Erkenntnis als Zweifel

Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter

Mit seinen achtzig Jahren kann Gerhard Richter als einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Nachkriegskunst auf ein facettenreiches Werk zurückblicken, dessen Beständigkeit sich nicht zuletzt seiner konzeptuellen Herangehensweise an das ‚alte‘ Medium Malerei verdankt. Ungeachtet seiner breiten Popularität ist es darum die reflektierte Distanz des Künstlers, die sein Schaffen über Jahrzehnte fruchtbar gemacht hat und ihm auch heute noch Aktualität verleiht.

Die Randnotiz „Alles sehen, nichts begreifen“ zu der Arbeit 4 Glasscheiben von 1967 könnte als Leitmotiv gelten, unter dem Richter über verschiedenste Modi und Medien das Problem der Sichtbarkeit in ihrer Totalität und Transparenz befragt – und mit ihr die Möglichkeiten und Grenzen der visuellen Rezeption sowie der daraus gewonnenen Erkenntnis. Dabei bleibt als Aporie die unüberwindbare Diskrepanz von sinnlicher Erscheinung und rationalem Verständnis bestehen, die zugleich den charakteristischen Spannungsbogen in Richters systematisch-disparatem Bilderkosmos markiert.

Abb. 1: Gerhard Richter, WAR CUT, Köln/Paris 2004, S. 169–170.

Obwohl sein Werk aus kunsthistorischer Sicht wiederholt als kritische Revision der Geschichte und Fortsetzung der Malerei im Medienzeitalter wahrgenommen worden ist, einem Zeitalter, in dem klassische Dichotomien wie ‚abstrakt‘ und ‚gegenständlich‘ überwunden sind, weicht er doch nicht nur die Grenzen solcher künstlerischer Kategorien auf, sondern übergeht auch die Trennung von künstlerischen und nicht-künstlerischen Bildern. So untersucht er mit den Mitteln der Malerei allgemeine Probleme der Visualität und legt im offenen Bilddenken mit forschendem Blick eine Affinität gegenüber anderen Bild- und Wissenssystemen an den Tag, die mehr ist als bloße „Malerei über Malerei“ – allein das Spektrum der Themen und Techniken lässt sich kaum auf einen tautologischen Selbstkommentar reduzieren. Diese reichen von der frühen Auseinandersetzung mit massenmedialer Fotografie bis zur mathematischen Aleatorik der Farbraster-Bilder oder von den Verweisen auf Satellitentechnik im Künstlerbuch WAR CUT (Abb. 1) bis zu moderner Mikroskopie in Arbeiten wie Silikat (Abb. 2).

Abb. 2: Gerhard Richter, Silikat [855-3], 2003, Öl auf Leinwand, 290×290 cm, K20 Düsseldorf.

Doch es sind gerade die für ihre agnostische Leere bekannten Abstrakten Bilder, die auf vielen Ebenen ein Resonanzverhältnis zu wissenschaftlichen Visualisierungstechniken aufweisen, ohne direkten Bezug auf sie zu nehmen. Maßgeblich für diese Analogie ist Richters Konzept der Bildschöpfung und die daraus erwachsenden Qualitäten der Bildstruktur, die wiederum besondere Anforderungen an Wahrnehmung und Deutung dieser Werke stellen. Wenn er der Malerei schließlich eine „aufklärende und spekulierende Funktion“ zuspricht,[1]zeugt das von einem epistemischen Bildanspruch, der auf eine Ebene jenseits ästhetischen Wohlgefallens und expliziter Inhalte verweist.

Im Folgenden geht es mit Blick auf die weit verbreitete Bildpraxis der Wissenschaften, wo Erkenntnisse durch Visualisierungen gewonnen, dargestellt und ausgewertet werden, um wesentliche Parallelen zwischen Richters Vorgehensweisen und wissenschaftlich-technischen Bildstrategien. Oftmals entzieht sich das dort sichtbar Gemachte der physiologischen Wahrnehmung oder liegt gänzlich außerhalb des optischen Bereichs.[2] Ihr apparativer Ursprung und ihre formale Codierung verleihen diesen vielgestaltigen Bildern einen abstrakten Charakter – was sich sowohl phänomenal wie auch bildsemantisch äußert. Die daraus folgenden Bedingungen des Sehens und Deutens sowie die Frage nach dem Realitätsbezug solcher Bildwelten findet seine Entsprechung in Richters künstlerischer Problemstellung. Dessen Ansatz gründet gerade im Versuch, das kreative Subjekt samt Pinselstrich und Sentiment zu ‚eliminieren‘, um als entsubjektivierte Praxis neue Gültigkeit zu erlangen. So ist Richters Werk seit den frühen 1960ern von einem technischen Denken geprägt, das sein Malereiverständnis und mit ihm die Rolle der Abstraktion maßgeblich verändert. Sein Bemühen um ein ‚sinnvolles‘ Bild angesichts seiner fundamentalen Skepsis gegenüber dem Visuellen steht hierbei dem pragmatischen Bilderglauben der Naturwissenschaften diametral gegenüber.

