Das Potenzial des Ästhetischen

Dominique Laleg: Juliane Rebentisch, es scheint, als hält derzeit die Thematik des „Politischen“ Einzug in das Gebiet der Ästhetik. Etwa die Theorien von Jacques Rancière, Nicolas Bourriaud und nicht zuletzt Ihre Arbeit fragen nach dem Verhältnis eines ästhetischen Bereichs der Kunst zur gesellschaftlichen Realität sowie nach dem emanzipatorischen Potenzial ästhetischer Erfahrung. Würden Sie der Beobachtung zustimmen, dass die Ästhetik eine Politisierung erlebt hat, die sich derzeit im aktuellen ästhetischen Diskurs verstärkt bemerkbar macht?

Juliane Rebentisch: Nein, das kann man so nicht sagen – und zwar nicht etwa deshalb, weil derzeit nicht viel über das Verhältnis von Kunst und Politik geredet würde, sondern deshalb, weil die von Ihnen angesprochenen Grundsatzfragen auch schon früher verhandelt worden sind. Die gesamte Disziplin der Ästhetik, die sich ja erst relativ spät, im 18. Jahrhundert, bildet, konstituiert ihren Gegenstandsbereich – „das Ästhetische“ – nicht zuletzt etwa im Blick auf die Frage nach der Rolle des Ästhetischen für die Freiheit des Subjekts.

Die spezifischere Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft steht überdies ausdrücklich auch im Zentrum derjenigen Debatten, die für den aktuellen Kunstdiskurs gemeinhin so etwas wie eine Negativfolie bilden: der Debatten um die Autonomie der Kunst. Heute identifiziert man die Idee der Autonomie der Kunst häufig per se mit einer apolitischen l’art pour l’art-Position und fordert entsprechend den Einzug „des Politischen“ in die am Autonomiegedanken orientierte Ästhetik. Manche mögen sich dabei auch noch besonders revolutionär vorkommen. Man muss allerdings schon sehr viel ausblenden, um die philosophischen Bemühungen um eine Bestimmung der Autonomie der Kunst den Untersuchungen ihrer politischen und gesellschaftlichen Dimension so entgegenzusetzen, dass es aussieht, als schlössen sie einander aus. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft ist der Autonomiefrage implizit.

Zunächst steht das Nachdenken über die Autonomie der Kunst ja selbst in einem bestimmten historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang. Denn mit der Freisetzung der Kunst aus dem Dienst an Kirche und Staat, mit ihrem funktionalen Autonomwerden also, stellt sich das konzeptuelle Problem, wie eigentlich genau begründet werden kann, dass die Kunst durch diesen Prozess nicht überflüssig geworden ist. Zumal sich in diesem Zusammenhang zusätzlich der Verdacht aufdrängt, dass die Kunst unterm Deckmantel ihrer vermeintlichen Freiheit letztlich bloß anderen Herren dient: dem Markt oder der Unterhaltungsindustrie. Um die Autonomie der Kunst gegenüber dieser existenziellen Herausforderung zu verteidigen, muss man erläutern, worin die Spezifik der Kunst, eben ihre Autonomie, gegenüber anderen gesellschaftlichen Subsystemen besteht. Das war die Ausgangsfrage selbst noch für jemanden wie Clement Greenberg, der bekanntermaßen eine formalistische Antwort darauf gegeben hat – aber auch diese Antwort ist eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Kunst zum Rest der Gesellschaft (bei Greenberg insbesondere: der Kunst zur Unterhaltungsindustrie). Diese Frage steht aber natürlich auch am Anfang, buchstäblich: auf der ersten Seite von Adornos Ästhetischer Theorie; man könnte noch andere Autoren oder Autorinnen nennen. Wie grundlegend die Frage nach dem Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft für die moderne Ästhetik überhaupt ist, sieht man nicht zuletzt daran, dass die heftigsten Diskussionen um das Problem des Realismus kreisten. Hier wurde natürlich nicht nur, wie bei Greenberg, nach der Spezifik der Kunst gegenüber dem Rest der Gesellschaft gefragt, sondern zugleich nach ihrer Funktion für die Gesellschaft. Im Blick auf diese Debatten kann man übrigens auch sehen, dass die Frage, wie das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft zu denken ist, nicht nur die Frage nach einer Politik, sondern auch die nach einer Ethik und einer Epistemologie der Kunst beinhaltet.

Nun bestehen natürlich bereits im Blick auf die historischen Realismus-Debatten erhebliche Differenzen hinsichtlich der Weise, wie die Protagonisten und Protagonistinnen jeweils Politik, Ethik und Epistemologie der Kunst konzeptualisieren. Dennoch sehe ich einen wichtigen Unterschied zwischen den wie auch immer untereinander zu differenzierenden modernen Positionen, die die Diskussionen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts beherrscht haben, und dem seinerseits von sehr unterschiedlichen Positionen bestimmten aktuellen Kunstdiskurs. Mit anderen Worten: Die Spezifik des aktuellen Kunstdiskurses besteht nicht darin, dass er das Nachdenken über das Ästhetische und die Kunst überhaupt in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt, sondern in der Weise, wie und im Blick auf welche künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen er das tut.

Dominique Laleg: Eine zentrale Verschiebung in dieser Hinsicht scheint doch zu sein, dass man sich eher interessiert für Verhältnisse zwischen Subjekten und nicht mehr so sehr, wie das in einer traditionellen (kantischen) Konzeption ästhetischer Erfahrung der Fall war, für das Verhältnis zwischen vereinzeltem Subjekt und Objekt.

Robert Morris, Installation in der Green Gallery, New York 1964.

Juliane Rebentisch: Den Unterschied zwischen aktuellem und modernistischem Kunstdiskurs, von dem ich eben gesprochen habe, würde ich zunächst etwas anders erläutern: Die modernistischen Theorien sind nämlich, bei aller Unterschiedlichkeit, geprägt von der Idee eines in sich geschlossenen Werks. Dadurch sind sie alle spätestens Mitte der 1960er Jahre im Zuge der künstlerischen Entwicklungen zu offenen, hybriden Werkformen, in eine Krise geraten – und mit ihnen ihre jeweiligen Bestimmungen ästhetischer Autonomie. So erscheint Greenbergs Ästhetik medialer Reinheit angesichts intermedialer Vermischungen obsolet. Aber auch die anderen, die explizit gesellschaftskritischen modernen Ästhetiken überleben diese Schwelle nicht (jedenfalls nicht ohne entscheidende Modifikationen): So hing etwa der sozialistische Realismus von Lukács, der die Kunst auf eine modellhafte Repräsentation von Welt verpflichten wollte, ebenso am Werkbegriff wie Adornos Ästhetik. Der eine, Lukács, braucht das in sich geschlossene Werk, weil das Modell von dem abgrenzbar sein muss, wovon es Modell zu sein behauptet: der empirischen Wirklichkeit; der andere, Adorno, braucht die Distanz des in sich stimmigen Werks zur übrigen Realität, weil er die Kunst zum Statthalter einer an ihr, wenn auch nur gebrochen zu erfahrenden Versöhnung macht, die ihm im beschädigten Leben, in einer grundlegend unversöhnten Gesellschaft nicht mehr erreichbar scheint. Man hat freilich auch gut begründete Einwände gegen die Geschichtsphilosophien erhoben, die im Hintergrund dieser Ansätze stehen. Jedenfalls aber werden all diese unterschiedlichen Werkästhetiken offensichtlich auch durch Entwicklungen in der Kunst herausgefordert, die sich dezidiert gegen das geschlossene Kunstwerk kehren und die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, Kunst und Leben gezielt destabilisieren. Es ist diese Situation – die Krise des Werkbegriffs – auf die die aktuellen ästhetischen Theorien reagieren. Aber natürlich fallen die Reaktionen auf diese Krise unterschiedlich aus.

