Raum im Fluss

Dirk’s Pod von Richard Serra*

Materialströme

Wählte man ein oder zwei ganz spezifische Ansichten von Richard Serras Dirk’s Pod[1] (2004) und würde diese dem Signet von Novartis, auf dessen „Campus des Wissens“ in Basel die Skulptur installiert ist, gegenüberstellen, so könnte man eine gewisse formale Ähnlichkeit zwischen dem Firmenzeichen und der Skulptur erkennen: zeigen doch beide die Kombination mehrerer vertikaler, zum Teil geschwungener Linien (Abb. 1–2). Allerdings führt die Reduktion von Serras dreidimensionalem Werk auf eine einzelne fotografische Abbildung radikal an dessen wesentlichen Eigenschaften vorbei. Zusätzlich spricht streng genommen auch ein werkhistorisch-formales Argument gegen diesen Vergleich. Nichtsdestotrotz führt die Gegenüberstellung, wie noch zu sehen sein wird, zu einem zentralen Aspekt der Skulptur: der Bedeutung des Motivs von Fluss und Fließen.

Abb. 1: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von Norden), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.
Abb.2: Signet der Novartis AG.

Abb. 3: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von der Fabrikstraße [von Süden]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Spätestens seit den 1970er Jahren ist Serras skulpturales Werk durch eine Vielzahl divergierender Ansichten gekennzeichnet, die in einem peripatetischenWahrnehmungsprozess in der Zeit erfahren werden müssen. Dies trifft auch auf Serras Skulptur auf dem Novartis Campus zu. So ist beispielsweise bei einer Annäherung von Süden zunächst nur eine Gruppierung von gebogenen, rot-braunen Stahlkörpern zu erkennen, deren Anzahl und konkrete Gestalt nicht fassbar sind (Abb. 3). Erst im weiteren Verlauf der Annäherung rücken die schmalen, passierbaren Räume zwischen den Körpern in den Blick, es eröffnen sich Durchblicke auf die Formen selbst sowie auf die Treppe der Unterführung dahinter. Im Verlauf einer Begehung werden beständig einzelne Körper verdeckt und tauchen erneut auf. Je nach Standpunkt entsteht ein gänzlich unterschiedlicher Eindruck von Form und Dimensionen der Körper: Mal erscheinen die Körper schmal und kurz, dann präsentieren sie sich wieder als lang und flächig (Abb. 4).

Abb. 4: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von Osten), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Robert Polidori.

Die Synthese der gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen zu einer einheitlichen Vorstellung von Dirk’s Pod wird verweigert, weshalb auch ein fotografisches Einzelbild dem Werk nicht gerecht werden kann. Es bedarf der Bewegung und einer gewissen Zeit, bis die Erkenntnis reift, dass es sich um fünf identische Körper handeln muss, die um 180° verdreht zueinander installiert wurden. Zudem ist die Erfahrung von Dirk’s Pod eine unmittelbar leibliche: Die Materialität des tonnenschweren Stahls, die Dimensionen der fünf Meter hohen und über 14 Meter langen Stahlkörper, die Neigung aus der Lotrechten oder auch die Enge und Weite der unterschiedlichen Raumformen werden in der Begehung in Relation zum eigenen Leib erfahren, sodass die wesentlichen Aspekte der Arbeit nur vor Ort erlebt werden können, aber nicht abbildbar sind.

Abb. 5: Torus.

