumes mit der Zeitdimension verbindet. Der fließende Raum wäre demnach ein dynamisierter und verzeitlichter Raum, der die Empfindungen anregt, den Raum selbst in Bewegung versetzt und auf diese Weise „ein künstlerisches Äquivalent des raum-zeitlichen Kontinuums“ darstellt.[12] Damit rekurriert der Topos des fließenden Raumes auf eine Raumvorstellung, bei der der Raum seinen absoluten Charakter verloren hat und nicht mehr als stabiler dreidimensionaler Behälter gedacht werden kann.[13]

Abb. 8: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht zwischen Körper 3 und 5 [vgl. Abb. 6], 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Roland Schär.

Durchschreitet man Dirk’s Pod, so verschiebt sich die Konzentration von den Körpern auf die Zwischenräume, die unterschiedliche Formen aufweisen.[14] Die Raumerfahrungen beim Durchschreiten der drei Passagenformen (Abb. 6) unterscheiden sich maßgeblich voneinander und regen jeweils zu verschiedenen Gehgeschwindigkeiten an.[15] Zwischen zwei Körpern, die sich zueinander neigen, entsteht ein enger Zwischenraum, beide Stahlwände wölben sich den Passierenden entgegen und evozieren eine starke Dynamik: Sie drängen sich auf und drücken die Gehenden förmlich durch die Verengung hindurch (Abb. 8). Befindet man sich dagegen zwischen zwei Formen, die sich voneinander weg lehnen, dann bieten diese mehr Platz und scheinen zurückzuweichen (Abb. 9). Diese Passage lädt eher zum Verweilen ein. Und schließlich bilden zwei sich in die gleiche Richtung lehnende Stahlkörper einen parallel verlaufenden, seitlich leicht gekippten Durchgang (Abb. 9). Beim Gang durch die geneigte Passage übt die nach außen gewölbte Stahlfläche einen subtilen Druck aus und Passierende tendieren dazu, ihren Gang anzupassen und näher entlang der konkav zurückweichenden Form fortzusetzen. Auf diese Weise erzeugt die Skulptur über verschiedene Zwischenräume heterogene Bewegungsgeschwindigkeiten. Diese Erfahrung stellt die Homogenität von Raum in Frage, ebenso wie eine Betrachterunabhängigkeit. Damit liegt mit dem fließenden Raum von Dirk’s Pod ein Raummodell vor, das Raum als eine von Geschwindigkeiten abhängige Pluralität denkt.[16]

Transformation

Befragt man Dirk’s Pod nach seiner Ortsspezifik (site specificity), so kann das Werk als ein Kontrapunkt oder Anti-Environment[17] zu seinem Standort charakterisiert werden. Die geschwungene und beweglich anmutende Formensprache der Stahlkörper kontrastiert in gleichem Maße wie die organisch wirkende Anordnung der Gruppe mit dem architektonischen Kontext des Novartis Campus nach dem Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani, der geprägt ist durch kubenförmige, rechtwinklige Architekturen in einer ebenso rechtwinkligen Rasterstruktur. Dirk’s Pod verhält sich so als Gegenakzent zu den rationalen Architekturen wie zur starren Form des Rasters und hebt damit gleichzeitig deren Eigenschaften hervor. Eine ähnliche Funktion kommt Frank O. Gehrys Gebäude Fabrikstrasse 15 (2006-09) auf dem Novartis Campus zu. Dieses weicht als einziges plastisch voluminös von den sonst herrschenden, geradlinigen Formen ab.