Von ‚sinnloser‘ Malerei zum technischen Bild

Als Richter 1962 seine ersten Fotomalereien herstellt, geschieht das im Bewusstsein einer „Sinnkrise“ der Malerei, die ihm als subjektives Ausdrucksmedium nunmehr obsolet erscheint.[3] Vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie wie auch historischer Umbrüche durch neue Medien und einen veränderten Kunstbegriff sieht er sich gezwungen, die eigenen künstlerischen Mittel kritisch zu reflektieren: Um weiter zu malen, muss er „über der eigenen Hand stehen“.[4] Die Negativ-Strategie der mechanisch-indifferenten Malerei nach gefundenen Fotografien erweist sich als Ausweg aus der künstlerischen Rechtfertigungsnot – der Verzicht auf inhaltliche Aussage, Komposition und subjektive Handschrift eröffnet ihm einen „Frei­raum aus Stil- und Bedeutungslosigkeit“, wo Malerei wieder möglich wird.[5]
Essenziell ist hierfür die veränderte Künstlerrolle, in der die kreative Arbeit an technische Instanzen wie Fotovorlage, Episkop und Zufall delegiert wird. Gezielt schafft Richter über die apparativ hergestellte Fotografie, die er als gegebenes Material einer sekundären Sichtung unterzieht, eine Distanz zum Motiv und setzt dieses durch Raster und Projektion in einem mechanisierten Malprozess um. Das sonst emotional und intellektuell bestimmte Künstlersubjekt wird in eine ‚malende Maschine‘ transformiert, die „sieht und macht […], was [sie] nicht erkannt hat“.[6] Damit definiert Richter die Malerei von Schöpfung in Verfahren um und eignet sich die Eigenqualitäten der technischen Mittel als bestimmende Prinzipien seiner Malerei an.

Seit ihren Anfängen gilt die Fotografie als wissenschaftliches Paradigma der instrumentellen Objektivität, woraus das neuzeitliche Ideal der ‚leibfreien Erkenntnis‘ spricht.[7] Als vermeintlich authentische Aufzeichnungstechnik ist nahezu jede fotografische Bilderscheinung unabhängig von ihrer Ähnlichkeit zum Referenten allein durch ihren indexikalischen Charakter legitimiert. Die für die Fotografie wesentliche Indexikalität und Evidenz werden bei Richter zur referenzlosen Selbstevidenz der Bildoberfläche, die zwischen einer homogenen All-Over-Abstraktion aus Farbmaterie und Illusion oszilliert.

In der Wissenschaft ist man von Talbots ‚Inskription‘ der Natur heute längst bei komplexen Übersetzungs- und Rechenverfahren angelangt, die in einer weitgehend automatisierten Kette aus Datenerhebung, Aufzeichnung, Sichtung und Verarbeitung bestehen. Doch auch für digitale Visualisierungen gilt: Was zu sehen ist, bestätigt sich im selbstrepräsentativen Sichtbar-Sein.[8] Auch wenn die ‚Sichtbarmachung‘ eine technische Übersetzung ist, bleibt der materielle Kontakt als Kriterium der Indexikalität weiterhin bestehen. Sowohl die Leuchtspuren in Nebelkammer und modernen Teilchendetektoren als auch die gestuften Farbfelder in Spektrogrammen zeugen von einer anhand festgelegter Parameter generierten Bildform, die der technischen Apparatur entspringt und erst im Nachhinein rezipiert wird.[9]

Abb. 3: Gerhard Richter, Abstraktes Bild [858-2/4], 1999, Öl auf Alucobond, 50x72cm, San Francisco Museum of Modern Art.