Formal besteht Dirk’s Pod aus einer Gruppe von fünf länglichen und an den Enden spitz zulaufenden Skulpturkörpern, die jeweils aus zwei gebogenen Stahlplatten bündig zusammengesetzt sind. Hinsichtlich ihrer Abgeschlossenheit und Körperhaftigkeit unter Verwendung von mehrdimensional gekrümmtenStahlplatten kommt hier ein neuartiges Formenvokabular innerhalb von Serras Œuvre zum Einsatz. Zuvor waren seine aus Stahlplatten bestehenden Arbeiten immer durch Offenheit gekennzeichnet und konnten betreten werden. Serra hat sein neues Vokabular allerdings bereits vor der Realisierung von Dirk’s Pod entwickelt: Er setzte es in Union of the Torus and the Sphere (2001), New Union (2003), Double Torus (2003) und Wake (2003) ein. Zudem generierte er die Form der im Aufriss S-förmigen Stahlplatten, aus denen die Stahlkörper von Dirk’s Pod zusammengesetzt sind, aus einer besonderen mathematischen Fläche: der Figur des Torus. Der „double torus“[2], wie Serra diese Platten bezeichnet, ist solcherart von der geometrischen Form des Torus abgeleitet, als dass zwei unterschiedliche Torussegmente übereinander in ein- und derselben Platte enthalten sind (siehe a und b in Abb. 5), wobei ein Segment um 180° gedreht auf das andere gesetzt wird. In den Stahlplatten gehen diese beiden Abschnitte fließend ineinander über, das heißt, eine Platte bildet vertikal übereinander eine konvexe und eine konkave Wölbung aus, horizontal ändert sich dagegen die durchgängig konvexe Krümmung nicht.

Eine formale Ähnlichkeit zwischen Dirk’s Pod und dem Novartis-Signet kann sich also, wie diese Betrachtung zeigt, nur indirekt ergeben haben. Trotzdem führt der Vergleich auf einer abstrakteren Ebene zur Thematik von Fluss und Fließen, mit der die zentralen Charakteristika von Serras Skulptur gefasst werden können. Im Firmenlogo verweisen die farbigen, teils geschwungenen Formen auf Bewegung und gleichzeitig ruft die Gesamtkomposition der drei Formen Assoziationen mit Laborbehältnissen für chemische Flüssigkeiten wie beispielsweise Glaskolben hervor. Als ein Kernelement in der Repräsentation von Novartis vermag das Motiv von Fluss und Fließen auf die chemische Produktion des Biotechnologie- und Pharmaunternehmens hindeuten, die man auch als Regulierung von Materialströmen und Fließbewegungen zueinander begreifen könnte. Im Falle von Dirk’s Pod sind es nicht nur die weich fließende Form der Körper und die schwarm- beziehungsweise schulenartige Gruppierung der Elemente, die auf das Motiv des Fließens rekurrieren.[3] Die Arbeit strukturiert darüber hinaus an ihrem Aufstellungsort – einem der Eingänge zum Novartis Campus – den Raum ausgehend vom Bewegungsfluss der Belegschaft. Des Weiteren liegt der Skulptur eine Raumkonzeption zugrunde, die den Raum als Material denkt und diesen als etwas in Bewegung Befindliches und damit auch Verzeitlichtes vorstellt. In dem Flüchtigkeit, Bewegung, Prozess und Veränderung implizierenden Thema der Skulptur wird gleichzeitig eine Vorstellung von Transformation versinnbildlicht. Daraus ergibt sich schließlich die Frage, wie sich dieses Werk zu den auf dem Novartis Campus vollzogenen Veränderungen in der Arbeitswelt und den Umwälzungen von materieller Produktion zu kognitiven Wissensprodukten verhält.

Bewegungsfluss

„Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“[4]

Die Skulptur Dirk’s Pod befindet sich im Norden des Firmengeländes von Novartis in Basel und wurde im Rahmen der umfassenden Umwandlung des ehemaligen Werkareals in einen „Campus des Wissens“ auf dem sogenannten „Swiss Place“ am Ende der repräsentativ ausgebauten Fabrikstraße errichtet (Abb. 6). Der Installationsort liegt direkt an einem Zugang zum Gelände, denn hier besteht mittels einer Unterführung ein Durchgang zum Parkplatz und ein Übergang über die Grenze nach Frankreich. Die Skulptur ist also dergestalt am „Swiss Place“ installiert, dass die Passierenden in unmittelbarer Konfrontation aufgefordert sind, sich mit dem eigenen Körper aktiv zur Körperhaftigkeit der Skulptur zu verhalten. Ob die Skulptur umschritten oder durchschritten wird, in jedem Fall wird der Weg in bewusster Bezugnahme zur Gruppierung fortgesetzt.[5] Dirk’s Pod funktioniert wie eine Passage und antwortet damit auch auf die vorgelagerte Passage der Unterführung.[6] Der „Swiss Place“ als transitorischer Ort zwischen dem Kernbereich des Firmenareals, der Fabrikstraße, und der Unterführung, die zum ‚Außerhalb‘ führt, wird durch die Skulptur als Verbindungs-, Vermittlungs- und Verteilungsort definiert.[7]