So sieht meine theoretische Antwort auf diese Situation sehr anders aus als die partizipationsästhetische von Nicolas Bourriaud, auf die Sie wohl mit Ihrer Beobachtung anspielen. Der Unterschied besteht in der Stellung zur Autonomiefrage. Ich gehe davon aus, dass die Frage nach der Differenz von Kunst und Nichtkunst (also die Frage nach der Spezifik oder Autonomie der Kunst im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen) im Blick auf die offenen Werkformen, die an dieser Grenze operieren, nicht etwa überflüssig wird, sondern dass sie grundsätzlich anders gedacht werden muss. Die Differenz von Kunst und Nichtkunst sollte nicht als die Grenze zwischen einem in sich geschlossenen Werk und seinem Außen objektiviert werden, vielmehr denke ich, dass man sie an der spezifischen Erfahrung festmachen sollte, die die Kunst ermöglicht (und die sich vom Erlebnis der Unterhaltung, aber auch von den Erfahrungen, die man erkennend oder handelnd machen kann, unterscheidet). Damit stehe ich übrigens nicht alleine. In der deutschen philosophischen Diskussion nach 1970 gibt es ja eine regelrechte Wende von der Werk- zur Erfahrungsästhetik. Und in diesem Zusammenhang ist man durchaus, wenn auch kritisch, auf Kant zurückgegangen, um zu erklären, in welcher Hinsicht im Blick auf die Kunst nach 1960 von Kunst geredet werden kann, was ihre ästhetische Qualität ist. Dabei ging es auch darum, die Kunst nicht mehr heteronom mit geschichtsphilosophischen Gehalten zu überformen, sondern strikt in ihrer Wirkung zu erfassen. Man sah also gerade in den offenen Werkformen eine Provokation, eine Chance zum begrifflichen Neuanfang – wobei der Einsatz ein systematischer, nicht bloß historischer ist: Die offenen Kunstwerke provozieren ein solches Umdenken im ästhetischen Diskurs, dass dadurch nun auch die älteren, traditionelleren Werke in einem angemesseneren Licht erscheinen. Die Tendenz zur Entgrenzung der Werke entsteht dann nicht aus irgendwie externen, zum Beispiel „politischen“ Gründen, und sie richtet sich auch nicht gegen „das“ Ästhetische überhaupt, vielmehr wendet sie sich lediglich gegen ein verkürztes Verständnis des Ästhetischen, wie es sich auf unterschiedliche Weise in den modernistischen Werkästhetiken manifestiert. Die Tendenz zur Entgrenzung der Werke wird dann so verstanden, dass sie im Namen eines anderen, eines besseren Begriffs des Ästhetischen erfolgt. Ethik und Politik der Kunst hängen nach dieser Deutung aufs Engste mit ihrer Epistemologie zusammen: Das ethisch-politische Potenzial der ästhetischen Erfahrung besteht nicht zuletzt darin, dass sie ein unmittelbares Verstehen ebenso aussetzen wie das tatsächliche Handeln, und zwar zugunsten einer reflexiven Vergegenwärtigung der kulturellen und sozialen Horizonte, in die unser Verstehen und unser Handeln normalerweise eingelassen sind. „Politisch“ ist die Kunst dann in keinem direkten Sinne, sondern eher indirekt oder potenziell – und zwar aufgrund der Struktur der reflexiven Erfahrung, die sie ermöglicht.

Man kann leicht sehen, dass ein solcher Ansatz dem von Bourriaud diametral entgegengesetzt ist. Zwar reagiert auch Bourriaud auf die Krise des modernistischen Autonomiebegriffs, aber er ist überhaupt nicht mehr an dessen Reformulierung interessiert. Statt die Kunst vom Leben abzuheben, wie das in einigen Teilen der modernistischen Kunsttheorie ja tatsächlich der Fall war, soll die Kunst nun direkt zum Medium dessen gemacht werden, was hier und jetzt politisch möglich ist. Sie soll keine ganz anderen Welten mehr anzeigen, sondern dazu beitragen, die gegebene Welt „auf bessere Weise zu bewohnen“. Bei Bourriaud heißt dies näher: Kunst soll zum Medium der Herstellung von Gemeinschaft werden – also Verhältnisse, Relationen zwischen Subjekten herstellen. Dabei wird die Herstellung unmittelbarer Intersubjektivität durchaus als kritische Intervention in eine Welt gedeutet, die durch korrupte Kommunikationsstrukturen und Vereinzelung gekennzeichnet sein soll. Kunst soll also Sozialintegration leisten; womit zugleich ihre ethisch-politische Funktion sichergestellt wäre. Allerdings kann man gegen diese Konzeption vieles einwenden.

Rirkrit Tiravanija, Ohne Titel (Pad Thai), 1990.

Erstens ist Bourriauds Entwurf erschreckend blind für die institutionellen Voraussetzungen seiner relationalen Ästhetik. Da wird Kunst mit revolutionärem Gestus zum Mittel sozialer Integration gemacht, ohne hinreichend zu bedenken, in welchem Rahmen diese stattfindet: nämlich im geschützten Raum der Kunstwelt – wodurch denn auch prompt die alte Differenz zwischen Kunst und Leben (idealer Kunstpraxis und unidealer Wirklichkeit), die man „politisch“ überwunden zu haben glaubt, wieder eingezogen wird: Jetzt aber nicht mehr als die Differenz des Ästhetischen zum Nichtästhetischen, sondern als soziale Differenz – zwischen der Inszenierung sozialer Verhältnisse in den Kunstinstitutionen und den desintegrierten Verhältnissen draußen liegt der Abstand des Privilegs. Zweitens ist natürlich nichts unpolitischer als das Lob der Gemeinschaft, ohne nach deren je spezifischer Qualität zu fragen; schlimmer noch: Das unpolitisch generalisierte Lob der Gemeinschaft birgt selbst ein politisches Problem. Gerade aus demokratietheoretischer Perspektive muss man doch sagen, dass demokratische Politik nicht zuletzt dort statthat, wo sie sich selbst spaltet, wo also Gemeinschaften (in ihrer jeweiligen politischen Gestalt) durch ihr Anderes politisch infrage gestellt werden. Schließlich, drittens, verkennt Bourriauds Programm die Pointe der Arbeiten, die es für sich reklamiert. Schaut man mal näher hin auf die Arbeiten von Rirkrit Tiravanija oder auch von Felix Gonzalez-Torres, den paradigmatischen Künstlern für die relationale Ästhetik, so geht es hier nicht um direkte Partizipation – weder um die Teilnahme am Sozialen noch um die am Werk –, sondern um die Problematisierung oder Thematisierung von Partizipation oder Teilnahme. Ich finde die Arbeiten nicht allzu stark, aber man muss doch sagen, dass sich Tiravanijas Suppen-Aktionen ebenso wenig darin erschöpfen, dass die Kunstwelt gemeinsam eine Suppe löffelt, wie Gonzalez-Torres’ Bonbon-Installation Lover Boys etwa (das ist mein Lieblingsbeispiel in diesem Zusammenhang) darin aufgeht, dass wir uns ein Bonbon mitnehmen können. Wenn dem so wäre, wären die Arbeiten tatsächlich von einer nachgerade unfassbaren Trivialität und Dürftigkeit – sowohl in politischer wie in ästhetischer Hinsicht. Bei Tiravanija geht es aber offenkundig nicht zuletzt um die soziale Struktur der sich konkret versammelnden Kunstwelt, sie wird sich selbst zum Gegenstand (welche Positionen werden eingenommen – konkret im Raum und im übertragenen Sinne?); und es geht natürlich zugleich darum, die faktische Partikularität einer sich als universal setzenden westlichen Kunstwelt anhand des von ihr Ausgeschlossenen sichtbar zu machen: Es wird Pad Thai gereicht. Wovon sind wir also unter diesen Bedingungen Teil? Und wie nehmen wir teil? Gonzalez-Torres unterläuft noch deutlicher als Tiravanija den vordergründigen Impuls zum Mitmachen: Wenn er BetrachterInnen dazu einlädt, sich einen Bonbon aus seiner Installation Lover Boys zu nehmen, dann ist diese Einladung im Kontext der verstörenden Information zu sehen, dass das (immer wieder aufgefüllte) Gewicht der Bonbon-Installation dem des Künstlers und seines Liebhabers entspricht (die beide inzwischen an AIDS verstorben sind). Ob man sich einen Bonbon nimmt oder nicht, ist dann für die Wirkung der Arbeit sekundär, würde ich sagen. In beiden Fällen wird die unmittelbar praktische Bedeutung von Partizipation gerade unterlaufen – und zwar zugunsten der reflexiven Logik des Ästhetischen, deren ethisch-politisches Potenzial ich oben verteidigt habe.