Während für wissenschaftliche Bilder die Qualitäten technischer Autorschaft und Selbstevidenz für gegenständliche wie auch abstrakte Formen gelten, künden ebenso bei Richter die ab 1976 entstandenen Abstrakten Bilder von einer radikalen Fortführung des technischen Konzepts der Fotomalereien. Der in letzteren anklingende malerische Doppelcharakter aus Abstraktion und Gegenständlichkeit wird nun auf entgegengesetzte Art evoziert, nämlich durch apriorische Inhaltslosigkeit und willkürliche Form. Die asketische Negation der Fotomalerei wendet sich um in ein positives und exzessives Schaffensprinzip mit einem reichen Spektrum aus Komposition, Farbe und Faktur. Ihr Spiel untergräbt sogleich die eigenen Bildparameter, da ihre beliebige Kombination die Überführbarkeit aller malerischen Mittel als Elemente und Aggregatzustände derselben Materie unter Beweis stellt. Serien wie Abstraktes Bild [858](Abb. 3) führen den metamorphen Charakter der Bildmittel anschaulich vor Augen.

Im langwierigen Entstehungsprozess schichten sich mechanisch reduzierte, durch Werkzeuge wie Rakel und lange Pinsel distanzierte Malvorgänge, die sich als indexikalische Handlungsspur im Bild manifestieren. Als Schnittpunkt von transitorischem Mal-Akt und referenzlosem „Bildereignis“[10]erzeugt die gleichmäßige, repetitive Gestik eine selbstevidente Erscheinung in der Farbmaterie. Ihre Strukturen sind bestimmt von den irregulären Wechselwirkungen der übereinander liegenden Schichten, die sich im offenen Prozess ausdifferenzieren, sodass auch der Maler am Ende vor vollendeten Tatsachen steht.

Richters technisch gefasste Autorschaft und die daraus resultierende evidente Faktizität der automatisierten Malerei ersetzen subjektiven Entwurf und Bildinhalt. Dafür zeichnen sie die Realität der malerischen Aktion auf, sei es als erkennbare Spur oder unerklärliche Struktur, die nur insofern auf den Maler verweist, als dieser sie mit Sicherheit hervorgebracht hat. Die Beschreibung seiner Arbeitsweise als „Vielzahl von Ja-Nein-Entscheidungen mit einer Ja-Entscheidung am Ende“ gleicht strukturell einer digitalen Operation und macht den Maler zu einer handelnden ‚Reaktionsmaschine‘.[11] Einzig die Ausgangsparameter wie Medium, Format, Arbeitsgerät, Gestik und Grundfarben legt der Künstler fest, woraufhin die Bilderzeugung eigendynamisch abläuft, bis er den Prozess beendet.

Richters Buch WAR CUT spielt wiederum die Indexikalität fotografischer Dokumentation gegen die abstrakte Bildstruktur der Malerei aus: Auf kartografische Weise scannt das Kamera-Auge die Bildoberfläche und mimt die Satellitentechnik, die etwa mit Remote Sensing durch Falschfarben funktional codierte Strukturen konstruieren kann. Wo fotografische Informationen mit geologischen Datenmengen konfiguriert werden, verschwimmt die reale Bildgrundlage zu virtuellen Artefakten.

Abb. 4: Gerhard Richter, Schematische Übersicht aller Buchseiten von WAR CUT, S. 326.

Richter untersucht – wie in einer Laborsituation – das Abstrakte Bild [648-2] von 1987 durch die technische ‚Re-Vision‘ der Kamera und synthetisiert das Material zur Form des Fotobuchs. Die körperliche Position des Fotografen lässt sich nicht verorten – er wird zum unsichtbaren Operator hinter der Kamera wie ein Wissenschaftler hinter dem Instrument. Auch die Text-Bild-Struktur im Endergebnis der Publikation stellt sich gemäß einem mathematischen Schema quasi von selbst her (Abb. 4). Die wechselnden Kameraeinstellungen erzeugen abstrakte Muster, die sich vom fotografierten Objekt gelöst haben, sodass ihre ‚entwurzelte‘ Indexikalität einer ortlosen Bildevidenz weicht.