Abb. 6: Richard Serra, Dirk’s Pod (Grundriss), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Lageplan: Uwe Pickhan, Pickhan Engineering GmbH, Siegen.

Richard Serra hat die einzelnen Körper so positioniert, dass sie die menschlichen Bewegungsverläufe an diesem Ort lenken. Zum einen nimmt die Formation diejenigen auf, die von der Unterführung kommend das Areal betreten (Abb. 7). Hier erfolgt eine abrupte, unvorhersehbare Konfrontation. Von unten kommend ist zunächst nur der obere Bereich der Stahlformen zu sehen, kontinuierlich wird mehr von den Einzelkörpern sichtbar. Ist man oben an der Treppe angekommen, befindet man sich bereits inmitten der Skulptur, welche nun die Bewegung in Richtung Fabrikstraße lenkt. Dabei ist vor allem die Gruppierung der Stahlkörper in einer pfeilähnlichen Anordnung richtungsleitend (vgl. Abb. 6). Indem die Anzahl der Körper und damit die Breite der Formation zur Fabrikstraße hin abnimmt und in einen Stahlkörper mündet, der exakt in der Mittelachse der Fabrikstraße positioniert wurde, leitet Dirk’s Pod die passierenden MitarbeiterInnen entlang der Stahlformen – sei es durch die Gruppe hindurch oder außen vorbei – auf die bauliche und funktional zentrale Achse des Campus. Die Anordnung der Körper gleicht dabei die seitlich zueinander verschobenen Achsen von Unterführung und Fabrikstraße aus. Zusätzlich forciert wird die Aufnahme der das Areal Betretenden von der Skulptur dadurch, dass der nördlichste Körper so platziert wurde, dass dieser im Osten die Treppe umschließt und abschirmt (vgl. Abb. 6).

Zum Zweiten lenkt Serras Werk auch in der entgegengesetzten Richtung die Bewegungen von der Weiträumigkeit des „Swiss Place“ und den drei auf den Platz zulaufenden Straßen zur Unterführung. In dieser Bewegungsrichtung fungieren vornehmlich die Zwischenräume als leitend für die Bewegung. Je nachdem von welcher Straße Passierende auf den Platz mit der Formation stoßen, sei es von der Fabrikstraße oder sei es von einer der beiden kleineren Querstraßen, treffen sie zunächst auf einen Stahlkörper (insbesondere auf die Körper 3 und 5, vgl. Abb. 6) und es bestehen nun mehrere Möglichkeiten, die Skulptur zu durchschreiten. Ist die Formation betreten, werden sie so geleitet, dass sie in dem weiteren Bereich (zwischen den Körpern 2, 1 und 4, vgl. Abb. 6) auf der nördlichen Seite der Skulptur aus der Gruppe heraustreten und sich direkt vor der Unterführung befinden. Bewegungen von der Fabrikstraße können entlang der Längsausrichtung der Formen in gleicher Richtung fortgeführt werden. Passierende, die sich von der Querstraße oder aus dem angrenzenden Gebäude dem Platz nähern, werden dagegen mit den breiten Längsseiten der Formen konfrontiert und in ihrer Bewegungsrichtung um 90° umgelenkt. Eine gerade Bewegung auf der Querstraße über den Platz hinweg wird durch Dirk’s Pod verhindert.