Installationsansicht, Felix Gonzalez-Torres, Untitled (Loverboy) / Untitled (Revenge), The Renaissance Society at the University Chicago, 1994.

Hier geht es ebenfalls um Intersubjektivität, allerdings nicht im Sinne der Herstellung einer konkreten, zumeist ebenso zufälligen wie sozial homogenen „Gemeinschaft“, die an einem Kunstevent teilnimmt, sondern im Sinne der reflexiven Thematisierung jener intersubjektiv geteilten Praxis, die uns immer schon bestimmt. Dass eine solche Reflexion auf die sozialen Konventionen, die unsere Praxis prägen, dezidiert individuell erfolgt – jeder und jede ist mit ihr alleine, und zwar gerade in Situationen, die das Soziale zum Thema machen – steht dann gerade nicht im Gegensatz zu ihrem politischen Potenzial. Ich gehöre also nicht zu denen, die das Konzept der ästhetischen Erfahrung für obsolet erklären, um „Partizipation“ an seine Stelle zu setzen. Und ich glaube auch nicht, dass dies die einzige Weise ist oder sein sollte, wie man Politik und Ästhetik heute zusammendenkt.

Dominique Laleg: Sie sprechen davon, dass sich die ästhetische Erfahrung und die dadurch ermöglichte Reflexion individuell ereignen. Ist nach Ihrem Verständnis das Subjekt mit dieser Erfahrung und Reflexion zunächst also immer allein? Besteht so gesehen gar keine Möglichkeit, dass die Grenze der Subjektivität in der ästhetischen Erfahrung überschritten werden kann und diese selbst in einem gewissen Sinn kollektiv wird?

Juliane Rebentisch: Ich meine in der Tat, dass man, wenn man eine ästhetische Erfahrung macht, im übertragenen Sinn allein mit dem Werk ist, auch wenn man sich faktisch mit anderen im Raum befindet. Die ästhetische Erfahrung verweist die Erfahrenden an sich selbst zurück. Das wird wiederum gerade bei offenen Kunstwerken deutlich – zum Beispiel in performativen Situationen, die weder die traditionelle Trennung von Bühne und Zuschauerraum kennen noch die ontologische von realer und fiktionaler Welt. Gerade weil meine Bewegungen, auch meine Stellung zu anderen, für die Situation, für das Geschehen selbst relevant werden, bin ich immer auch auf mich zurückgeworfen. Performances, die es den Zuschauern und Zuschauerinnen überlassen zu entscheiden, wann die Situation „kein Spiel“ mehr ist und abgebrochen werden sollte, dramatisieren das. Denken Sie an Performances von Yoko Ono, von Christoph Schlingensief oder auch von Santiago Sierra oder Marina Abramović. Wenn ich beispielsweise in eine Schmerzensperformance von Marina Abramović aus moralischen Gründen interveniere, beende ich zugleich – in gewisser Hinsicht gewaltsam – die Performance, negiere ich die künstlerische Produktion. Ebenso aber wird man dem Geschehen nicht gerecht, wenn man sich darauf zurückzieht, dass es sich „nur“ um Kunst handelt, die rein formal – im Blick auf ihr Gemachtsein, ihr Verhältnis zur Geschichte der Performancekunst et cetera – zu betrachten wäre. Worum es bei solchen Produktionen geht, ist offenbar gerade die Erzeugung einer Spannung zwischen diesen beiden Einstellungen – der moralischen und der formalistischen –, durch die sich die unhinterfragte Sicherheit der Zuschauerposition zersetzen muss. Allerdings wird in solchen Formen zeitgenössischer Performancekunst lediglich ein grelles Licht auf eine Paradoxie geworfen, die, worauf Alexander García Düttmann in seinem Buch über die Teilnahme an Kunst aufmerksam gemacht hat, für sehr viele Formen der Kunstbetrachtung konstitutiv ist: dass Kunst ein Moment des unmittelbaren Glaubens an die von ihr eröffnete Welt ebenso fordert wie eine diesen Glauben brechende Aufmerksamkeit für ihre Vermitteltheit als Kunst. Kunst ereignet sich dann, sofern die paradoxe Einheit dieser beiden Seiten anerkannt, und das heißt: deren Spannung ausgetragen wird. Das Ereignis der Kunst ist jetzt nicht mehr das objektive des Werks, sondern das eines Prozesses zwischen Werk und BetrachterInnen.

Marina Abramovic, Rhythm 10, Edinburgh 1973.

Mit der Kritik an der Objektivität des Werks einher geht aber eine andere Konzeption des Betrachters oder der Betrachterin, die seine beziehungsweise ihre „Grenzen“ mit betrifft. Man kann sich das gut an der Figur des idealen Betrachters oder der idealen Betrachterin, nämlich des Kritikers oder der Kritikerin, klarmachen. Traditionell wird der Kritiker oder die Kritikerin als jemand vorgestellt, der oder die seine Autorität durch eine Distanz zum Objekt etabliert, die seine Neutralität garantieren soll – so, als ob die Grenzen dieses Selbst und jenes Objekts stabil wären. Die so verstandenen idealen KritikerInnen sind nicht nur objektiv, also von Vorurteilen möglichst frei, sie zeigen auch möglichst wenig affektive Reaktionen, vor allem keine heftigen wie beispielsweise Scham, Angst oder Ekel. Neutralität ist nach dieser Vorstellung eine Voraussetzung für kritisches Denken überhaupt. In den letzten Jahren wurde dieses Modell der Kritik durch künstlerische Praktiken (und zwar keineswegs allein aus dem Bereich der Performance) unter Druck gesetzt, die nicht nur ihrer Form nach BetrachterInnen einbeziehen, sondern auf unterschiedliche Weise die Neutralität der BetrachterInnen oder KritikerInnen infrage stellen. Sei es dadurch, dass dezidiert auf die Heterogenität der Kunstöffentlichkeit gezeigt wird, auf den Umstand, dass die Erfahrungen, die hier gemacht, und die Urteile, die hier gefällt werden, immer schon von verschiedenen kulturellen, sozialen und ökonomischen Hintergründen beeinflusst sind. Oder sei es dadurch, dass man geradezu auf einen affektiven Distanzverlust der BetrachterInnen oder KritikerInnen zielt. In beiden Fällen geht es darum, durch eine Destabilisierung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auch die Praxis unseres Urteilens zum Problem werden zu lassen, und zwar nicht zuletzt hinsichtlich der Implikation der (bis in die affektiven Regungen hinein sozial vermittelten) Subjektivität der BetrachterInnen oder KritikerInnen in den Gegenstand ihrer Kritik oder Interpretation. Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass Intersubjektivität hier lediglich höchst vermittelt, nämlich als Gegenstand der Reflexion, eine Rolle spielt. Welche Praxis, welche Konvention hat mich geprägt, dass ich diese Situation so wahrnehme?