Abb. 9: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht zwischen Körper 4, 1 und 2 [von links nach rechts] [vgl. Abb. 6]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Das Konzept der Ortsspezifik hat Serra bereits früh auf seine Arbeiten bezogen und es war und ist prägend für alle seine Werke im Außenraum. In einem kritischen und bewussten Umgang mit dem Ort liegt für ihn das Potenzial von Skulptur.[18] Im Laufe der Zeit hat sich dabei Serras Definition des Ortes, zu dem sich seine Werke spezifisch verhalten sollen, erweitert. Umfasste der Ort für Serra 1980 in erster Linie den physischen Ort (als Platz oder „actual location“[19]), wie er durch die Architektur und die städtebauliche Situation gekennzeichnet ist, treten 2004 auch immaterielle Aspekte des Ortes hinzu:[20]

„Ich möchte dem Betrachter die Gegebenheiten des Standorts ins Bewusstsein rufen, seien sie privater, öffentlicher, politischer, formaler, ideologischer, ökonomischer, psychologischer, wirtschaftlicher, soziologischer oder institutioneller Art oder eine Kombination der verschiedenen Aspekte.“[21]

Diese Begriffsverschiebung fordert dazu auf, zu fragen, wie sich Dirk’s Pod zum Novartis Campus als einem ideologisch, ökonomisch und institutionell definierten Ort verhält. Es handelt sich um einen Ort, der Hauptsitz von einem der größten Pharmaunternehmen weltweit[22] ist und der sich derzeit vor dem Hintergrund des Wandels zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft in einer Umgestaltung von Werkareal und Produktionsort in ein „hochmoderne[s], funktionelle[s] und attraktive[s] Forschungs-, Entwicklungs- und Managementzentrum“ befindet und ein „optimale[s] Umfeld für Kreativität und Innovation“ bieten soll.[23]

In gewisser Weise ist es ein Paradox, dass Richard Serra, der auf anachronistische Weise den Untergang der Stahlindustrie begleitet,[24] gerade mit einer Skulptur für den postindustriellen „Campus des Wissens“ von Novartis beauftragt wurde. Damit führt Dirk’s Pod aber auch gleichzeitig die stattfindenden Transformationsprozesse und die historische Funktion des Areals vor Augen. Sinnfällig referiert allein schon das von Serra verwendete Material Cortenstahl mit seiner rostigen Oberfläche, das emblematisch für Industrie und Industrialisierung steht, auf die Vergangenheit des Campus als Werkareal mit industrieller Produktion. Insbesondere in Bezug auf die lyrischen Qualitäten der rot-braun changierenden Oberflächen von Dirk’s Pod lässt sich allerdings fragen, inwiefern hier in dem Moment, in dem die Fabrikation auf dem Areal verschwunden ist, eine Reminiszenz in einer ästhetisierten Form an die sonst verbannte Industrie vorliegt. Wie bisher gezeigt wurde, regen Form und Anordnung in Dirk’s Pod zur Assoziation einer Gruppe von Begriffen an – Fließbewegung, Geschwindigkeit, Pulsieren – über die eine produktionstechnische Dimension angesprochen wird. Insofern referiert Dirk’s Pod auch auf diese Weise auf die ausgelagerte Produktion und damit auf die materiellen und körperlichen Aspekte von Arbeit und versinnbildlicht die mit dem „Novartis Campus“-Projekt vollzogenen Transformationen.