Abb. 7: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht von der Unterführung [von Norden]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Richard Serra beschreibt die Raum- und Bewegungsstrukturierung wie folgt:

„Der Standort der Skulptur ist durch die Anordnung ihrer fünf Körper topologisch so gegliedert, dass das Werk die Funktion eines Durchgangs, eines Filters, eines Trichters oder auch eines Einganges vom Fußgängertunnel auf den Campus hat.“[8]

Interessant ist hier insbesondere die Beschreibung von Dirk’s Pod als Trichter, denn dieser stellt eine Verbindung zwischen zwei Räumen dar und regelt auf eine spezifische Weise den Austausch zwischen diesen. Die Eigenschaft eines Trichters ist es, gestreute Bewegungsrichtungen und -flüsse zu einer Verengung hin zu bündeln und durch diese hindurch zu ermöglichen. Dass in der Skulptur kein Trichter im engeren Sinne vorliegt, ist offensichtlich, dafür ist die Struktur zu offen gestaltet und es verbleiben mehrere, auch ausweichende Bewegungsmöglichkeiten. Verabschiedet man sich vom konkreten Bild des Haushalts- und Laborgegenstands, so kann man dennoch in Bezug auf die Bewegungslenkung von Dirk’s Pod eine Funktionsweise in Ähnlichkeit zu einem Trichter konstatieren, denn gleichwohl findet durch Dirk’s Pod auf dem „Swiss Place“ eine Kanalisierung von Bewegungsflüssen über Engstellen als Verbindung zwischen zwei Räumen statt und dies entlang beider Bewegungsrichtungen.

Indem Dirk’s Pod die Relation zweier Räume zueinander definiert und strukturiert, manifestiert sich ein der Arbeit zugrundeliegendes topologisches  (relationales) Raumdenken.[9] Es liegt eine Lenkung der Bewegungsströme zwischen den zwei Räumen – dem Campus und dem ‚Außerhalb‘ – vor. Das topologische Raumdenken ist hier folglich über die Bewegungserfahrung vermittelt. Diese Betrachtung zeigt weiter, dass Dirk’s Pod nicht von einer Raumkonzeption ausgeht, in der Raum gegeben und konstant vorhanden ist, sondern erst durch stattfindende Bewegungen, in diesem Fall durch einen Bewegungsfluss auf, von und zu diesem Areal, konstituiert wird. Da die Menschenbewegung durch die Skulptur als Bewegungsfluss konzipiert ist, richtet sich die Arbeit in erster Linie nicht an einzelne Personen, sondern an einen Menschenstrom, die Masse der MitarbeiterInnen.

Fließender Raum

Die Verwendung des Begriffs des Trichters von Serra mag darüber hinaus auch eine rhetorische Funktion erfüllen und dazu dienen, mithilfe des Motivs von Fluss und Fließen den Topos des fließenden Raumes aufzurufen. Im selben Text schreibt Serra entsprechend: „Geht man durch die Skulptur, wird man regelrecht physisch in die Kräfte des fließenden Raumes eingesogen, […].“[10] Das Denkbild des fließenden Raumes, welches als das kanonische Attribut der Architektur Ludwig Mies van der Rohes seinen Ausgang nahm, ist eine Bezeichnung für architektonische Raumgestaltung mit offenen Grundrissen, bei der die Grenze zwischen innen und außen nicht mehr einfach definiert werden kann.[11] Ist die Frage nach der Gestaltung von Grundrissen und dem sich darin ausdrückenden Verhältnis von innen und außen in Bezug auf Dirk’s Pod weniger von Relevanz, so hilft ein bereits für Mies van der Rohe vorgenommener Deutungsvorschlag der Figur des fließenden Raumes weiter, der das Ineinanderfließen des Raumes mit der Zeitdimension verbindet. Der fließende Raum wäre demnach ein dynamisierter und verzeitlichter Raum, der die Empfindungen anregt, den Raum selbst in Bewegung versetzt und auf diese Weise „ein künstlerisches Äquivalent des raum-zeitlichen Kontinuums“ darstellt.[12] Damit rekurriert der Topos des fließenden Raumes auf eine Raumvorstellung, bei der der Raum seinen absoluten Charakter verloren hat und nicht mehr als stabiler dreidimensionaler Behälter gedacht werden kann.[13]

Abb. 8: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht zwischen Körper 3 und 5 [vgl. Abb. 6], 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Roland Schär.