In der vierteiligen Serie Silikat schafft Richter ein fotomalerisches Pendant zur befremdlichen Visualität des Rastertunnelmikroskops, welches im taktilen Messverfahren in die Nano-Sphäre ‚hineinblickt‘. Wie ihre Vorlage verwischt auch die Malerei ihren taktilen Ursprung und zeigt eine unscharfe, doch überaus konkrete Realität, die sich ohne erkennbare Referenz in permanenten Wiederholungen selbst bestätigt. Hier kommt es zu einer komplexen Überlagerung von technischer Sichtbarkeit und physischer Wahrnehmung, von ungegenständlicher Struktur und mikroskopischer Präzision: Die oszillierende Oberfläche des malerischen Großformats scheint die wissenschaftliche Realität infrage zu stellen.[12]

Neben der Bildschöpfung sind es vor allem strukturelle Charakteristika, die Richters Werke als technisch auszeichnen. Sowohl im Einzelbild als auch im Zusammenspiel verschiedener Werkgruppen, Medien und Formate besteht eine Spannung aus Fragment und Universalität, die dimensionale Verschiebungen zwischen Makro- und Mikroebenen hervorruft.

Am wissenschaftlich-technischen Bild zeigt sich diese Seite meist im Doppelstatus zwischen Einzelfall und universeller Aussage. Als akzidenteller Ausschnitt hält ein Bild punktuelle Ereignisse fest und bezieht seinen Sinn durch das Verhältnis zu potenziellen Vergleichsfällen. Da es für eine empirisch-experimentelle Praxis kein endgültiges Einzelbild gibt, sind Pluralität, Wiederholbarkeit und Fortsetzbarkeit kennzeichnend für ihre Darstellungsformen. So wie sie inhaltlich auf theoretische Kontexte angewiesen sind, stehen unterschiedliche Visualisierungen auch miteinander in einem Diskurs, in dem sie sich als Teile eines epistemischen Systems ergänzen.[13]

Schon ihre Bildstruktur ist im Wesen fragmentarisch: Haben beispielsweise Spektrogramme und Satellitenbilder ein- und ausblendbare Messbereiche und Kanäle, synthetisiert auch ein Magnetresonanz-Schichtbild eine Vielzahl einzelner Scans, die sich wieder isolieren lassen, zu einer virtuellen Ganzheit. Teilchendetektoren kreieren Bilder aus partiellen Einzelwerten und jedes Diagramm besteht aus einem Netz von Messpunkten, deren Dichte und Ausschnittgröße variiert werden können. Selbstähnliche Fraktale vereinen buchstäblich das Fragmentarische mit dem Universellen, da sie aufgrund ihrer Skaleninvarianz sowohl Mikro- als auch Makroebene durchdringen – auf extreme Weise veranschaulichen sie damit die offene Dimensionalität des Maßstabs, die auch in Mikroskop- und Satellitenaufnahmen anklingt.

Die unterschiedlichen Werkgruppen bilden bei Richter ein verwobenes System, in dem Stile und Bildstrategien argumentativ aufeinander verweisen. Insbesondere die Abstrakten Bilder gewinnen ihre Lesbarkeit erst im Kontext und entwickeln im Laufe der Jahre einen eigenen Diskurs. Ihre unbegrenzte Serialität, die aus den wiederholten Anläufen des Malvorgangs entsteht, verstärkt die Ähnlichkeit von Richters Bildpraxis zu wissenschaftlichen Laborexperimenten. Das einzelne Bild setzt sich wie ein Kompositgebilde aus distinkten, akkumulierten Teil-Schichten zusammen, was sich in seriellen Variationen und Zustandsfotos verfolgen lässt. Dabei werden mit jeder neuen Ebene Bildqualitäten addiert und andere ausgeblendet: Vermalungen, Linienmuster, Pinsel- und Rakelspuren durchziehen die Bildfläche wie operative Instrumente oder Filter, sodass die Leinwand einem hierarchielosen Anzeigefeld aus Bildpunkten gleicht, in dem (ähnlich einem Diagramm oder Bildschirm) jede malerische Geste registriert wird. Das metrische Prinzip technischer Bilder spiegelt sich im rhythmischen Einsatz der Bildmittel wider, die Koordinatennetze aus Gitter- oder Rasterformation aufspannen, auf denen die Malspuren seismografische Linien und frequenzartige Muster hinterlassen. Ihre detailreiche Oberfläche bewirkt zudem eine Verunsicherung der Dimensionen, da die strukturellen Wiederholungen der Bildebenen Format und Ausschnittgröße variabel machen.