Serras skulpturales Werk ist nicht repräsentativ am Haupteingang im Süden platziert, sondern an einem hauptsächlich für Beschäftigte vorgesehenen Eingang, den viele auf dem Weg vom Parkplatz zur Arbeit täglich passieren.[25] Gerade deshalb handelt es sich aber beim Ort der Installation um einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden, neuralgischen Scharnierpunkt des Campus. Der eigentliche Eingang, sozusagen das Werktor, das den Zugang reguliert, befindet sich kaum sichtbar in der Unterführung. Richard Serras Stahlskulptur bildet demgegenüber gleichsam das sichtbare Tor, das von einem Großteil der Belegschaft täglich durchschritten wird. Die Passierenden werden aktiviert und, wie bereits gesehen, zu unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten angeregt. So wird auf diese Weise Heterogenität in Form unterschiedlicher Bewegungsgeschwindigkeiten leiblich vermittelt. Silke von Berswordt-Wallrabe hat argumentiert, dass Dirk’s Pod, dessen Wahrnehmungserfahrung schwer rationalisierbar und durch Divergenzen und Diskrepanzen gekennzeichnet sei, auch im übertragenden Sinne im Gegensatz zum Ort des Novartis Campus als Firmen- und Forschungszentrale, in der es auf streng rationales Denken und logisch zielgerichtetes Vorgehen ankomme, stehe.[26] Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Idee einer Abhängigkeit der Erkenntnis vom Standort – wie sie Serras Skulptur vermittelt – ein Welt- und Wissensmodell verkörpert, das an einem Ort der postmodernen Wissensproduktion angemessen ist. In der veränderten Arbeitswelt des Campus ist nicht mehr jene Homogenität gefragt, wie sie im Rahmen der Mechanisierung und der industriellen Produktion als Anforderung an die ArbeiterInnen gestellt wurde. Insofern kann man die Induktion von Heterogenität, wie sie bei Dirk’s Pod stattfindet, auch als eine Form der Disziplinierung sehen, entsprechend den Anforderungen heutiger, avancierter Unternehmensführung. Einerseits würde sich, so gesehen, Dirk’s Pod auf dem Campus wie ein Instrument der Personalführung zur Anregung von Kreativität und Innovation verhalten. Passenderweise beherbergt, dieser Logik folgend, die plastische Architektur Gehrys das „Human Resources Department“, die Personalabteilung von Novartis. Andererseits vermag Dirk’s Pod in einer Anregung zur kritischen Reflexion auch die der Umgestaltung des Werkareals zum Campus zugrundeliegenden kreativitäts- und effizienzfördernden Prämissen offenzulegen und bewusst zu machen. Und so bleibt der Status von Serras Skulptur in seinem Verhältnis zum Installationsort ambivalent zwischen Affirmation und Kritik – oder bildlich gesprochen: im Fluss.