Durchschreitet man Dirk’s Pod, so verschiebt sich die Konzentration von den Körpern auf die Zwischenräume, die unterschiedliche Formen aufweisen.[14] Die Raumerfahrungen beim Durchschreiten der drei Passagenformen (Abb. 6) unterscheiden sich maßgeblich voneinander und regen jeweils zu verschiedenen Gehgeschwindigkeiten an.[15] Zwischen zwei Körpern, die sich zueinander neigen, entsteht ein enger Zwischenraum, beide Stahlwände wölben sich den Passierenden entgegen und evozieren eine starke Dynamik: Sie drängen sich auf und drücken die Gehenden förmlich durch die Verengung hindurch (Abb. 8). Befindet man sich dagegen zwischen zwei Formen, die sich voneinander weg lehnen, dann bieten diese mehr Platz und scheinen zurückzuweichen (Abb. 9). Diese Passage lädt eher zum Verweilen ein. Und schließlich bilden zwei sich in die gleiche Richtung lehnende Stahlkörper einen parallel verlaufenden, seitlich leicht gekippten Durchgang (Abb. 9). Beim Gang durch die geneigte Passage übt die nach außen gewölbte Stahlfläche einen subtilen Druck aus und Passierende tendieren dazu, ihren Gang anzupassen und näher entlang der konkav zurückweichenden Form fortzusetzen. Auf diese Weise erzeugt die Skulptur über verschiedene Zwischenräume heterogene Bewegungsgeschwindigkeiten. Diese Erfahrung stellt die Homogenität von Raum in Frage, ebenso wie eine Betrachterunabhängigkeit. Damit liegt mit dem fließenden Raum von Dirk’s Pod ein Raummodell vor, das Raum als eine von Geschwindigkeiten abhängige Pluralität denkt.[16]

Transformation

Befragt man Dirk’s Pod nach seiner Ortsspezifik (site specificity), so kann das Werk als ein Kontrapunkt oder Anti-Environment[17] zu seinem Standort charakterisiert werden. Die geschwungene und beweglich anmutende Formensprache der Stahlkörper kontrastiert in gleichem Maße wie die organisch wirkende Anordnung der Gruppe mit dem architektonischen Kontext des Novartis Campus nach dem Masterplan von Vittorio Magnago Lampugnani, der geprägt ist durch kubenförmige, rechtwinklige Architekturen in einer ebenso rechtwinkligen Rasterstruktur. Dirk’s Pod verhält sich so als Gegenakzent zu den rationalen Architekturen wie zur starren Form des Rasters und hebt damit gleichzeitig deren Eigenschaften hervor. Eine ähnliche Funktion kommt Frank O. Gehrys Gebäude Fabrikstrasse 15 (2006-09) auf dem Novartis Campus zu. Dieses weicht als einziges plastisch voluminös von den sonst herrschenden, geradlinigen Formen ab.

Abb. 9: Richard Serra, Dirk’s Pod (Ansicht zwischen Körper 4, 1 und 2 [von links nach rechts] [vgl. Abb. 6]), 2004, wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Fotograf: Nic Tenwiggenhorn.