Tatsächlich würde ich die ästhetische Erfahrung also scharf abheben von Erfahrungen wie man sie beispielsweise in der Masse haben kann, sagen wir im Stadion, wo es um die Überschreitung der Subjektivität des Einzelnen auf andere geht. Die Überschreitung der Grenze der Subjektivität in der Masse erfolgt durch eine wechselseitige affektive Ansteckung, und es entsteht eine Einheit, die alles in den Schatten stellt, was sich an Angleichungen innerhalb sozialer Gruppen herstellen mag. Zwar ist diese Dynamik der Masse zuweilen im Zeichen einer demokratisch verstandenen Utopie der Gleichheit verteidigt worden; Elias Canetti etwa spricht durchaus affirmativ von dem „glücklichen Augenblick, da keiner mehr, keiner besser ist als der andere“, und der erkläre, warum die Menschen zur Masse werden. Das Problem der Masse liegt allerdings auch nicht schon darin, dass in ihr die sozialen Hierarchien aufgehoben werden, sondern darin, dass dies mit einer Dynamik verbunden ist, in der die Urteilsfähigkeit der Einzelnen überhaupt suspendiert wird. Die Kraft der wechselseitigen affektiven Ansteckung der Massenmitglieder untereinander zieht die Einzelnen derart in den Bann, dass sie ihre Individualität, ihre Distanz- und Kritikfähigkeit, ja, wie Nietzsche sagt: ihr Gewissen, schließlich in einer kollektiven Bewegung fortreißt.

Die ästhetische Erfahrung hingegen suspendiert die Praxis des Urteilens nie vollständig, sondern verhält sich reflexiv zu ihr. Wenn es hier eine Überschreitung des Subjekts auf Gemeinschaft hin gibt, so wäre es die Gemeinschaft derer, denen die Selbstgewissheit ihrer eigenen Urteilspraxis suspekt geworden ist; es wäre eine Gemeinschaft, die gerade keiner Figur der Einheit verpflichtet ist, sondern eine Gemeinschaft, die sich selbst auf die Möglichkeit ihrer Infragestellung überschreitet.


Juliane Rebentisch ist seit 2011 Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach am Main und assoziierte Wissenschaftlerin am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS).

Quellennachweis: Dominique Laleg, Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1072.

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Erkenntnis als Zweifel

Mit seinen achtzig Jahren kann Gerhard Richter als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Nachkriegskunst auf ein facettenreiches Werk zurückblicken, dessen Beständigkeit sich nicht zuletzt seiner konzeptuellen Herangehensweise an das ‚alte‘ Medium Malerei verdankt. Ungeachtet seiner breiten Popularität ist es darum die reflektierte Distanz des Künstlers, die sein Schaffen über Jahrzehnte fruchtbar gemacht hat und ihm auch heute noch Aktualität verleiht.

Die Randnotiz „Alles sehen, nichts begreifen“ zu der Arbeit 4 Glasscheiben von 1967 könnte als Leitmotiv gelten, unter dem Richter über verschiedenste Modi und Medien das Problem der Sichtbarkeit in ihrer Totalität und Transparenz befragt – und mit ihr die Möglichkeiten und Grenzen der visuellen Rezeption sowie der daraus gewonnenen Erkenntnis. Dabei bleibt als Aporie die unüberwindbare Diskrepanz von sinnlicher Erscheinung und rationalem Verständnis bestehen, die zugleich den charakteristischen Spannungsbogen in Richters systematisch-disparatem Bilderkosmos markiert.

Abb. 1: Gerhard Richter, WAR CUT, Köln/Paris 2004, S. 169–170.

Obwohl sein Werk aus kunsthistorischer Sicht wiederholt als kritische Revision der Geschichte und Fortsetzung der Malerei im Medienzeitalter wahrgenommen worden ist, einem Zeitalter, in dem klassische Dichotomien wie ‚abstrakt‘ und ‚gegenständlich‘ überwunden sind, weicht er doch nicht nur die Grenzen solcher künstlerischer Kategorien auf, sondern übergeht auch die Trennung von künstlerischen und nicht-künstlerischen Bildern. So untersucht er mit den Mitteln der Malerei allgemeine Probleme der Visualität und legt im offenen Bilddenken mit forschendem Blick eine Affinität gegenüber anderen Bild- und Wissenssystemen an den Tag, die mehr ist als bloße „Malerei über Malerei“ – allein das Spektrum der Themen und Techniken lässt sich kaum auf einen tautologischen Selbstkommentar reduzieren. Diese reichen von der frühen Auseinandersetzung mit massenmedialer Fotografie bis zur mathematischen Aleatorik der Farbraster-Bilder oder von den Verweisen auf Satellitentechnik im Künstlerbuch WAR CUT (Abb. 1) bis zu moderner Mikroskopie in Arbeiten wie Silikat (Abb. 2).

Abb. 2: Gerhard Richter, Silikat [855-3], 2003, Öl auf Leinwand, 290×290 cm, K20 Düsseldorf.

Doch es sind gerade die für ihre agnostische Leere bekannten Abstrakten Bilder, die auf vielen Ebenen ein Resonanzverhältnis zu wissenschaftlichen Visualisierungstechniken aufweisen, ohne direkten Bezug auf sie zu nehmen. Maßgeblich für diese Analogie ist Richters Konzept der Bildschöpfung und die daraus erwachsenden Qualitäten der Bildstruktur, die wiederum besondere Anforderungen an Wahrnehmung und Deutung dieser Werke stellen. Wenn er der Malerei schließlich eine „aufklärende und spekulierende Funktion“ zuspricht,[1]zeugt das von einem epistemischen Bildanspruch, der auf eine Ebene jenseits ästhetischen Wohlgefallens und expliziter Inhalte verweist.

Im Folgenden geht es mit Blick auf die weit verbreitete Bildpraxis der Wissenschaften, wo Erkenntnisse durch Visualisierungen gewonnen, dargestellt und ausgewertet werden, um wesentliche Parallelen zwischen Richters Vorgehensweisen und wissenschaftlich-technischen Bildstrategien. Oftmals entzieht sich das dort sichtbar Gemachte der physiologischen Wahrnehmung oder liegt gänzlich außerhalb des optischen Bereichs.[2] Ihr apparativer Ursprung und ihre formale Codierung verleihen diesen vielgestaltigen Bildern einen abstrakten Charakter – was sich sowohl phänomenal wie auch bildsemantisch äußert. Die daraus folgenden Bedingungen des Sehens und Deutens sowie die Frage nach dem Realitätsbezug solcher Bildwelten findet seine Entsprechung in Richters künstlerischer Problemstellung. Dessen Ansatz gründet gerade im Versuch, das kreative Subjekt samt Pinselstrich und Sentiment zu ‚eliminieren‘, um als entsubjektivierte Praxis neue Gültigkeit zu erlangen. So ist Richters Werk seit den frühen 1960ern von einem technischen Denken geprägt, das sein Malereiverständnis und mit ihm die Rolle der Abstraktion maßgeblich verändert. Sein Bemühen um ein ‚sinnvolles‘ Bild angesichts seiner fundamentalen Skepsis gegenüber dem Visuellen steht hierbei dem pragmatischen Bilderglauben der Naturwissenschaften diametral gegenüber.

