Die Interpretation der Tonempfindung

Hermann von Helmholtz (1821–1894) versuchte in Die Lehre von den Tonempfindungen (1863) einen auseinandergerückten natur- und geisteswissenschaftlichen Horizont zu überbrücken und als Mittel der Erkenntnis zusammenzuführen. In der Physiologie des Ohres schien ihm die physikalische Akustik mit der Ästhetik der Musik unentflechtbar verbunden.[1] Von Helmholtz legte eine physiologische Theorie dar, um die Empfindung der Musik durch physikalisch-akustische Gesetze aufzuzeigen. Dabei machen seine Darstellungen von Klangmaschinen und von Musikinstrumenten den Kern der Tonempfindungen aus. Sie fungierten als Laborinstrumente und von Helmholtz regte die Lesenden an, sie nachzubauen und seine Ergebnisse an ihnen zu überprüfen:[2] Durch Resonatoren zur Verstärkung einzelner Obertöne sollten die Ohren der Lesenden Klänge analysieren – Stimmgabeln zu Gruppen gereiht sollten durch ein künstlich entworfenes Obertonspektrum die Klangfarbe eines bestimmten Musikinstruments oder der menschlichen Stimme synthetisieren.[3] All dies vollzog er, um die akustischen Gesetze der musikalischen Empfindung im Ohr zu verdeutlichen, denn die eigene Wahrnehmung „ist mehr werth als die schönste Beschreibung“.[4]

Stephan von Huene, Drum, 1974.

Abb. 1: Stephan von Huene, Drum, 1974.

In ähnlicher Weise fassen die kinetischen Klangskulpturen von Stephan von Huene (1932–2000) als beobachtbare Artefakte die Spaltung der Wissenschaften auf, um sie zu überbrücken. Durch die Beschäftigung mit von Helmholtz’ Tonempfindungen formte von Huene eine Verbindung zwischen musikalisch-geisteswissenschaftlicher und akustisch-mathematischer Wissenschaft in seinen Werken. Die kinetische Klangskulptur Drum von 1974 ist hierbei eine der konsequentesten Formen seiner Erkenntnisse (Abb. 1). 32 Schlägel umranden eine große transparente Trommel und werden von Blasebälgen pfeilschnell auf das Trommelfell gezogen, um kräftige Töne erklingen zu lassen. Ihr Spiel erzeugt wellenförmige oder staccatoartige Bewegungsabläufe, welche grazil oder prägnant das Trommelfell in Schwingung versetzen.

Manfred Krause hat den Zusammenhang zwischen von Huenes Werken und der Beschäftigung mit von Helmholtz’ Tonempfindungen bereits schemenhaft beschrieben: Das Anschaulichmachen der Naturwissenschaft durch die eindringliche Beschreibung der Experimente und ihrer Objekte hätte von Huene deshalb inspiriert, weil von Helmholtz diese so plastisch beschriebe, „daß man meint, sie greifen und hören zu können“.[5] Petra Kipphoff von Huene verwies auf die Bedeutung der Tonempfindungen für Stephan von Huenes Werk, insbesondere für den Bau seiner selbstentworfenen Orgelpfeifen, für die Behandlung von Tonhöhe oder von Klangfarbe und für das Verstehen der Funktion des Ohres.[6] Von Huene selbst stellte seinen Bezug zu von Helmholtz und zu der Drum durch das geplante, unvollendet gebliebene Werk Helmholtz a Portrait heraus. Zwei große Trommeln sollten den Hauptteil dieser Klangskulptur ausmachen.[7] Im Zusammenhang mit der durchsichtigen Materialität der Drum behandelte Horst Bredekamp die Klangskulptur als eine Vergegenwärtigung des Problems der „Transparenz der Oberfläche”, das sich bereits im zeichnerischen Werk von Huenes ergebe.[8] Yasuhiro Sakamoto geht auf die Drum in Bezug zu von Huenes Text Can Computers Go to Heaven? Can Machines Have a Soul? von 1992 ein, um auf die Programmierung als einem wichtigen Aspekt des Werkes aufmerksam zu machen.[9] Bereits 1979 besprach von Huene die Drum in einem Interview mit Joan la Barbara und verdeutlichte die Materialität, die Form und die Bewegung seiner Klangskulptur.[10] Ein konkreter Zusammenhang zwischen den Tonempfindungen und der Drum ist allerdings noch nicht hergestellt worden.

Hermann von Helmholtz, On the Sensations of Tone as a Physiological Basis for the Theory of Music, New York 1954, S. 129; mit Eintragungen von Stephan von Huene.

Abb. 2: Hermann von Helmholtz, On the Sensations of Tone as a Physiological Basis for the Theory of Music, New York 1954, S. 129; mit Eintragungen von Stephan von Huene.

Von Huene befasste sich intensiv mit Hermann von Helmholtz’ Tonempfindungen, deren englische Ausgabe von 1954 er besaß. Das im Nachlass erhaltene Exemplar enthält zahlreiche Anmerkungen von Huenes, etwa auf Seite 129, die einen Schnitt durch das Gehör zeigt (Abb. 2).[11] Neben dieser anatomischen Darstellung notierte von Huene die entsprechenden medizinischen Fachausdrücke, teilweise in Latein, teilweise in Englisch, beispielsweise „MEATUS“ für den äußeren Gehörgang. Im Text erläuterte von Helmholtz die Konstruktion des Gehörs anhand der Darstellung und betonte den entscheidenden Anteil der Paukenhöhle an der Weiterleitung der durch den Gehörgang eingefangenen Töne an die Nerven. In der englischen Ausgabe von Huenes ist der Zusammenhang zwischen der Terminologie der Musikinstrumente und der Ohranatomie an dieser Stelle evident und mit seiner Umsetzung der Drum eng verbunden: „To conduct the vibrations of the air with sufficient force into the fluid of the labyrinth is the office of a second portion of the ear, the tympânum or drum and the parts within it. […] the meâtus or external auditory passage […] is separated from the tympânum or drum, by a thin circular membrane, the membrâna tympânî or drumskin.“[12] Von Huene unterstrich mit seiner Markierung, einem Pfeil und dem Terminus „drum“ noch einmal die Bedeutung der Paukenhöhle, die von Helmholtz bereits als maßgebliche Verbindung zwischen den Tönen der Umwelt und deren Wahrnehmung herausgestellt hatte.