* Ich danke Friedrich Teja Bach und Gabriel Hubmann für wichtige Hinweise und Anregungen.
[1] Wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Siehe: Silke von Berswordt-Wallrabe (Hg.), Richard Serra. Dirk’s Pod, Göttingen 2004.
[2] Richard Serra, Dirk’s Pod. In Erinnerung an meinen Freund Dirk Reinartz/Dirk’s Pod. In memory of my friend Dirk Reinartz, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 17–27, hier S. 20u. S. 26.
[3] Auch die Benennung der Skulptur als „pod“ weist eine gewisse Nähe zu Wasser, Strömung und Fluss auf und zwar sowohl in Bezug auf die spezifische Form der Skulpturkörper als auch auf die Anordnung dieser. Denn einerseits werden stromlinienförmige Elemente an Flugzeugpropellern und Schiffsschrauben als „pod“ bezeichnet und andererseits werden im Englischen für die Bezeichnung von Wal- und Delphinschulen die Begriffe „whale pods“ beziehungsweise „dolphin pods“ verwendet.
[4] Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218.
[5] Vgl. Silke von Berswordt-Wallrabe, Zusammenhang und Diskrepanz. Mögliche Erfahrungen mit der Skulptur ‚Dirk’s Pod’ von Richard Serra, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 98–108, hier S. 101 f.
[6] Die Situierung von Dirk’s Pod in einem Eingangs-/Ausgangsbereich in Kombination mit einer unterirdischen ‚Verkehrs‘-Anbindung im weiteren Sinne (wie zum Beispiel Fußgängerunterführung, Autotunnel und Metroeingang) ist mit früheren Arbeiten, wie dem St. John’s Rotary Arc (1980) und der nicht realisierten Konzeption Curve, Project for Beaubourg (1975/76) vergleichbar.
[7] Von Berswordt-Wallrabe beschreibt den Ort als „Randzone“, „Ort des Übergangs, der Bewegung und des Austausches“. Von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 101.
[8] Serra 2004, S. 20.
[9] Zu topologischen Raumkonzeptionen und Bezügen auf topologische Konfigurationen in Serras jüngerem Œuvre siehe auch mein Dissertationsprojekt „Richard Serra. Topologische Konfigurationen“, Universität Wien sowie Sandra Beate Reimann, innen-außen. Topologisches Raumdenken in Serras Band, Sequence und Cycle, in: Olga Moskatova/Sandra Beate Reimann/Kathrin Schönegg (Hg.), Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013 (in Druck).
[10] Serra 2004, [Hervorhebung SBR], S. 21.
[11] Vgl. Ulrich Müller, Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, S. 91–99.
[12] Müller 2004, S. 96.
[13] Stephan Günzel, Einleitung (Physik und Metaphysik des Raumes), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 19–43.
[14] Richard Serra hat in seinem Œuvre vielfach Skulpturen geschaffen, die durchschreitbar sind und zwei oder mehrere differierende Durchgangsmöglichkeiten bieten und damit wie bei Dirk’s Pod unterschiedliche Raumerfahrungen gegenüberstellen, so z. B. bei Intersection (1992) auf dem Theaterplatz in Basel.
[15] Vgl. Serra 2004, S. 21.
[16] Zu modernen Raumkonzeptionen vgl. Michaela Ott, Raum, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 113–149, hier S. 134f.
[17] Serra 2004, S. 20.
[18] Richard Serra, Rigging, reeditierte Version (Erstveröffentlichung in Cover, January 1980), in:  Richard Serra/Clara Weyergraf, Richard Serra: Interviews, Etc. 1970–1980, The Hudson River Museum (Hg.), New York 1980, S. 119–131, hier S. 128.
[19] Miwon Kwon,One Place after Another. Notes on Site Specificity, in: October, Vol. 80, Spring 1997, S. 85–110, hier S. 85.
[20] Damit vollzieht Serra jene Verschiebung und Weiterentwicklung im Paradigma der site specificity, die Miwon Kwon von einem physischen Ort, zu einem sozial und institutionell bestimmten Ortsbegriff bis hin zu einem diskursiv gedachten Ort in den „site-oriented practices“ für die zeitgenössische Kunst im Allgemeinen beschrieben hat. Vgl. Kwon 1997.
[21] Serra 2004,  S. 20.
[22] 58,6 Milliarden USD Umsatz (2011) und 123.686 Beschäftigte (Ende 2011). Novartis  AG,  Geschäftsbericht 2011 der Novartis Gruppe, Basel 2012, S. 2. URL: www.novartis.com/annualreport2011  [27.06.12].
[23] Wolfdietrich Schutz, Veränderung der Arbeitswelt, in: Novartis International AG (Hg.), Novartis Campus. Eine moderne Arbeitswelt. Vorraussetzungen, Bausteine, Perspektiven, Ostfildern 2009, S. 38–42, hier S. 41.
[24] Dietmar Rübel, Fabriken als Erkenntnisorte. Richard Serra und der Gang in die Produktion, in: Michael Diers/Monika Wagner (Hg.), Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin 2010, S. 111–136, hier S. 116.
[25] Daniel Vasella, Eine Skulptur für den Campus des Wissens, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 7–11, hier S. 10. Beschreibung des „Swiss Place“ in: Vittorio Magnago Lampugnani, Freiräume: Anforderungen und Gestaltungsstrategien, in: Novartis International AG 2009, S. 106–117, hier S. 114.
[26]  Von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 106.

Quellennachweis: Sandra Beate Reimann, Raum im Fluss. Dirk’s Pod von Richard Serra, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1068.