Das Konzept der Ortsspezifik hat Serra bereits früh auf seine Arbeiten bezogen und es war und ist prägend für alle seine Werke im Außenraum. In einem kritischen und bewussten Umgang mit dem Ort liegt für ihn das Potenzial von Skulptur.[18] Im Laufe der Zeit hat sich dabei Serras Definition des Ortes, zu dem sich seine Werke spezifisch verhalten sollen, erweitert. Umfasste der Ort für Serra 1980 in erster Linie den physischen Ort (als Platz oder „actual location“[19]), wie er durch die Architektur und die städtebauliche Situation gekennzeichnet ist, treten 2004 auch immaterielle Aspekte des Ortes hinzu:[20]

„Ich möchte dem Betrachter die Gegebenheiten des Standorts ins Bewusstsein rufen, seien sie privater, öffentlicher, politischer, formaler, ideologischer, ökonomischer, psychologischer, wirtschaftlicher, soziologischer oder institutioneller Art oder eine Kombination der verschiedenen Aspekte.“[21]

Diese Begriffsverschiebung fordert dazu auf, zu fragen, wie sich Dirk’s Pod zum Novartis Campus als einem ideologisch, ökonomisch und institutionell definierten Ort verhält. Es handelt sich um einen Ort, der Hauptsitz von einem der größten Pharmaunternehmen weltweit[22] ist und der sich derzeit vor dem Hintergrund des Wandels zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft in einer Umgestaltung von Werkareal und Produktionsort in ein „hochmoderne[s], funktionelle[s] und attraktive[s] Forschungs-, Entwicklungs- und Managementzentrum“ befindet und ein „optimale[s] Umfeld für Kreativität und Innovation“ bieten soll.[23]

In gewisser Weise ist es ein Paradox, dass Richard Serra, der auf anachronistische Weise den Untergang der Stahlindustrie begleitet,[24] gerade mit einer Skulptur für den postindustriellen „Campus des Wissens“ von Novartis beauftragt wurde. Damit führt Dirk’s Pod aber auch gleichzeitig die stattfindenden Transformationsprozesse und die historische Funktion des Areals vor Augen. Sinnfällig referiert allein schon das von Serra verwendete Material Cortenstahl mit seiner rostigen Oberfläche, das emblematisch für Industrie und Industrialisierung steht, auf die Vergangenheit des Campus als Werkareal mit industrieller Produktion. Insbesondere in Bezug auf die lyrischen Qualitäten der rot-braun changierenden Oberflächen von Dirk’s Pod lässt sich allerdings fragen, inwiefern hier in dem Moment, in dem die Fabrikation auf dem Areal verschwunden ist, eine Reminiszenz in einer ästhetisierten Form an die sonst verbannte Industrie vorliegt. Wie bisher gezeigt wurde, regen Form und Anordnung in Dirk’s Pod zur Assoziation einer Gruppe von Begriffen an – Fließbewegung, Geschwindigkeit, Pulsieren – über die eine produktionstechnische Dimension angesprochen wird. Insofern referiert Dirk’s Pod auch auf diese Weise auf die ausgelagerte Produktion und damit auf die materiellen und körperlichen Aspekte von Arbeit und versinnbildlicht die mit dem „Novartis Campus“-Projekt vollzogenen Transformationen.