Die Form des Gehörs, im Besonderen die Paukenhöhle und das Trommelfell (Membrana tympani), verstand von Huene als ein Musikinstrument. Dies schließt nahtlos an die gezeigten Aufbauten der durch von Helmholtz unternommenen Experimente und an die Analogien in den Tonempfindungen an; von Helmholtz entwarf sie als Modelle des Gehörs, um seine akustische Theorie zu bekräftigen. So sah er beispielsweise das Klavier in Analogie zur Funktion des Gehörs: Wenn die Dämpfer eines Klaviers durch das Drücken des Pedals gelöst werden würden, um allen Saiten die Möglichkeit zum freien Schwingen zu geben, und ein lauter Klang erzeugt werden würde – beispielsweise durch das Singen eines Tones – würden diejenigen Saiten in Schwingung versetzt werden, welche den spezifischen Obertönen des Klanges entsprächen: „In der That, denken wir uns den Dämpfer eines Claviers gehoben, und lassen irgend einen Klang kräftig gegen den Resonanzboden wirken, so bringen wir eine Reihe von Saiten in Mitschwingung, nämlich alle die Saiten und nur die Saiten, welche den einfachen Tönen entsprechen, die in dem angegebenen Klange enthalten sind.“[13] Hierbei handelt es sich von Helmholtz zufolge um ein präzises und kein metaphorisches Modell des Gehörs: „Könnten wir nun jede Saite eines Claviers mit einer Nervenfaser so verbinden, dass die Nervenfaser erregt würde und empfände, so oft die Saite in Bewegung geriethe, so würde in der That genau so, wie es im Ohre wirklich der Fall ist, jeder Klang, der das Instrument trifft, eine Reihe von Empfindungen erregen, genau entsprechend den pendelartigen Schwingungen, in welche die ursprüngliche Luftbewegung zu zerlegen wäre, und somit würde die Existenz jedes einzelnen Obertones genau ebenso wahrgenommen werden, wie es vom Ohre wirklich geschieht.“[14] Von Helmholtz’ Gedankenexperiment verbindet das Klavier unmittelbar als Teil des Ohres mit dem Gehörsinn.

Leonardo da Vinci, Mechanische Trommel.

Abb. 3: Leonardo da Vinci, Mechanische Trommel.

Diese Analogie zwischen einem Musikinstrument und dem Gehörsinn ließ von Huene zu seiner Deutung, der Drum, gelangen, vermutlich angeregt durch eine Zeichnung Leonardo da Vincis. Von Huene besaß einen großformatigen Leonardo-Band, in dem sich ein Kapitel zu automatischen Musikinstrumenten befindet.[15] Unter den abgebildeten Zeichnungen sticht diejenige einer automatischen Trommel heraus, welche von Huene als einen Formimpuls für seine eigene Deutung des Gehörsinns aufgenommen haben könnte (Abb. 3): Mit feinen Federstrichen hebt sich die Trommel vom sandfarbenen Papier ab. Auf das perspektivisch verkürzte Rund des Fells schlagen, durch ein Zahnrad angetrieben, Schlägel, welche die unterschiedlichen Stufen des Bewegungsablaufs zeigen. Leonardo da Vincis Zeichnung hält in wenigen Strichen die Idee einer durch Mechanik automatisierten Trommel fest.

Die Drum nimmt die suggerierte Automatik von Leonardos Trommel auf. Ihre Selbststeuerung befindet sich separat in einem transparenten flachen Kasten (Abb. 1). Er ist durch Kabel mit der Trommel verbunden und enthält eine Komposition von James Tenney (1934–2006), die auf einer runden Plastikscheibe in Form eines spiralförmigen Lochmusters gespeichert ist. Diese Form betonte von Huene in einem Interview von 1979: „you could always see this program, which was a transparent disc with little black pieces of tape on it and you can see the pattern – the pattern of »Wake for Charles Ives« is a series of spirals.“[16]

Hermann von Helmholtz, On the Sensations of Tone as a Physiological Basis for the Theory of Music, New York 1954, S. 129; mit Eintragungen von Stephan von Huene (Detail Abb. 2).

Abb. 4: Detail Abb. 2.