Die Ausschnitte in WAR CUT paraphrasieren den Zoom der Satelliten und wechseln dabei so fließend zwischen den Dimensionen, dass eine Unterscheidung von nah und fern aus Schärfe und Unschärfe unmöglich wird, womit sie die Macht der Supervision ad absurdum führen. Die bruchstückhaften Text-Bild-Elemente zeigen einen Exzess der Fragmente, deren Disparatheit durch den übergreifenden formalen Rahmen von Foto und Zeitungsausschnitt zusammengehalten wird. Alle ‚empirischen‘ Bild- und Textwerte werden aus der Grundlage des Gemäldes beziehungsweise der Zeitung bezogen.

In Silikat wird schließlich der Fragmentcharakter des technischen Bildes selbst zum Motiv. Seine metrische Rasterstruktur verwandelt die Malerei in ein kristallines Netz aus Punktformationen. So wie die Variationen gänzlich verschiedene Bilder präsentieren, werden bei der Rastertunnelmikroskopie tatsächlich durch minimale Umstellungen enorm abweichende Bildergebnisse erzielt.[14] Das Größenverhältnis von Nanowelt und Betrachterraum wird jedoch radikal umgekehrt, indem die magnifizierende Kraft des Mikroskops auf die Leinwand übertragen und die atomare Beschaffenheit aller Materie als monumentale Vision präsentiert wird.

Der wissenschaftliche Umgang mit technisch erzeugten Bildern erweist sich bei aller Objektivität durchaus als subjekt- und kontextabhängig, so ist jedes Bild bedingt durch Hypothesen, Voreinstellungen, Vor-Bilder und Antizipationen.[15] Da Erkenntnisse durch visuelle Auswertung gewonnen werden, müssen Bilder dem menschlichen Auge entsprechen, was darstellerische Konventionen erfordert.[16] Die Bildauswertung erfolgt als dynamischer Gestaltungsprozess zwischen ‚denkendem‘ Auge und gestaltender Hand, in dem visuelles Training und Vorwissen, Vergleiche und peer review zusammenwirken – „Bildkompetenz“ meint schließlich das aktive Rezeptions- und Bearbeitungsvermögen derjenigen, die nicht nur Muster lesen, sondern auch Bildresultate optimieren und Unbekanntes entdecken können.[17] Auch von emotionalen Assoziationen sind die Bilder nicht frei: Sowohl vertrautes Vokabular („Apfelmännchen“) als auch „Schönheit“ und „Stimmung“ prägen den Fachjargon, wobei individuelle Differenzen mit der Komplexität der Bilder zunehmen.

Richter sieht sich mit einer Verschränkung von distanzierter Arbeitsweise und subjektiver Rezeption konfrontiert, die dem Schaffensprozess eine emotionale Färbung verleiht. Beim Betrachten des ‚Hinter-dem-Rücken-Entstandenen’ wird er zum ersten Rezipienten: „Das Sehen ist […] der entscheidende Akt, der letztlich den Produzenten und den Betrachter gleichstellt“.[18] Der Malprozess gleicht einer fortwährenden Trial-and-Error-Revision, wo ‚blinde‘ Aktivität mit visueller Analyse wechselt. Obwohl es kein optimiertes Bild gibt, strebt Richter einen Endzustand an, der etwas Interessantes freilegt. In seiner Hoffnung auf Unbekanntes und Unverständliches, das nicht zuletzt aus zufälligen Bildstörungen erwächst, liegt eine Parallele zur epistemischen Mustersuche durch vergleichendes Sehen mit aktivem Bildgedächtnis.

Kaum ein Auge kann sich der diffusen Emotionalität und Assoziationskraft der Abstrakten Bilder entziehen. Ungeachtet seines antisubjektiven Konzepts bejaht Richter diese rezeptionsästhetische Seite emphatisch, wie evokative Bildtitel mit Naturbegriffen oder Namen belegen.[19] Dass es jedoch nur willkürliche Hinweise sind, zeigt ihre ambivalente Offenheit. Richter ist sich der Macht des ästhetischen Überschusses wohl bewusst und reizt in WAR CUT diese (Ent)Täuschung aus. Seine eloquenten Abstraktionen beweisen nicht nur die Phrase „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“[20], sondern verweisen zugleich auf deren epistemische Problematik. Während wissenschaftliche Bilder darauf abzielen, klar verstanden zu werden und einen Inhalt argumentativ zu vermitteln, sind Richters Bilder nur der faktische Ausgangspunkt einer subjektiven Seherfahrung, die auf keine feste Pointe hinausläuft. Sie verlangen von den BetrachterInnen eine visuelle Arbeit am Bild als ‚epistemischem Ding‘, dessen stumme Überfülle sie physisch, intellektuell und emotional fordert.