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Editorial

All-over-Prinzip (engl. all over „über alles hinweg“), flächendeckende, traditionelle Regeln der Komposition negierende Gestaltungsweisen im Action Painting.
(Reclams Sachlexikon der Kunst)

„Über alles hinweg“ ist in gewisser Weise auch ein Prinzip der Publikation ALL-OVER und  so möchte die vorliegende Ausgabe die eine oder andere Grenze ins Auge fassen und auch überschreiten. Aus dieser Überlegung heraus ist unsere neue Rubrik „Grenzgänge“ entstanden, die gezielt Berührungsmomente zwischen unterschiedlichen Disziplinen, Tätigkeiten oder Orten aufspürt. Interessante Berührungszonen sollen aufgezeigt und ihre Akteurinnen und Akteure befragt werden. Mit der Künstlerin Barbara Graf haben wir über das Verhältnis von Kunst und Mode gesprochen und dabei nach der zentralen Rolle des Körpers in ihren Arbeiten gefragt.

Katharina Hermann denkt in ihrem Beitrag anhand der Kriterien von Funktion und Funktionslosigkeit am Schaulager von Herzog & de Meuron über die Grenze zwischen Kunst und Architektur nach. Tim Pickartz widmet sich hingegen der Frage nach dem Wechselspiel von Peripherie und Zentrum hinsichtlich der bevorstehenden dOCUMENTA (13) in Kassel. Das Großereignis in der deutschen Kleinstadt, das dieses Jahr unter der Leitung von Carolyn Christov-Bakargiev steht, wird mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Grenzen zwischen Kunst und Kontext auszuloten.

Jürgen Buchingers Auseinandersetzung mit dem Projekt The Atlas Group Archive des libanesischen Künstlers Walid Raad beschäftigt sich mit der Bedeutung von Nachträglichkeit als besonderem Modus zur Konstruktion historischer Ereignisse. Inwiefern ist damit die Möglichkeit der Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses für die Erfahrungen des Krieges gegeben?

Eine Sprachgrenze überbrückt ALL-OVER erstmals mit einer Ausstellungsbesprechung in englischer Sprache von Tessel M. Bauduin. Die in Amsterdam lebende Autorin analysiert die Ausstellung L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750-1950, die zunächst im Musée d’Art Moderne et Contemporain in Strasbourg gezeigt wurde und demnächst im Zentrum Paul Klee in Bern zu sehen sein wird.

Neues Territorium erschließt sich für uns auch mit der Präsentation künstlerischer Arbeiten, die fortan fixer Bestandteil von ALL-OVER sein wird. Der in Linz lebende Künstler Gregor Graf zeigt in dieser Ausgabe eine Bildstrecke, die durch eine atlasähnliche Zusammenstellung seiner Fotografien nicht nur einen Überblick über seine Arbeiten, sondern auch neue Sinnzusammenhänge und Bezüge zwischen diesen eröffnet.

Ebenfalls neu ist das Layout von ALL-OVER.  Grafiker Michael Hübner zeichnet sich nun für die Ebene der Gestaltung dieser Publikation verantwortlich.

Wir bedanken uns bei allen, die zur Entstehung dieser Ausgabe beigetragen haben, ganz besonders bei den Autorinnen und Autoren für die reibungslose und fruchtbare Zusammenarbeit, die uns auch diesmal wieder viel Freude bereitet hat.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg

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Ausgabe #2

Editorial

Tim Pickartz
„I have no idea, what art is!“
Die dOCUMENTA (13) zwischen Peripherie und Zentrum

Hannah Bruckmüller
Dispositive der Hülle
Barbara Graf im E-Mail-Interview zum Verhältnis von Kunst, Mode und Körper

Katharina Herrmann
Das Haus-Werk
Überlegungen zur Architektur des Schaulagers von Herzog & de Meuron

Gregor Graf
Sammlung o.T.
Bildstrecke

Jürgen Buchinger
Wie man einen Bürgerkrieg verhindert
Walid Raads The Atlas Group Archive und der Versuch der Wiederherstellung einer nationalen Identität

Tessel M. Bauduin
Modern Art Revisited: A Fascination for the Occult
Review of the exhibition L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750 – 1950


Die vollständige Ausgabe von ALL-OVER #2 gibt es hier als PDF zum Download.

Quellennachweis: ALL-OVER, Nr. 2, März, 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=951.

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