Verglichen mit der Darstellung in den Tonempfindungen wären die Paukenhöhle und das Trommelfell die Grundlage für von Huenes Umsetzung (Abb. 4). Der durch die Vibration des Trommelfells in Schwingung versetzte Hammer im Mittelohr schlägt auf den Amboss, um durch den Steigbügel die Flüssigkeit im Innenohr in Erschütterung zu versetzen. Von Helmholtz verstand die Schnecke als denjenigen Teil des Ohres, welcher einen Klang in einzelne Frequenzen, die Sinustöne, zerlegen würde. Von Helmholtz zufolge sei dies die Voraussetzung, um etwas hören zu können, da die spezifischen Nervenenden jeweils die physiologische Umsetzung eines bestimmten Sinustones erkennen könnten.[17]

Von Huenes Drum aktiviert den Gehörsinn. Ihr Trommelfell ist nicht Empfänger einer Wahrnehmung, sondern Erzeuger eines Klanges, welcher an die Umwelt abgegeben wird. Von dem beigeordneten Kasten ausgehend ist auf der transparenten Plastikscheibe als der Gehörschnecke die auslösende Programmierung spiralförmig gespeichert (Abb. 1). Ihr elektrischer Impuls fährt durch die Kabelstränge, welche wie Steigbügel das Rund der Trommel umschließen. Durch das Zusammenziehen der Blasebälge schlägt schließlich der Schlägel auf das Trommelfell, um den satten Klang der Drum erklingen zu lassen.

Stephan von Huenes Drum deutet das Gehör nicht als passives Empfängerorgan, sondern vielmehr als einen aktiven Sinn, welcher selbst der Wahrnehmung einen Eigenklang hinzufügt. Ausgangspunkt dieser Aktivierung ist die gestaltete, geformte Materie – das spiralförmige Lochmuster; sie setzt sich in der Materialität und Form der Kabelstränge, Blasebälge, Schlägel und des Trommelfells fort, um schließlich den Raum mit Klang zu füllen. Damit hob von Huene hervor, dass jede technische Behandlung von Klängen, beispielsweise unterschiedliche Aufnahme- und Wiedergabeformen, so mathematisch-neutral sie erscheinen mag, durch die unterschiedliche Gestaltung einen wirkmächtigen Eigenanteil erhält. Die Drum interpretiert den vermeintlich immateriellen Klang als mit Form und Materie untrennbar verbunden; sie gesteht durch ihren an die Leonardo-Trommel angelehnten Automatismus dem durch Technik einzeln behandelten Gehörsinn eine Eigenaktivität zu, um die Körpergebundenheit der Sinne zu unterstreichen und einer Trennung von vermeintlichen Lebensteilbereichen der Natur- und Geisteswissenschaften in der Gestaltung entgegen zu wirken.


[1] Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863, S. 1, 7.
[2] Von Helmholtz 1863, S. 8–9. Matthias Rieger, Helmholtz Musicus. Die Objektivierung der Musik im 19. Jahrhundert durch Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen, Darmstadt 2006, S. 97.
[3] Von Helmholtz 1863, S. 183–190.
[4] Von Helmholtz 1863, S. 9.
[5] Manfred Krause, Klassiker der Naturwissenschaft heute. Gedanken zur Wirkung naturwissenschaftlicher Schriften auf einen Künstler, in: Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Katharina Schmidt (Hg.), Stephan von Huene. Klangskulpturen. 14. Oktober bis 20. November 1983 (Kat.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 47–50, S. 49.
[6] Petra Kipphoff von Huene, Am Anfang war der Klang, in: Barbara Koenches, Peter Weibel (Hg.), Stephan von Huene. Grenzgänger. Grenzverschieber, Heidelberg 2006, S. 74–81, S. 79.
[7] Stephan von Huene, Helmholtz a Portrait, in: Horst Bredekamp, Jochen Brüning, Cornelia Weber (Hg.), Theatrum naturae et artis. Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens, Berlin 2000, S. 242.
[8] Horst Bredekamp, Die Tiefe der Oberfläche, in: Christoph Brockhaus, Hubertus Gaßner, Christoph Heinrich, Petra Kipphoff von Huene (Hg.), Stephan von Huene. Tune the World. Die Retrospektive, Ostfildern-Ruit 2002, S. 130–169, S. 164.
[9] Yasuhiro Sakamoto, Mehrdeutigkeiten der Computerkunst. Computer können doch in den Himmel kommen!, in: Jürgen Sieck (Hg.), Kultur und Informatik. Multimediale Systeme, Boizenburg 2011, S. 161–173. Stephan von Huene, Can Computers Go to Heaven? Can Machines Have a Soul? , in: Christoph Brockhaus, Hubertus Gaßner, Christoph Heinrich, Petra Kipphoff von Huene (Hg.), Stephan von Huene. Tune the World. Die Retrospektive, Ostfildern-Ruit 2002, S. 251.
[10] Stephan von Huene, Interview with Joan La Barbara. Los Angeles 1979, in: Petra Kipphoff von Huene, Marvin Altner (Hg.), Stephan von Huene. Die gespaltene Zunge. Texte und Interviews, München 2012, S. 95–120, S. 106–109.
[11] Hermann von Helmholtz, On the Sensations of Tone as a Physiological Basis for the Theory of Music, New York 1954, S. 129; Nachlass Stephan von Huene, Hamburg.
[12] Von Helmholtz 1954, S. 129–130. In der deutschen Erstausgabe: „Um die Schwingungen der Luft hinreichend kräftig auf das Wasser des Labyrinthes zu übertragen, dazu dient ein zweiter Theil des Ohres, nämlich die Paukenhöhle mit den darin liegenden Theilen. […] Das innere Ende des […] äusseren Gehörganges ist von der Paukenhöhle B getrennt durch eine kreisrunde dünne Membran, das Trommelfell (Paukenfell) […].“ Von Helmholtz 1863, S. 198–199.
[13] Von Helmholtz 1863, S. 197–198.
[14] Von Helmholtz 1863, S. 198.
[15] Instituto Geografico De Agostini (Hg.), Leonardo da Vinci (Kat.), New York 1961, S. 229, Nachlass Stephan von Huene, Hamburg.
[16] Von Huene 2012 [1979], S. 108.
[17] Von Helmholtz 1863, S. 197–198.