Von ‚sinnloser‘ Malerei zum technischen Bild

Als Richter 1962 seine ersten Fotomalereien herstellt, geschieht das im Bewusstsein einer „Sinnkrise“ der Malerei, die ihm als subjektives Ausdrucksmedium nunmehr obsolet erscheint.[3] Vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie wie auch historischer Umbrüche durch neue Medien und einen veränderten Kunstbegriff sieht er sich gezwungen, die eigenen künstlerischen Mittel kritisch zu reflektieren: Um weiter zu malen, muss er „über der eigenen Hand stehen“.[4] Die Negativ-Strategie der mechanisch-indifferenten Malerei nach gefundenen Fotografien erweist sich als Ausweg aus der künstlerischen Rechtfertigungsnot – der Verzicht auf inhaltliche Aussage, Komposition und subjektive Handschrift eröffnet ihm einen „Frei­raum aus Stil- und Bedeutungslosigkeit“, wo Malerei wieder möglich wird.[5]
Essenziell ist hierfür die veränderte Künstlerrolle, in der die kreative Arbeit an technische Instanzen wie Fotovorlage, Episkop und Zufall delegiert wird. Gezielt schafft Richter über die apparativ hergestellte Fotografie, die er als gegebenes Material einer sekundären Sichtung unterzieht, eine Distanz zum Motiv und setzt dieses durch Raster und Projektion in einem mechanisierten Malprozess um. Das sonst emotional und intellektuell bestimmte Künstlersubjekt wird in eine ‚malende Maschine‘ transformiert, die „sieht und macht […], was [sie] nicht erkannt hat“.[6] Damit definiert Richter die Malerei von Schöpfung in Verfahren um und eignet sich die Eigenqualitäten der technischen Mittel als bestimmende Prinzipien seiner Malerei an.

Seit ihren Anfängen gilt die Fotografie als wissenschaftliches Paradigma der instrumentellen Objektivität, woraus das neuzeitliche Ideal der ‚leibfreien Erkenntnis‘ spricht.[7] Als vermeintlich authentische Aufzeichnungstechnik ist nahezu jede fotografische Bilderscheinung unabhängig von ihrer Ähnlichkeit zum Referenten allein durch ihren indexikalischen Charakter legitimiert. Die für die Fotografie wesentliche Indexikalität und Evidenz werden bei Richter zur referenzlosen Selbstevidenz der Bildoberfläche, die zwischen einer homogenen All-Over-Abstraktion aus Farbmaterie und Illusion oszilliert.

In der Wissenschaft ist man von Talbots ‚Inskription‘ der Natur heute längst bei komplexen Übersetzungs- und Rechenverfahren angelangt, die in einer weitgehend automatisierten Kette aus Datenerhebung, Aufzeichnung, Sichtung und Verarbeitung bestehen. Doch auch für digitale Visualisierungen gilt: Was zu sehen ist, bestätigt sich im selbstrepräsentativen Sichtbar-Sein.[8] Auch wenn die ‚Sichtbarmachung‘ eine technische Übersetzung ist, bleibt der materielle Kontakt als Kriterium der Indexikalität weiterhin bestehen. Sowohl die Leuchtspuren in Nebelkammer und modernen Teilchendetektoren als auch die gestuften Farbfelder in Spektrogrammen zeugen von einer anhand festgelegter Parameter generierten Bildform, die der technischen Apparatur entspringt und erst im Nachhinein rezipiert wird.[9]

Abb. 3: Gerhard Richter, Abstraktes Bild [858-2/4], 1999, Öl auf Alucobond, 50x72cm, San Francisco Museum of Modern Art.

Während für wissenschaftliche Bilder die Qualitäten technischer Autorschaft und Selbstevidenz für gegenständliche wie auch abstrakte Formen gelten, künden ebenso bei Richter die ab 1976 entstandenen Abstrakten Bilder von einer radikalen Fortführung des technischen Konzepts der Fotomalereien. Der in letzteren anklingende malerische Doppelcharakter aus Abstraktion und Gegenständlichkeit wird nun auf entgegengesetzte Art evoziert, nämlich durch apriorische Inhaltslosigkeit und willkürliche Form. Die asketische Negation der Fotomalerei wendet sich um in ein positives und exzessives Schaffensprinzip mit einem reichen Spektrum aus Komposition, Farbe und Faktur. Ihr Spiel untergräbt sogleich die eigenen Bildparameter, da ihre beliebige Kombination die Überführbarkeit aller malerischen Mittel als Elemente und Aggregatzustände derselben Materie unter Beweis stellt. Serien wie Abstraktes Bild [858](Abb. 3) führen den metamorphen Charakter der Bildmittel anschaulich vor Augen.

Im langwierigen Entstehungsprozess schichten sich mechanisch reduzierte, durch Werkzeuge wie Rakel und lange Pinsel distanzierte Malvorgänge, die sich als indexikalische Handlungsspur im Bild manifestieren. Als Schnittpunkt von transitorischem Mal-Akt und referenzlosem „Bildereignis“[10]erzeugt die gleichmäßige, repetitive Gestik eine selbstevidente Erscheinung in der Farbmaterie. Ihre Strukturen sind bestimmt von den irregulären Wechselwirkungen der übereinander liegenden Schichten, die sich im offenen Prozess ausdifferenzieren, sodass auch der Maler am Ende vor vollendeten Tatsachen steht.

Richters technisch gefasste Autorschaft und die daraus resultierende evidente Faktizität der automatisierten Malerei ersetzen subjektiven Entwurf und Bildinhalt. Dafür zeichnen sie die Realität der malerischen Aktion auf, sei es als erkennbare Spur oder unerklärliche Struktur, die nur insofern auf den Maler verweist, als dieser sie mit Sicherheit hervorgebracht hat. Die Beschreibung seiner Arbeitsweise als „Vielzahl von Ja-Nein-Entscheidungen mit einer Ja-Entscheidung am Ende“ gleicht strukturell einer digitalen Operation und macht den Maler zu einer handelnden ‚Reaktionsmaschine‘.[11] Einzig die Ausgangsparameter wie Medium, Format, Arbeitsgerät, Gestik und Grundfarben legt der Künstler fest, woraufhin die Bilderzeugung eigendynamisch abläuft, bis er den Prozess beendet.

Richters Buch WAR CUT spielt wiederum die Indexikalität fotografischer Dokumentation gegen die abstrakte Bildstruktur der Malerei aus: Auf kartografische Weise scannt das Kamera-Auge die Bildoberfläche und mimt die Satellitentechnik, die etwa mit Remote Sensing durch Falschfarben funktional codierte Strukturen konstruieren kann. Wo fotografische Informationen mit geologischen Datenmengen konfiguriert werden, verschwimmt die reale Bildgrundlage zu virtuellen Artefakten.

Abb. 4: Gerhard Richter, Schematische Übersicht aller Buchseiten von WAR CUT, S. 326.

Richter untersucht – wie in einer Laborsituation – das Abstrakte Bild [648-2] von 1987 durch die technische ‚Re-Vision‘ der Kamera und synthetisiert das Material zur Form des Fotobuchs. Die körperliche Position des Fotografen lässt sich nicht verorten – er wird zum unsichtbaren Operator hinter der Kamera wie ein Wissenschaftler hinter dem Instrument. Auch die Text-Bild-Struktur im Endergebnis der Publikation stellt sich gemäß einem mathematischen Schema quasi von selbst her (Abb. 4). Die wechselnden Kameraeinstellungen erzeugen abstrakte Muster, die sich vom fotografierten Objekt gelöst haben, sodass ihre ‚entwurzelte‘ Indexikalität einer ortlosen Bildevidenz weicht.