Modelle der Realität

Entgegen ihrem Anschein geben technische Visualisierungen keinen direkten Einblick in die Natur, sondern unterliegen arbiträren, hypothetischen und pragmatischen Regeln, was sie zu Modellen der Realität macht.[21] Ihr Kriterium ist die epistemische Ergiebigkeit, wonach sie informativ, formal überzeugend und gut erfassbar sein sollen. Das „vorstellende Bilden“ erschließt Repräsentationsräume für neue Erkenntnisgegenstände, sodass eine „partielle Blindheit“ gegenüber ihrer Fiktionalität nötig ist, um das Erkenntnispotenzial der Bilder produktiv auszuschöpfen.[22]

Andererseits führt ihre suggestive Erscheinung leicht zu Realitätsverfälschungen, zumal die Bildtechnik zunehmend ‚transparent‘ wird: „Als ließe sich durch Steigerung der Technik ihr Einsatz überwinden“, wird nur noch die erzeugte Sichtbarkeit ohne ihre Mittel wahrgenommen.[23] Vor allem in Bereichen, die sich unserer bloßen Wahrnehmung entziehen, haben Bildgebungsverfahren ein epistemisches Monopol. Ihre Fülle und illusionistische Perfektion fördern die Vorstellung einer allansichtig-kalkulierbaren Welt, deren wissenschaftliche Abstraktionen jedoch Risiken bergen.

Die technische Autopoiesis spannt sich bei Richter ebenfalls zwischen exponierter Leere und spekulativem Inhalt auf. Wenn er den Abstrakten Bildern einen positiven Gehalt als „Modelle der Wirklichkeit“[24] zuspricht, gründet er dies auf ihrer faktischen Sichtbarkeit, die in Analogie zur Realität unexpliziert und selbstverständlich besteht. Entleert von Referenzen ist die Malerei „eine bessere Möglichkeit, das Unanschauliche, Unverständliche anzugehen, weil sie in direktes­ter Anschaulichkeit, also mit allen Mitteln der Kunst ‚nichts‘ schildert“.[25] Ihr Grundanliegen, sich ein Bild von der Welt zu machen und dabei den Erkenntnishorizont zu entgrenzen, kommt aus anthropologischer Sicht den Ambitionen der Wissenschaft erstaunlich nahe. Dank des konstruktiven Modellbegriffs im Bild überwindet Richter sein selbstempfundenes Unvermögen, ein gültiges Bild zu kreieren, da es „Ignoranz und Leichtsinn“ bedarf, um trotzdem weiterzumalen.[26] Erst die Bereitschaft, experimentell ins Ungewisse zu handeln, ermöglicht künstlerische Utopie und produktive Freiheit.

Anders als die Wissenschaft bleibt Richter bei seiner agnostischen Haltung gegenüber der Realität und forciert das Problem des visuellen Weltzugangs in der kontingenten Visualität seiner Bilder, die eine Nicht-Darstellbarkeit der Realität demonstrieren sollen.[27] Wo die Wissenschaft sich um Antworten bemüht, formuliert Richter seine Erkenntnis als Zweifel. Aus der autonomen Distanz der Kunst klärt er über die Realität epistemischer Bildwelten ebenso auf wie über die Realität, die diese erforschen wollen. Seine malerische Abstraktion reflektiert die Abstraktion von Wissen überhaupt, was im Rückschluss jede Visualität mit einem potenziellen Informationswert auflädt. Hier werden sich die BetrachterInnen ihres durch Konditionierung veränderten Sehens gewahr, das heute auf technisch-abstrakte Bildformen mit unwillkürlichen Leseimpulsen reagiert. Indem Richters Abstraktionen diesen offenen, trainierten Blick aktivieren, wecken sie indirekt ein kritisches Bewusstsein für den heutigen Bildumgang und Wissensbegriff. Im scheinbaren Eingeständnis ihrer epistemischen ‚Schwäche‘ beweist Richters Kunst die Wahrheit ihres aufklärerischen Nichtwissens.