Quellennachweis: Alexis Ruccius, Die Interpretation der Tonempfindung. Stephan von Huene und Hermann von Helmholtz, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1396.

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Editorial

Die erwartete Routine in der Produktion unseres Magazins hat sich auch in der vierten Ausgabe noch nicht eingestellt – wieder wurden wir überrascht vom breit gefächerten Themenspektrum der Einreichungen. So sind wir mit ALL-OVER #4 unserem Namen treu geblieben und haben ein kurzes Heft mit breiter Themenwahl zusammengestellt.

Matthias Moroder befasst sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis zwischen Skulptur und Architektur: Ihn beschäftigt die Frage, wie Richard Serras Berlin Block ( for Charlie Chaplin) vor der Neuen Nationalgalerie Berlin mit der Architektur von Mies van der Rohe in einen Dialog tritt, sich gegen sie stemmt und ihr ein Gegenüber bietet.

Der nächste Beitrag, der Philosophie und Kunstwissenschaft zusammenführt, bewegt sich Zwischen Zeichnung und Schrift: Barbara Reisinger befragt Jacques Derridas Konzeption der écriture mit Hilfe von Robert Morris’ Blind Time Drawings auf die Differenz zwischen Schrift und Zeichnung, um darauf aufbauend Licht auf das Parallelverhältnis von Sprache und Sinnlichkeit zu werfen.

Auch Alexis Ruccius pendelt in seinem Beitrag zur Tonempfindung zwischen zwei Polen: Sowohl Hermann von Helmholtz mit seiner Lehre von den Tonempfindungen als auch Stephan von Huene mit seinen davon inspirierten, kinetischen Klangskulpturen versuchten sich an einer Verbindung von Akustik und Musikästhetik. Das Ohr wird von beiden als ein aktives Klanginstrument gedacht – und so zu einem Verbindungsscharnier zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Dimensionen.

Der künstlerische Beitrag von Thomas Tudoux ist diesmal keine Bildstrecke im klassischen Sinne sondern eine Intervention auf den Seiten der Magazins. Neben dem Covermotiv, einer Abbildung der Arbeit stress, nutzen die Einzelbildanimationen aus der Reihe impatience den ambivalenten Status der digitalen Seite.

Viola Rühse hat für uns die Ausstellung Rainer Fetting – Fotografie in der Galerie Deschler in Berlin besucht. Sie perspektiviert die Fotografien des „Jungen Wilden“ in kritischer Weise auf ihren historischen Kontext und hinterfragt ihre Funktion innerhalb von Fettings Schaffen sowie dessen Profilierung auf dem Markt.

Wir bedanken uns bei allen Mitwirkenden, insbesondere bei den Autoren und Autorinnen für die Zusammenarbeit und wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg

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Richard Serras Berlin Block (for Charlie Chaplin)*

In der October Files-Ausgabe[1] zu Richard Serra aus dem Jahr 2000 finden sich vier Zeilen zu Serras Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin), die in den Terrassenboden von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin eingelassen ist (Abb. 1). In diesen vier Zeilen wird diese Skulptur von Yve-Alain Bois exemplarisch dazu benutzt, um das Verhältnis von Serras Skulptur zur Architektur als eines des Konflikts zu erklären.[2] Serra wird darin zitiert, dass der Berlin Block[3] letztendlich gemacht wurde, „so that it would contradict the architecture.“[4] Benjamin Buchloh, Douglas Crimp, Hal Foster, Rosalind Krauss und Annette Michelson, die weiteren Autoren und Autorinnen dieser, den Serra Diskurs maßgeblich diktierenden Publikation erwähnen die Skulptur in ihren umfangreichen Ausführungen nicht. Im Namensindex wird sie zudem, fälschlicherweise, als Berlin Block for Checkpoint Charlie[5] angegeben.

Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,  Neue Nationalgalerie, Berlin.

Abb. 1: Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,
Neue Nationalgalerie, Berlin.

Nachdem man vergeblich weitere maßgebliche Publikationen[6] zu Serras Œuvre nach dem Berlin Block durchforscht, finden sich dazu dann aber doch ein paar Zeilen. In der sechsten Ausgabe der deutschen Zeitschrift für Gegenwartskunst Das Kunstwerk von 1979 schreibt Heinz Ohff, Serra habe sein „Kartenhaus-Prinzip“ seit dem Unglück in Minneapolis, bei dem beim Aufstellen einer seiner Plastiken zwei Arbeiter erschlagen wurden, abgeändert und seine Skulpturen seither statisch fixiert: gezähmte Giganten seien es nun, aber immer noch eindrucksvoll.[7] Der Berlin Block, einer dieser gezähmten Giganten also, wird nach den Feststellungen des Autors zudem wohl nie ein Wahrzeichen werden, da er für ihn so etwas darstellt wie einen „Slapstick mit Sicherheitsnetz“[8] – Slapstick als Referenz zu dessen Meister Charlie Chaplin.

Ein kurzer Überblick des − so gut wie nicht existierenden − Forschungsstandes zu Richard Serras Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) stellt uns unweigerlich vor die Frage, ob diese berechtigterweise keine Beachtung verdient, da sie einfach eine der schlechteren Arbeiten Serras ist, oder ob sie vielleicht doch – zumindest im thematischen Schwerpunkt des Verhältnisses von Serras Skulptur zur Architektur – einen nicht unwesentlichen, wenn nicht sogar einen paradigmatischen Platz einnimmt?

I.

Es soll vorerst Serras eingangs erwähntes Zitat ernst genommen werden, wonach der Berlin Block gemacht wurde, um in einem oppositionellen Verhältnis zur Architektur zu stehen, im Widerspruch zu ihr, um gegen sie zu arbeiten.