In der vierteiligen Serie Silikat schafft Richter ein fotomalerisches Pendant zur befremdlichen Visualität des Rastertunnelmikroskops, welches im taktilen Messverfahren in die Nano-Sphäre ‚hineinblickt‘. Wie ihre Vorlage verwischt auch die Malerei ihren taktilen Ursprung und zeigt eine unscharfe, doch überaus konkrete Realität, die sich ohne erkennbare Referenz in permanenten Wiederholungen selbst bestätigt. Hier kommt es zu einer komplexen Überlagerung von technischer Sichtbarkeit und physischer Wahrnehmung, von ungegenständlicher Struktur und mikroskopischer Präzision: Die oszillierende Oberfläche des malerischen Großformats scheint die wissenschaftliche Realität infrage zu stellen.[12]

Neben der Bildschöpfung sind es vor allem strukturelle Charakteristika, die Richters Werke als technisch auszeichnen. Sowohl im Einzelbild als auch im Zusammenspiel verschiedener Werkgruppen, Medien und Formate besteht eine Spannung aus Fragment und Universalität, die dimensionale Verschiebungen zwischen Makro- und Mikroebenen hervorruft.

Am wissenschaftlich-technischen Bild zeigt sich diese Seite meist im Doppelstatus zwischen Einzelfall und universeller Aussage. Als akzidenteller Ausschnitt hält ein Bild punktuelle Ereignisse fest und bezieht seinen Sinn durch das Verhältnis zu potenziellen Vergleichsfällen. Da es für eine empirisch-experimentelle Praxis kein endgültiges Einzelbild gibt, sind Pluralität, Wiederholbarkeit und Fortsetzbarkeit kennzeichnend für ihre Darstellungsformen. So wie sie inhaltlich auf theoretische Kontexte angewiesen sind, stehen unterschiedliche Visualisierungen auch miteinander in einem Diskurs, in dem sie sich als Teile eines epistemischen Systems ergänzen.[13]

Schon ihre Bildstruktur ist im Wesen fragmentarisch: Haben beispielsweise Spektrogramme und Satellitenbilder ein- und ausblendbare Messbereiche und Kanäle, synthetisiert auch ein Magnetresonanz-Schichtbild eine Vielzahl einzelner Scans, die sich wieder isolieren lassen, zu einer virtuellen Ganzheit. Teilchendetektoren kreieren Bilder aus partiellen Einzelwerten und jedes Diagramm besteht aus einem Netz von Messpunkten, deren Dichte und Ausschnittgröße variiert werden können. Selbstähnliche Fraktale vereinen buchstäblich das Fragmentarische mit dem Universellen, da sie aufgrund ihrer Skaleninvarianz sowohl Mikro- als auch Makroebene durchdringen – auf extreme Weise veranschaulichen sie damit die offene Dimensionalität des Maßstabs, die auch in Mikroskop- und Satellitenaufnahmen anklingt.

Die unterschiedlichen Werkgruppen bilden bei Richter ein verwobenes System, in dem Stile und Bildstrategien argumentativ aufeinander verweisen. Insbesondere die Abstrakten Bilder gewinnen ihre Lesbarkeit erst im Kontext und entwickeln im Laufe der Jahre einen eigenen Diskurs. Ihre unbegrenzte Serialität, die aus den wiederholten Anläufen des Malvorgangs entsteht, verstärkt die Ähnlichkeit von Richters Bildpraxis zu wissenschaftlichen Laborexperimenten. Das einzelne Bild setzt sich wie ein Kompositgebilde aus distinkten, akkumulierten Teil-Schichten zusammen, was sich in seriellen Variationen und Zustandsfotos verfolgen lässt. Dabei werden mit jeder neuen Ebene Bildqualitäten addiert und andere ausgeblendet: Vermalungen, Linienmuster, Pinsel- und Rakelspuren durchziehen die Bildfläche wie operative Instrumente oder Filter, sodass die Leinwand einem hierarchielosen Anzeigefeld aus Bildpunkten gleicht, in dem (ähnlich einem Diagramm oder Bildschirm) jede malerische Geste registriert wird. Das metrische Prinzip technischer Bilder spiegelt sich im rhythmischen Einsatz der Bildmittel wider, die Koordinatennetze aus Gitter- oder Rasterformation aufspannen, auf denen die Malspuren seismografische Linien und frequenzartige Muster hinterlassen. Ihre detailreiche Oberfläche bewirkt zudem eine Verunsicherung der Dimensionen, da die strukturellen Wiederholungen der Bildebenen Format und Ausschnittgröße variabel machen.

Die Ausschnitte in WAR CUT paraphrasieren den Zoom der Satelliten und wechseln dabei so fließend zwischen den Dimensionen, dass eine Unterscheidung von nah und fern aus Schärfe und Unschärfe unmöglich wird, womit sie die Macht der Supervision ad absurdum führen. Die bruchstückhaften Text-Bild-Elemente zeigen einen Exzess der Fragmente, deren Disparatheit durch den übergreifenden formalen Rahmen von Foto und Zeitungsausschnitt zusammengehalten wird. Alle ‚empirischen‘ Bild- und Textwerte werden aus der Grundlage des Gemäldes beziehungsweise der Zeitung bezogen.

In Silikat wird schließlich der Fragmentcharakter des technischen Bildes selbst zum Motiv. Seine metrische Rasterstruktur verwandelt die Malerei in ein kristallines Netz aus Punktformationen. So wie die Variationen gänzlich verschiedene Bilder präsentieren, werden bei der Rastertunnelmikroskopie tatsächlich durch minimale Umstellungen enorm abweichende Bildergebnisse erzielt.[14] Das Größenverhältnis von Nanowelt und Betrachterraum wird jedoch radikal umgekehrt, indem die magnifizierende Kraft des Mikroskops auf die Leinwand übertragen und die atomare Beschaffenheit aller Materie als monumentale Vision präsentiert wird.

Der wissenschaftliche Umgang mit technisch erzeugten Bildern erweist sich bei aller Objektivität durchaus als subjekt- und kontextabhängig, so ist jedes Bild bedingt durch Hypothesen, Voreinstellungen, Vor-Bilder und Antizipationen.[15] Da Erkenntnisse durch visuelle Auswertung gewonnen werden, müssen Bilder dem menschlichen Auge entsprechen, was darstellerische Konventionen erfordert.[16] Die Bildauswertung erfolgt als dynamischer Gestaltungsprozess zwischen ‚denkendem‘ Auge und gestaltender Hand, in dem visuelles Training und Vorwissen, Vergleiche und peer review zusammenwirken – „Bildkompetenz“ meint schließlich das aktive Rezeptions- und Bearbeitungsvermögen derjenigen, die nicht nur Muster lesen, sondern auch Bildresultate optimieren und Unbekanntes entdecken können.[17] Auch von emotionalen Assoziationen sind die Bilder nicht frei: Sowohl vertrautes Vokabular („Apfelmännchen“) als auch „Schönheit“ und „Stimmung“ prägen den Fachjargon, wobei individuelle Differenzen mit der Komplexität der Bilder zunehmen.

Richter sieht sich mit einer Verschränkung von distanzierter Arbeitsweise und subjektiver Rezeption konfrontiert, die dem Schaffensprozess eine emotionale Färbung verleiht. Beim Betrachten des ‚Hinter-dem-Rücken-Entstandenen’ wird er zum ersten Rezipienten: „Das Sehen ist […] der entscheidende Akt, der letztlich den Produzenten und den Betrachter gleichstellt“.[18] Der Malprozess gleicht einer fortwährenden Trial-and-Error-Revision, wo ‚blinde‘ Aktivität mit visueller Analyse wechselt. Obwohl es kein optimiertes Bild gibt, strebt Richter einen Endzustand an, der etwas Interessantes freilegt. In seiner Hoffnung auf Unbekanntes und Unverständliches, das nicht zuletzt aus zufälligen Bildstörungen erwächst, liegt eine Parallele zur epistemischen Mustersuche durch vergleichendes Sehen mit aktivem Bildgedächtnis.