Serras skulpturales Werk ist nicht repräsentativ am Haupteingang im Süden platziert, sondern an einem hauptsächlich für Beschäftigte vorgesehenen Eingang, den viele auf dem Weg vom Parkplatz zur Arbeit täglich passieren.[25] Gerade deshalb handelt es sich aber beim Ort der Installation um einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden, neuralgischen Scharnierpunkt des Campus. Der eigentliche Eingang, sozusagen das Werktor, das den Zugang reguliert, befindet sich kaum sichtbar in der Unterführung. Richard Serras Stahlskulptur bildet demgegenüber gleichsam das sichtbare Tor, das von einem Großteil der Belegschaft täglich durchschritten wird. Die Passierenden werden aktiviert und, wie bereits gesehen, zu unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten angeregt. So wird auf diese Weise Heterogenität in Form unterschiedlicher Bewegungsgeschwindigkeiten leiblich vermittelt. Silke von Berswordt-Wallrabe hat argumentiert, dass Dirk’s Pod, dessen Wahrnehmungserfahrung schwer rationalisierbar und durch Divergenzen und Diskrepanzen gekennzeichnet sei, auch im übertragenden Sinne im Gegensatz zum Ort des Novartis Campus als Firmen- und Forschungszentrale, in der es auf streng rationales Denken und logisch zielgerichtetes Vorgehen ankomme, stehe.[26] Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Idee einer Abhängigkeit der Erkenntnis vom Standort – wie sie Serras Skulptur vermittelt – ein Welt- und Wissensmodell verkörpert, das an einem Ort der postmodernen Wissensproduktion angemessen ist. In der veränderten Arbeitswelt des Campus ist nicht mehr jene Homogenität gefragt, wie sie im Rahmen der Mechanisierung und der industriellen Produktion als Anforderung an die ArbeiterInnen gestellt wurde. Insofern kann man die Induktion von Heterogenität, wie sie bei Dirk’s Pod stattfindet, auch als eine Form der Disziplinierung sehen, entsprechend den Anforderungen heutiger, avancierter Unternehmensführung. Einerseits würde sich, so gesehen, Dirk’s Pod auf dem Campus wie ein Instrument der Personalführung zur Anregung von Kreativität und Innovation verhalten. Passenderweise beherbergt, dieser Logik folgend, die plastische Architektur Gehrys das „Human Resources Department“, die Personalabteilung von Novartis. Andererseits vermag Dirk’s Pod in einer Anregung zur kritischen Reflexion auch die der Umgestaltung des Werkareals zum Campus zugrundeliegenden kreativitäts- und effizienzfördernden Prämissen offenzulegen und bewusst zu machen. Und so bleibt der Status von Serras Skulptur in seinem Verhältnis zum Installationsort ambivalent zwischen Affirmation und Kritik – oder bildlich gesprochen: im Fluss.