In einem Interview aus dem Jahre 1980 äußert sich Serra ausführlich zu den kontextuellen Bezügen seiner Skulpturen: „Ich glaube, dass wenn ein Werk, im Hinblick auf den Kontext, substantiell ist, es weder verschönert noch dekoriert oder auf sein spezifisches Gebäude hinweist, noch einer bestehenden Syntax etwas hinzufügt. Ich glaube, dass wenn Skulptur überhaupt ein Potential hat, dann das, sich ihren eigenen Ort und Raum zu schaffen und sich in Widerspruch zu den Räumen und Orten zu stellen, für die sie gemacht wurde.“[9] Serras Bestreben gilt Skulpturen, die auf sich selbst rekurrieren, sich ihren eigenen Ort erobern, sich ihren eigenen Freiraum abtrennen und sich in diesem behaupten.[10] Architektonische Raumkonzepte – Environments – werden durch seine Skulpturen verändert oder viel mehr subvertiert, indem Serra sie skulpturalen Raumkonzepten unterwirft:

Anti-Environments[11] werden dadurch geschaffen. Zentral ist dabei die Kritik an der bestehenden Architektur, die für Serra maßgeblich durch formal-ästhetische Referenzen möglich ist, die sich herstellen, „wenn architektonische Maßstäbe, Methoden, Materialien und Vorgehen verwendet werden. Das provoziert Vergleiche. Jede Sprache hat eine Struktur, über die in dieser Sprache nichts Kritisches geäußert werden kann. Um eine Sprache zu kritisieren, braucht es eine zweite Sprache, die sich mit der Struktur der ersten auseinandersetzt, aber eine eigene, neue Struktur besitzt.“[12]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Potsdamer Straße aus, 1962–67, Berlin.

Abb. 2: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Potsdamer Straße aus, 1962–67, Berlin.

Um den Berlin Block in Bezug auf sein Verhältnis zur Architektur formal zu analysieren, ist somit eine Auseinandersetzung mit Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin, eine 1967 eröffnete Ikone der klassischen Architekturmoderne, unabdingbar (Abb. 2). Im Sommer 1962 erhält der Architekt vom Berliner Senat den Auftrag, eine „städtische Galerie des 20. Jahrhunderts“ zu bauen, für die man einen Bauplatz am Landwehrkanal, am südlichen Rand des neu entstehenden Kulturforums wählt – bezeichnenderweise an der ehemaligen Nahtstelle zwischen Ost- und West-Berlin.[13]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie sowie nördlich dazu die Matthäuskirche, 1962–67, Berlin.

Abb. 3: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie sowie nördlich dazu die Matthäuskirche, 1962–67, Berlin.

Mies van der Rohe richtet die Neue Nationalgalerie an den Fassadenachsen der nördlich dazu liegenden, 1846 geweihten Matthäuskirche aus (Abb. 3). Von diesen Achsen deduziert er ein orthogonales System, dem die gesamte Architektur bis ins kleinste Detail folgt. Die Kirche bot nämlich den einzigen unmittelbaren städtebaulichen Referenzpunkt, da ihr Viertel im Zuge der nationalsozialistischen Bestrebungen zum Ausbau Berlins zur Welthauptstadt Germania schon vor dem Zweiten Weltkrieg für die Errichtung der Nord-Süd-Achse teilweise abgerissen wurde. Die noch stehenden Gebäude fielen dem Bombenkrieg zum Opfer, sodass die beschädigte Matthäuskirche nach der Enttrümmerung isoliert verblieb.[14]

Von der Potsdamer Straße nach hinten versetzt, steht die von einem monumentalen Stahldach überspannte, nach allen Seiten hin offene Glashalle der Neuen Nationalgalerie auf einem massiven, hellgrauen Natursteinsockel, der das nach Westen abfallende Gelände überspielt. Mittels flacher Stufen erreicht man die ausgedehnte Terrasse, mit der man gleichsam den musealen Ort betritt. Eine die Terrasse umlaufende, niedere Attika schafft eine klar artikulierte Grenze zum Stadtraum. Die 1,20 Meter Seitenlänge der quadratischen Granitplatten, mit denen die Terrasse belegt ist, sind das Grundmaß, von dem alle weiteren Gebäudemaße durch Vervielfachung deduziert wurden, etwa das monumentale Stahldach: ein quadratischer Trägerrost mit Seitenlängen von 64,80 Metern und einem Gewicht von 1.260 Tonnen, bestehend aus 324 quadratischen Kassettenfeldern mit einer Kantenlänge von 3,60 Metern und einer Konstruktionshöhe von 1,80 Metern.[15]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Nahezu vollkommen angehobener Trägerrost des Stahldaches der Neuen Nationalgalerie am 05. April 1967, 1962–67, Berlin.

Abb. 4: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Nahezu vollkommen angehobener Trägerrost des Stahldaches der Neuen Nationalgalerie am 05. April 1967, 1962–67, Berlin.