Kaum ein Auge kann sich der diffusen Emotionalität und Assoziationskraft der Abstrakten Bilder entziehen. Ungeachtet seines antisubjektiven Konzepts bejaht Richter diese rezeptionsästhetische Seite emphatisch, wie evokative Bildtitel mit Naturbegriffen oder Namen belegen.[19] Dass es jedoch nur willkürliche Hinweise sind, zeigt ihre ambivalente Offenheit. Richter ist sich der Macht des ästhetischen Überschusses wohl bewusst und reizt in WAR CUT diese (Ent)Täuschung aus. Seine eloquenten Abstraktionen beweisen nicht nur die Phrase „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“[20], sondern verweisen zugleich auf deren epistemische Problematik. Während wissenschaftliche Bilder darauf abzielen, klar verstanden zu werden und einen Inhalt argumentativ zu vermitteln, sind Richters Bilder nur der faktische Ausgangspunkt einer subjektiven Seherfahrung, die auf keine feste Pointe hinausläuft. Sie verlangen von den BetrachterInnen eine visuelle Arbeit am Bild als ‚epistemischem Ding‘, dessen stumme Überfülle sie physisch, intellektuell und emotional fordert.

Modelle der Realität

Entgegen ihrem Anschein geben technische Visualisierungen keinen direkten Einblick in die Natur, sondern unterliegen arbiträren, hypothetischen und pragmatischen Regeln, was sie zu Modellen der Realität macht.[21] Ihr Kriterium ist die epistemische Ergiebigkeit, wonach sie informativ, formal überzeugend und gut erfassbar sein sollen. Das „vorstellende Bilden“ erschließt Repräsentationsräume für neue Erkenntnisgegenstände, sodass eine „partielle Blindheit“ gegenüber ihrer Fiktionalität nötig ist, um das Erkenntnispotenzial der Bilder produktiv auszuschöpfen.[22]

Andererseits führt ihre suggestive Erscheinung leicht zu Realitätsverfälschungen, zumal die Bildtechnik zunehmend ‚transparent‘ wird: „Als ließe sich durch Steigerung der Technik ihr Einsatz überwinden“, wird nur noch die erzeugte Sichtbarkeit ohne ihre Mittel wahrgenommen.[23] Vor allem in Bereichen, die sich unserer bloßen Wahrnehmung entziehen, haben Bildgebungsverfahren ein epistemisches Monopol. Ihre Fülle und illusionistische Perfektion fördern die Vorstellung einer allansichtig-kalkulierbaren Welt, deren wissenschaftliche Abstraktionen jedoch Risiken bergen.

Die technische Autopoiesis spannt sich bei Richter ebenfalls zwischen exponierter Leere und spekulativem Inhalt auf. Wenn er den Abstrakten Bildern einen positiven Gehalt als „Modelle der Wirklichkeit“[24] zuspricht, gründet er dies auf ihrer faktischen Sichtbarkeit, die in Analogie zur Realität unexpliziert und selbstverständlich besteht. Entleert von Referenzen ist die Malerei „eine bessere Möglichkeit, das Unanschauliche, Unverständliche anzugehen, weil sie in direktes­ter Anschaulichkeit, also mit allen Mitteln der Kunst ‚nichts‘ schildert“.[25] Ihr Grundanliegen, sich ein Bild von der Welt zu machen und dabei den Erkenntnishorizont zu entgrenzen, kommt aus anthropologischer Sicht den Ambitionen der Wissenschaft erstaunlich nahe. Dank des konstruktiven Modellbegriffs im Bild überwindet Richter sein selbstempfundenes Unvermögen, ein gültiges Bild zu kreieren, da es „Ignoranz und Leichtsinn“ bedarf, um trotzdem weiterzumalen.[26] Erst die Bereitschaft, experimentell ins Ungewisse zu handeln, ermöglicht künstlerische Utopie und produktive Freiheit.

Anders als die Wissenschaft bleibt Richter bei seiner agnostischen Haltung gegenüber der Realität und forciert das Problem des visuellen Weltzugangs in der kontingenten Visualität seiner Bilder, die eine Nicht-Darstellbarkeit der Realität demonstrieren sollen.[27] Wo die Wissenschaft sich um Antworten bemüht, formuliert Richter seine Erkenntnis als Zweifel. Aus der autonomen Distanz der Kunst klärt er über die Realität epistemischer Bildwelten ebenso auf wie über die Realität, die diese erforschen wollen. Seine malerische Abstraktion reflektiert die Abstraktion von Wissen überhaupt, was im Rückschluss jede Visualität mit einem potenziellen Informationswert auflädt. Hier werden sich die BetrachterInnen ihres durch Konditionierung veränderten Sehens gewahr, das heute auf technisch-abstrakte Bildformen mit unwillkürlichen Leseimpulsen reagiert. Indem Richters Abstraktionen diesen offenen, trainierten Blick aktivieren, wecken sie indirekt ein kritisches Bewusstsein für den heutigen Bildumgang und Wissensbegriff. Im scheinbaren Eingeständnis ihrer epistemischen ‚Schwäche‘ beweist Richters Kunst die Wahrheit ihres aufklärerischen Nichtwissens.


[1] Gerhard Richter, Notizen 1986, in: Dietmar Elger/Hans Ulrich Obrist (Hg.), Gerhard Richter. Text 1961-2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2008 (1993), S. 159–164, hier S. 162.
[2] Vgl. Bettina Heintz/Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, S. 12–13.
[3] Vgl. Johannes Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern-Ruit 1997, S. 178–179.
[4] Peter Osborne, Painting Negation: Gerhard Richter’s Negatives, in: October 62 (1992), S. 102–114, hier S. 111.
[5] Götz Adriani (Hg.), Von der Lust, etwas Schönes zu malen, in: Gerhard Richter. Bilder aus privaten Sammlungen, Ausst.-Kat. Baden-Baden 2008, Ostfildern 2008, S. 9–35, hier S. 13; vgl. Elger/Obrist 2008, S. 163.
[6] Gerhard Richter, Notizen 1964–1965, in: Elger/Obrist 2008, S. 29–35, hier S. 32.
[7] Vgl. Heintz/Huber 2001, S. 18–19.
[8] Cornelius Borck, Die Unhintergehbarkeit des Bildschirms, in: Heintz/Huber 2001, S. 383–394, S. 389.
[9] Vgl. Heinz-Otto Peitgen in: Florian Rötzer (Hg.), Das neue Bild der Welt – Wissenschaft und Ästhetik, in: Kunstforum International, Bd. 124 (1993), S. 111–119, hier S. 115–116.
[10] Ulrich Loock, Das Ereignis des Bildes, in: ders./Denys Zacharopoulos (Hg.), Gerhard Richter, München 1985, S. 81–125, S. 107.
[11] Gerhard Richter, Notizen 1990, in: Elger/Obrist 2008, S. 252–254, hier S. 252; vgl. Armin Zweite, Sehen, Reflektieren, Erscheinen. Anmerkungen zum Werk zu Gerhard Richter, in: Gerhard Richter, Ausst.-Kat. Düsseldorf/München 2005, Düsseldorf 2005, S. 12–100, hier S. 83.
[12] Vgl. Armin Zweite, Die ‚Silikat‘-Bilder von Gerhard Richter und andere Mikrostrukturen, in: Gerhard Richter. Silikat, Kulturstiftung der Länder/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2007, S. 6–63.
[13] Wie Anm. 2.
[14] Vgl. Roland Wiesendanger, Scanning Probe Microscopy and Spectroscopy. Methods and Applications, Cambridge 1994, S. 155.
[15] Vgl. Olaf Breidbach, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 37.
[16] Vgl. Martin Kemp, Seeing and Picturing. Visual Representation in Twentieth-Century Science, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.), Science in the Twentieth Century, Amsterdam 1997, S. 361–391, hier S. 368.
[17] Vgl. Arnold Benz, Das Bild als Bühne der Mustererkennung. Ein Beispiel aus der Astrophysik, in: Heintz/Huber 2001, S. 65–78, hier S. 72, 76.
[18] Interview mit Sabine Schütz 1990, in: Elger/Obrist 2008, S. 256–263, hier S. 263.
[19] Vgl. Interview mit Benjamin H. D. Buchloh 1986, in: ebd., S. 164–189, hier 182–183.
[20] Wie Anm. 2.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. Hans-Jörg Rheinberger et al. (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 9.
[23] Borck 2001, S. 388.
[24] Wie Anm. 18, S. 189.
[25] Gerhard Richter, Text für Katalog documenta 7 1982, in: Elger/Obrist 2008, S. 121.
[26] Gerhard Richter, Notizen 1985, in: ebd., S. 140–144, hier S. 144.
[27] Vgl. Interview mit Rolf Schön 1972, in: ebd., S. 59–61, hier S. 60.