* Ich danke Friedrich Teja Bach und Gabriel Hubmann für wichtige Hinweise und Anregungen.
[1] Wetterfester Stahl, fünf Teile, je: 5,1 m x 14,2 m x 180,3 cm, Platten: 5,1 cm dick, Sammlung Novartis AG, Basel. Siehe: Silke von Berswordt-Wallrabe (Hg.), Richard Serra. Dirk’s Pod, Göttingen 2004.
[2] Richard Serra, Dirk’s Pod. In Erinnerung an meinen Freund Dirk Reinartz/Dirk’s Pod. In memory of my friend Dirk Reinartz, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 17–27, hier S. 20u. S. 26.
[3] Auch die Benennung der Skulptur als „pod“ weist eine gewisse Nähe zu Wasser, Strömung und Fluss auf und zwar sowohl in Bezug auf die spezifische Form der Skulpturkörper als auch auf die Anordnung dieser. Denn einerseits werden stromlinienförmige Elemente an Flugzeugpropellern und Schiffsschrauben als „pod“ bezeichnet und andererseits werden im Englischen für die Bezeichnung von Wal- und Delphinschulen die Begriffe „whale pods“ beziehungsweise „dolphin pods“ verwendet.
[4] Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218.
[5] Vgl. Silke von Berswordt-Wallrabe, Zusammenhang und Diskrepanz. Mögliche Erfahrungen mit der Skulptur ‚Dirk’s Pod’ von Richard Serra, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 98–108, hier S. 101 f.
[6] Die Situierung von Dirk’s Pod in einem Eingangs-/Ausgangsbereich in Kombination mit einer unterirdischen ‚Verkehrs‘-Anbindung im weiteren Sinne (wie zum Beispiel Fußgängerunterführung, Autotunnel und Metroeingang) ist mit früheren Arbeiten, wie dem St. John’s Rotary Arc (1980) und der nicht realisierten Konzeption Curve, Project for Beaubourg (1975/76) vergleichbar.
[7] Von Berswordt-Wallrabe beschreibt den Ort als „Randzone“, „Ort des Übergangs, der Bewegung und des Austausches“. Von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 101.
[8] Serra 2004, S. 20.
[9] Zu topologischen Raumkonzeptionen und Bezügen auf topologische Konfigurationen in Serras jüngerem Œuvre siehe auch mein Dissertationsprojekt „Richard Serra. Topologische Konfigurationen“, Universität Wien sowie Sandra Beate Reimann, innen-außen. Topologisches Raumdenken in Serras Band, Sequence und Cycle, in: Olga Moskatova/Sandra Beate Reimann/Kathrin Schönegg (Hg.), Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, München 2013 (in Druck).
[10] Serra 2004, [Hervorhebung SBR], S. 21.
[11] Vgl. Ulrich Müller, Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, S. 91–99.
[12] Müller 2004, S. 96.
[13] Stephan Günzel, Einleitung (Physik und Metaphysik des Raumes), in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 19–43.
[14] Richard Serra hat in seinem Œuvre vielfach Skulpturen geschaffen, die durchschreitbar sind und zwei oder mehrere differierende Durchgangsmöglichkeiten bieten und damit wie bei Dirk’s Pod unterschiedliche Raumerfahrungen gegenüberstellen, so z. B. bei Intersection (1992) auf dem Theaterplatz in Basel.
[15] Vgl. Serra 2004, S. 21.
[16] Zu modernen Raumkonzeptionen vgl. Michaela Ott, Raum, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart 2003, S. 113–149, hier S. 134f.
[17] Serra 2004, S. 20.
[18] Richard Serra, Rigging, reeditierte Version (Erstveröffentlichung in Cover, January 1980), in:  Richard Serra/Clara Weyergraf, Richard Serra: Interviews, Etc. 1970–1980, The Hudson River Museum (Hg.), New York 1980, S. 119–131, hier S. 128.
[19] Miwon Kwon,One Place after Another. Notes on Site Specificity, in: October, Vol. 80, Spring 1997, S. 85–110, hier S. 85.
[20] Damit vollzieht Serra jene Verschiebung und Weiterentwicklung im Paradigma der site specificity, die Miwon Kwon von einem physischen Ort, zu einem sozial und institutionell bestimmten Ortsbegriff bis hin zu einem diskursiv gedachten Ort in den „site-oriented practices“ für die zeitgenössische Kunst im Allgemeinen beschrieben hat. Vgl. Kwon 1997.
[21] Serra 2004,  S. 20.
[22] 58,6 Milliarden USD Umsatz (2011) und 123.686 Beschäftigte (Ende 2011). Novartis  AG,  Geschäftsbericht 2011 der Novartis Gruppe, Basel 2012, S. 2. URL: www.novartis.com/annualreport2011  [27.06.12].
[23] Wolfdietrich Schutz, Veränderung der Arbeitswelt, in: Novartis International AG (Hg.), Novartis Campus. Eine moderne Arbeitswelt. Vorraussetzungen, Bausteine, Perspektiven, Ostfildern 2009, S. 38–42, hier S. 41.
[24] Dietmar Rübel, Fabriken als Erkenntnisorte. Richard Serra und der Gang in die Produktion, in: Michael Diers/Monika Wagner (Hg.), Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform, Berlin 2010, S. 111–136, hier S. 116.
[25] Daniel Vasella, Eine Skulptur für den Campus des Wissens, in: von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 7–11, hier S. 10. Beschreibung des „Swiss Place“ in: Vittorio Magnago Lampugnani, Freiräume: Anforderungen und Gestaltungsstrategien, in: Novartis International AG 2009, S. 106–117, hier S. 114.
[26]  Von Berswordt-Wallrabe 2004, S. 106.

Quellennachweis: Sandra Beate Reimann, Raum im Fluss. Dirk’s Pod von Richard Serra, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1068.

Sandra Beate Reimann promoviert am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien über die Raumkonzeption in den jüngeren Skulpturen Richard Serras (2000-2012) und ist Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz.
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