1967 kommt der damals 82-jährige Architekt zur Dacherhebung nach Berlin. Das auf dem Boden vollkommen zusammengeschweißte Stahldach wird innerhalb von acht Stunden mit 24 synchron gesteuerten, hydraulischen Pressen über die neun kreuzförmig eingespannten Stahlstützen gehoben und dort auf die Stützenköpfe abgesetzt (Abb. 4).[16] Die Stützen sind nicht erwartungsgemäß an den Ecken des Stahldaches platziert, sondern stehen weit eingerückt, was die vier Ecken des Daches frei in den Raum schiebt. Mies van der Rohes Enkel und damaliger Projektleiter Dirk Lohan erinnert sich: „Als das Dach zwei Meter hoch war, wollte Mies unbedingt darunter gehen, um zu sehen, ob der wachsende Raum seiner Vorstellung entsprach. Von mir begleitet, ging er schwerfällig an zwei Krücken unter das schwebende Dach. Während Mies die majestätische Größe des Daches bewunderte, war ich hauptsächlich damit beschäftigt, im Fall eines Abstürzens der großen Stahlplatten unter einem der offenen Felder zu stehen. Mies [hingegen] ging so spazieren, als sei der Bau bereits vollendet.“[17] Im Prozess der sich vollziehenden Erhebung kehrt die maximale Schwere des Daches in den Eindruck einer maximalen Schwerelosigkeit des Raumes. In dem von Lohan beschriebenen Moment des Zwischen ist beides − Schwere und Schwerelosigkeit − gleichsam präsent; Bedrohung und Befreiung gleichermaßen wahrnehmbar.

Der kühne Entschluss des Architekten, die für das Museum vorgesehenen Galerieräume vollkommen in das Untergeschoss zu verlagern, ermöglicht es, im Erdgeschoss eine quadratische, allseitig verglaste, ungerichtete Halle mit Seitenlängen von 50,40 Metern, einer Deckenhöhe von 8,40 Metern und einer Fläche von 2.500 Quadratmetern zu realisieren. Die Verglasung der Halle ist allseitig um 7,20 Meter vom Dachperimeter zurückgesetzt, sodass zwischen der Glaswand und den Stützen ein Umgang entsteht, der die Verschränkung von Innen- und Außenraum noch verstärkt. Dem horizontal weit in den Stadtraum ausgreifenden Ausblick stehen die beiden nichttragenden Lüftungsschächte, die Holzgarderoben sowie die Stützen betont als vertikale Elemente entgegen. „Ein universeller Raum [entsteht]: Prägnant in seiner quadratischen Grundform, die durch das ebenfalls quadratische Deckenraster und die quadratischen Bodenplatten nochmals betont wird.“[18]

II.

1977, zehn Jahre nach der Dacherhebung der Neuen Nationalgalerie, muss vom Flughafen Tegel ein Kran ausgeliehen werden, um Serras massive, 70 Tonnen schwere Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) in das vorbereitete Fundament auf die Terrasse zu hieven.[19] Da die Tragfähigkeit der Terrassendecke bei weitem überfordert ist, muss unter der Skulptur im Untergeschoss eine Säule mit Rundeisenarmierung errichtet werden, die deren Gewicht stützt.[20]

Serra lässt den Block mit einem 24 Meter hohen, hydraulischen Hammer schmieden. Im Unterschied zu einem gegossenen Block wiegt dieser durch die Materialverdichtung ein Drittel bis zur Hälfte mehr. Eine Analyse des verwendeten, auf 1.280°C erhitzbaren Magnesium-Kohlenstoff-Stahls ergibt, dass die Molekularstruktur der Legierung kubisch ist. Der Berlin Block, ein Kubus mit einer Seitenlänge von 190,5 Zentimetern, wird aus einer kubischen Struktur geschmiedet, wodurch nicht nur eine optimale Verdichtung des Materials gewährleistet, sondern auch eine kongruente Form erreicht wird. Serra forcierte zudem eine maximal mögliche Kantenschärfe, die schlussendlich auf fünf Millimeter reduziert wird, um die kubische Geometrie der Skulptur zu akzentuieren und der Kantenschärfe der architektonischen Elemente in nichts nachzustehen.[21]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin),  1962–67, Berlin.

Abb. 5: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.

Platziert wird die Skulptur von Serra auf der Terrasse, in der Nähe des nordwestlichen Treppenabgangs, der sich gegenüber der Chorfassade der Matthäuskirche befindet. Die Skulptur ist somit nicht nur dem orthogonalen System der Architektur, sondern auch seiner Ursprungsausrichtung – den Fassadenachsen der Kirche – gegenübergestellt (Abb. 5). Ungefähr 10 Meter vom Treppenbeginn (8 Granitplatten) und dadurch eine Platte hinter dem Beginn der Westfassade, 6 Meter von der (5 Granitplatten) sowie 17 Meter von der nördlichen Glasfassade der Halle (13 Granitplatten) ist die Skulptur entfernt. Dort ist sie um 5° im Uhrzeigersinn aus dem orthogonalen System der Architektur gedreht (Abb. 6).

Die Ausdrehung um 5° des Berlin Block (for Charlie Chaplin) bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft.

Abb. 6: Die Ausdrehung um 5° des Berlin Block (for Charlie Chaplin) bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft.

Diese Drehung bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft. Serra scheint die aus den Himmelsrichtungen im Uhrzeigersinn schon vollzogene Drehung, die in den Fassadenachsen der Matthäuskirche resultiert und die dem orthogonalen System von Mies van der Rohe zugrunde liegt, so lange weiterzuführen bis die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche der Skulptur die nordwestliche Ecke der Glashalle kreuzt (Abb. 6).

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie den Verlängerungen von dessen Kubus-Seitenflächen,  1962–67, Berlin.

Abb. 7: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie den Verlängerungen von dessen Kubus-Seitenflächen, 1962–67, Berlin.

Die Seitenflächen des Berlin Block wenden sich durch diese Drehung einerseits den von der Treppe und andererseits den von der Potsdamer Straße kommenden Betrachter und Betrachterinnen zu. Durch ihre Platzierung stellt sie sich ihnen als massiver Stahlkörper in den Weg. Gleichzeitig wendet sich die südöstliche, vertikale Kante des Kubus jenen zu, die in die Halle der Neuen Nationalgalerie eintreten (Abb. 7).