Quellennachweis: Ce Christina Jian, Erkenntnis als Zweifel. Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.
com/?p=1065.

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Die Zentrale

Die Zentrale weiß alles besser. Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek. In der Zentrale sind die Männer mit unendlichem Stunk untereinander beschäftigt, aber sie klopfen dir auf die Schulter und sagen: »Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale … «

Die Zentrale hat zunächst eine Hauptsorge: Zentrale zu bleiben. Gnade Gott dem untergeordneten Organ, das wagte, etwas selbständig zu tun! Ob es vernünftig war oder nicht, ob es nötig war oder nicht, ob es da gebrannt hat oder nicht –: erst muß die Zentrale gefragt werden. Wofür wäre sie denn sonst Zentrale! Dafür, daß sie Zentrale ist! Merken Sie sich das. Mögen die draußen sehen, wie sie fertig werden!

In der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen. Wer nämlich seine kleine Arbeit macht, der mag klug sein – schlau ist er nicht. Denn wäre er’s, er würde sich darum drücken, und hier gibt es nur ein Mittel: das ist der Reformvorschlag. Der Reformvorschlag führt zur Bildung einer neuen Abteilung, die – selbstverständlich – der Zentrale unterstellt, angegliedert, beigegeben wird… Einer hackt Holz, und dreiunddreißig stehen herum – die bilden die Zentrale.

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Text: Kurt Tucholsky (alias Peter Panter), Die Zentrale, in: Die Weltbühne, Nr. 13, 31.03.1925, S. 488.

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Editorial

Bei der Konzeption dieser Publikation als einem „Magazin für Kunst und Ästhetik“ war von Beginn an klar, dass sie eine weitgefasste Plattform sein soll, für Überlegungen, die nicht bloß auf Phänomene der Kunst gerichtet sind, sondern auch auf jene Fragen und Probleme, die sich auf die Bedingungen der Werkerfahrung und des Werkseins beziehen. Neben den kontextuellen Wahrnehmungsbedingungen, zu denen etwa Herstellung, Präsentation oder Dokumentation von Kunstwerken gehören, stehen dabei auch grundlegende Fragen der Wahrnehmung zur Debatte. Eine mögliche und dabei traditionsreiche Auseinandersetzung mit diesen Fragen verfolgt die philosophische Ästhetik. Als verhältnismäßig junge Disziplin gehört zu ihrem zentralen Gegenstandsbereich jene fundamentale Spannung, der sich jede wirkliche Beschäftigung mit Phänomenen der bildenden Kunst aussetzen muss: das Verhältnis zwischen sinnlicher Erfahrung und begrifflichem Denken. In ihrem Beitrag Erkenntnis als Zweifel thematisiert Ce Christina Jian wie Gerhard Richter in seiner Malerei mit diesem Spannungsmoment umgeht und dabei eine kritische Position gegenüber der pragmatischen Visualisierungspraxis der ‚harten’ Wissenschaften bezieht.

Sandra Beate Reimann untersucht die Besonderheiten und Ambivalenzen von Richard Serras Arbeit Dirk’s Pod auf dem Novartis Campus in Basel. Die Autorin zeigt auf, inwiefern die Werkerfahrung mit dem Motiv des Flusses und des Fließens verbunden ist, und welche Bedeutungen diesem Motiv in der spezifischen Umgebung des Campus zukommen.

In der Rubrik Grenzgänge werfen wir einen Blick auf die Berührungszonen zwischen Ästhetik und Politik. Juliane Rebentisch erläutert im E-Mail-Interview inwiefern Ästhetik als solche auf einen politischen Horizont perspektiviert ist und weshalb die ästhetische Erfahrung gesellschaftliches Potenzial impliziert.

Mit Blick auf die Logik der modernen Ökonomie thematisiert Maria Männig in ihrem Beitrag Artthe virtualized value wie sich die Konzeption und Entstehung des virtuellen Geldwerts auf die Geschichte der bildenden Kunst und deren zunehmend marktorientierte Strategien der Herstellung und Distribution beziehen lässt.

Die Bildstrecke für diese Ausgabe hat der Basler Künstler Walter Derungs gestaltet. Seine fotografischen Arbeiten setzen sich mit der spezifischen Qualität von Orten und Räumen auseinander und schaffen Bilder, die oft von einer intensiven Abwesenheit geprägt sind. Derungs hat für ALL-OVER eine Serie von Fotografien zusammengestellt, die den Titel Die Zentrale trägt, und damit auf einen Text von Kurt Tucholsky Bezug nimmt, der die Bildstrecke begleitet.

Burkhard Meltzer befasst sich in seinem Text mit der Zweideutigkeit von Design im Ausstellungskontext und zeigt anhand von Beispielen, wie unterschiedliche Situationen zu einer Verschiebung der Konventionen zwischen den Disziplinen Design und Kunst führen können.

Mit der Problematik der Dokumentation von Ausstellungen beschäftigt sich Katrin Kulik in ihrem Beitrag Die Macht der Dokumentation. Sie zeigt am Beispiel dreier Arbeiten von Ernst Wilhelm Nay auf der documenta III (1964) die frappante Divergenz von statischen und bewegten Aufnahmen einer Ausstellungssituation und thematisiert deren Auswirkungen auf die Werkrezeption.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg

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Ausgabe #3

Editorial

Ce Christina Jian
Erkenntnis als Zweifel
Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter

Sandra Beate Reimann
Raum im Fluss
Dirk’s Pod von Richard Serra

Dominique Laleg
Das Potenzial des Ästhetischen
Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik

Maria Männig
Art – the virtualized Value

Walter Derungs
Die Zentrale

Burkhard Meltzer
Der Vermittlungsschalter
Ausgestelltes Design zwischen Aktivismus und Zweideutigkeit

Katrin Kulik
Die Macht der Dokumentation
Reflexion über das Wahrnehmungsdispositiv Ausstellungsfotografie


Die vollständige Ausgabe von ALL-OVER #3 gibt es hier als PDF zum Download.

Quellennachweis: ALL-OVER, Nr. 3, Herbst/Winter 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=1125.

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