[1] Gerhard Richter, Notizen 1986, in: Dietmar Elger/Hans Ulrich Obrist (Hg.), Gerhard Richter. Text 1961-2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln 2008 (1993), S. 159–164, hier S. 162.
[2] Vgl. Bettina Heintz/Jörg Huber (Hg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, S. 12–13.
[3] Vgl. Johannes Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, Ostfildern-Ruit 1997, S. 178–179.
[4] Peter Osborne, Painting Negation: Gerhard Richter’s Negatives, in: October 62 (1992), S. 102–114, hier S. 111.
[5] Götz Adriani (Hg.), Von der Lust, etwas Schönes zu malen, in: Gerhard Richter. Bilder aus privaten Sammlungen, Ausst.-Kat. Baden-Baden 2008, Ostfildern 2008, S. 9–35, hier S. 13; vgl. Elger/Obrist 2008, S. 163.
[6] Gerhard Richter, Notizen 1964–1965, in: Elger/Obrist 2008, S. 29–35, hier S. 32.
[7] Vgl. Heintz/Huber 2001, S. 18–19.
[8] Cornelius Borck, Die Unhintergehbarkeit des Bildschirms, in: Heintz/Huber 2001, S. 383–394, S. 389.
[9] Vgl. Heinz-Otto Peitgen in: Florian Rötzer (Hg.), Das neue Bild der Welt – Wissenschaft und Ästhetik, in: Kunstforum International, Bd. 124 (1993), S. 111–119, hier S. 115–116.
[10] Ulrich Loock, Das Ereignis des Bildes, in: ders./Denys Zacharopoulos (Hg.), Gerhard Richter, München 1985, S. 81–125, S. 107.
[11] Gerhard Richter, Notizen 1990, in: Elger/Obrist 2008, S. 252–254, hier S. 252; vgl. Armin Zweite, Sehen, Reflektieren, Erscheinen. Anmerkungen zum Werk zu Gerhard Richter, in: Gerhard Richter, Ausst.-Kat. Düsseldorf/München 2005, Düsseldorf 2005, S. 12–100, hier S. 83.
[12] Vgl. Armin Zweite, Die ‚Silikat‘-Bilder von Gerhard Richter und andere Mikrostrukturen, in: Gerhard Richter. Silikat, Kulturstiftung der Länder/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2007, S. 6–63.
[13] Wie Anm. 2.
[14] Vgl. Roland Wiesendanger, Scanning Probe Microscopy and Spectroscopy. Methods and Applications, Cambridge 1994, S. 155.
[15] Vgl. Olaf Breidbach, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 37.
[16] Vgl. Martin Kemp, Seeing and Picturing. Visual Representation in Twentieth-Century Science, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.), Science in the Twentieth Century, Amsterdam 1997, S. 361–391, hier S. 368.
[17] Vgl. Arnold Benz, Das Bild als Bühne der Mustererkennung. Ein Beispiel aus der Astrophysik, in: Heintz/Huber 2001, S. 65–78, hier S. 72, 76.
[18] Interview mit Sabine Schütz 1990, in: Elger/Obrist 2008, S. 256–263, hier S. 263.
[19] Vgl. Interview mit Benjamin H. D. Buchloh 1986, in: ebd., S. 164–189, hier 182–183.
[20] Wie Anm. 2.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. Hans-Jörg Rheinberger et al. (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 9.
[23] Borck 2001, S. 388.
[24] Wie Anm. 18, S. 189.
[25] Gerhard Richter, Text für Katalog documenta 7 1982, in: Elger/Obrist 2008, S. 121.
[26] Gerhard Richter, Notizen 1985, in: ebd., S. 140–144, hier S. 144.
[27] Vgl. Interview mit Rolf Schön 1972, in: ebd., S. 59–61, hier S. 60.

Quellennachweis: Ce Christina Jian, Erkenntnis als Zweifel. Zum Konzept des technischen Bildes bei Gerhard Richter, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.
com/?p=1065.

Ce Christina Jian studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Ostasiatische Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität und an der Freien Universität Berlin. Zugleich absolvierte sie ein Studium der Bildenden Kunst an der Universität der Künste Berlin. Sie arbeitet als freie Künstlerin und promoviert am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität Berlin.
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