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Eine Hälfte der südlichen Seitenansicht der Neuen Nationalgalerie mit eingezeichnetem, abgesenktem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie der Verlängerung von dessen oberer Kubusfläche,  1962–67, Berlin.

Abb. 8: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Eine Hälfte der südlichen Seitenansicht der Neuen Nationalgalerie mit eingezeichnetem, abgesenktem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie der Verlängerung von dessen oberer Kubusfläche, 1962–67, Berlin.

Durch die einseitige Absenkung von 7 cm in den Terrassenboden, neigt sich der Berlin Block um 2° auf die Neue Nationalgalerie zu. Diese leichte Neigung setzt der allgegenwärtigen, dominanten Untersicht des Daches eine permanente Sichtbarkeit der oberen Kubusfläche entgegen, die die Absenkung und Zuneigung der Skulptur zum Gebäude hin akzentuiert (Abb. 8). Anhand einer Verschiebung und zwei Drehoperationen des orthogonalen, geometrischen Systems der Mies‘schen Architektur schafft sich der Berlin Block ein eigenes System, das allerdings mit einem Grundmaß von 1,905 Metern operiert. Die Granitplatten, die durch die Absenkung der Skulptur betroffen sind, wurden beschnitten und einem aus dem orthogonalen System Serras resultierenden Fugenmuster unterworfen.

Serra wollte der klassischen Konstruktion der Neuen Nationalgalerie im Prinzip des Tragens und Lastens „nicht eine weitere Konstruktion hinzufügen […, sondern …] die Möglichkeit erproben, eine schwerkraftgebundene Masse am Ort zu fixieren, eine Kraft, ein Gewicht im Gegensatz zum Zentrum der Architektur, im Widerspruch zu ihr.“[22] In der offiziellen Fotografie des Berlin Block kommt dieser Widerspruch zur Architektur hervorragend zur Geltung (Abb. 1). Entscheidend dafür sind nicht nur bildstrukturelle Faktoren, sondern auch die Qualitäten der Schwarz-Weiß-Abbildung. Dem starken Kontrastwert der Fotografie kommt nämlich eine bildbestimmende Funktion zu, indem er die Skulptur, die Architektur und das Fugenraster des Terrassenbodens in ihrer dunklen Materialität markant hervorhebt.

Von einem Standort unmittelbar im oberen Treppenbereich nach Südosten fotografiert, zeigt die Fotografie die Skulptur links im vorderen Bildfeld. Ihr gegenüber, im rechten Bildfeld, fluchtet das herausragende Dach der Neuen Nationalgalerie in den Bildhintergrund. Der rechte Bildrand erfährt durch die Vertikalität der angrenzenden Stahlstütze eine innerbildliche Betonung. Die zweite in der Fotografie sichtbare Stütze lenkt den Blick über die Horizontale der Dachkante im hinteren rechten Bildfeld auf einen Ausschnitt der nordöstlichen Glasfassade der Halle. Ihre räumlichen Dimensionen sowie ihr schwereloser Eindruck im Inneren bleiben aufgrund der starken Reflexion der Glasfassade und des fragmentarischen Ausschnitts völlig verborgen. Das rechte Bildfeld unterscheidet sich markant vom linken durch eine Dynamik, die einerseits durch das starke In-die-Tiefe-Fluchten der Architektur entsteht und andererseits durch das sich in die Tiefe erstreckende Fugenraster unterstützt wird. Jener dynamische Eindruck wird im linken Bildfeld der Fotografie durch die Masse der Skulptur aufgehalten, ja geradezu negiert. Die Schwere des Stahlkörpers wird durch den starken Kontrast, der den Berlin Block vor dem nahezu entmaterialisierten Hintergrund als einheitlich schwarze Fläche erscheinen lässt, in die Fotografie übersetzt. Die leichte Neigung der Skulptur hin zur Neuen Nationalgalerie wird durch ihre silhouettenhafte Erscheinung und die Scharfkantigkeit maximal betont. Die geneigten Konturen des Berlin Block treten in Korrelation mit der fluchtenden Dachkante durch eine Gegenüberstellung von Schrägen, fordern sodann aber eine Konfrontation mit den markant horizontalen und vertikalen Elementen der Architektur. Die leichte Neigung widerspricht radikal dem orthogonalen System der Architektur Mies van der Rohes, das in seiner Vertikalen von den Stahlstützen, den hervorstehenden Stahlwandträgern der Dachkonstruktion und den Fensterunterteilungen der Fassade sowie in seiner Horizontalen von der betonten südöstlichen Dachkante konstituiert wird. Die Fotografie unterstreicht den Widerspruch, in dem die Skulptur zur Architektur steht. Sie bekräftigt, dass der Berlin Block eine Skulptur ist, die auf sich selbst rekurriert, sich ihren eigenen Ort erobert, sich ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich in diesem behauptet.

Richard Serra, Tot, 1977, Stahlblock, 210 x 210 x 30 cm, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität - Situation Kunst, Bochum.

Abb. 9: Richard Serra, Tot, 1977, Stahlblock, 210 x 210 x 30 cm, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität – Situation Kunst, Bochum.

Die aus demselben Jahr wie der Berlin Block stammende und diesem formal sehr ähnliche, ebenfalls in den Boden abgesenkte, rechteckige Skulptur Tot bezeichnet Max Imdahl als ein „Paradigma der Negation“[23] (Abb. 9). Für Imdahl entsprechen die rechten Winkel der rechteckigen Grundform der Skulptur nur dann den vertikalen und horizontalen Grundrichtungen und damit den Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins, wenn die Skulptur gerade und nicht abgesenkt steht. In der leichten Absenkung der rechtwinkligen Skulptur evoziert Tot das Geradestehen „als das ausgesetzte, verlassene Normative, als das nicht mehr in Geltung befindliche Gültige.“[24] Die Negation im Sinne eines Nicht-mehr ist dabei etwas anderes als eine reine Negation, da sie den Bezug zum eben verlassenen Normativen maximiert und den vollzogenen Bruch akzentuiert. Die Schwere und Starrheit des verwendeten Materials Stahl kommen laut Imdahl durch die Absenkung maximal zur Geltung, da die Form dieses Materials zwar nicht mehr den Grundorientierungen der Vertikalen und Horizontalen entspricht, aber dennoch als Rechteck erschließbar ist.[25] In der Selbstevidenz der Form und des Materials ist Tot für Imdahl paradigmatisch „nicht für [eine] Struktur […] von Existenz sondern als [eine] Struktur […] von Existenz.“[26]

Diese Feststellungen können aufgrund der formalen Nähe auch für den Berlin Block übernommen werden. Die Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins – Vertikalität und Horizontalität – werden von dieser Skulptur durch ihre leichte Absenkung im Sinne eines Nicht-mehr negiert. Die Skulptur setzt in ihrem Verhältnis zur Architektur zudem das konstruktive Grundprinzip der Neuen Nationalgalerie – als eines des Tragens und Lastens – außer Kraft und damit eine der Hauptanforderung an Architektur seit Vitruv, nämlich die „Firmitas[27], ihre Standhaftigkeit und Stabilität sowohl in der Konstruktion als auch in der Anschauung. Sie ist dabei alles andere als ein gezähmter Gigant, wie Heinz Ohff die Skulptur beschrieb.

Zur Absenkung des Berlin Block äußerte sich Serra wie folgt: “[T]he way it’s impaled into the deck gives the block a very ungainly look. Almost as if Chaplin were turning on his shoe. It has an almost comical gesture in the fact that this massive block seems to be plunged into the surface or entailed into the surface of the deck. And I think it undercuts the seriousness of the work by allowing one to see another aspect of its ungainliness.”[28] Die Absenkung der Skulptur, die deren Plump- und Unbeholfenheit hervorruft, evoziert für Serra einen spielerischen Umgang mit dem Verhältnis zur Architektur Mies van der Rohes. Diese spielerische Dimension des Berlin Block wird durch die Titelwidmung an Charlie Chaplin unterstrichen. Die hervorgerufene Dichte von Schmerz und Komik bei dessen Slapsticks kann in Bezug zur maximalen Dichte der Skulptur gebracht werden.

Diese Widmung verweist jedoch nicht nur auf formale Aspekte, sondern bezieht historische mit ein, die über die falsche Namensangabe im Index der October Files-Ausgabe sowie die – für Serra unübliche − Stadtangabe im Titel hinausgehen. Die maximale Schwere des Berliner Schwerbelastungskörpers bringt diesen unweigerlich in Zusammenhang mit dem Berlin Block. Dieser südlich von der Neuen Nationalgalerie, sich ebenfalls auf der geplanten Nord-Süd-Achse befindliche, von den Nationalsozialisten erbaute, 14 Meter hohe Betonzylinder mit einem Durchmesser von 21 Metern wurde von 1941 bis 1942 erbaut, um die Tragfähigkeit des Berliner Bodens für einen gigantischen Triumphbogen zu testen. Die Absenkung der Skulptur könnte als eine Persiflage der nationalsozialistischen Bemühungen um die Errichtung der Welthauptstadt Germania in der Art von Charlie Chaplins Film The Great Dictator von 1940 verstanden werden.

III.

Im peripatetischen Wahrnehmen des Berlin Blocks soll dessen festgestellter Widerspruch zur Neuen Nationalgalerie abschließend überprüft werden.

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Mitte der Glashalle in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin) während der raumbezogenen Installation von Rudolf Stingel im Jahre 2010, 1962–67, Berlin.

Abb. 10: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Mitte der Glashalle in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin) während der raumbezogenen Installation von Rudolf Stingel im Jahre 2010, 1962–67, Berlin.

Im Durchschreiten der Terrasse sowie des Erdgeschosses der Neuen Nationalgalerie eröffnet sich im Wahrnehmungsprozess ein Spannungsfeld zwischen der Skulptur und der Architektur. Dieses Spannungsfeld oszilliert abhängig vom Standpunkt der Betrachtenden und erzeugt ein Zwischen, das jenem 1967 bei der Dacherhebung ähnelt. Dieses ephemere Zwischen lässt die Wahrnehmung zwischen der maximalen Schwere der Skulptur und dem Eindruck maximaler Schwerelosigkeit der Architektur pendeln. Ihm ist das Schwerefeld der massigen Skulptur und das Schwerelosigkeitsfeld der Glashallenarchitektur inhärent; das skulpturale Raumkonzept einer an einem Ort fixierten schwerkraftgebundenen Masse und das architektonische Raumkonzept eines universellen Raumes; das verdreht orthogonale System Serras und das orthogonale System Mies van der Rohes; das negierte Prinzip des Tragens und Lastens durch die Skulptur und das Tragen und Lasten der Architektur; das Nicht-mehr der Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins durch die Skulptur und dessen Noch-immer durch die Architektur – Bedrohung und Befreiung für die Betrachtenden, jeweils einmal mehr, einmal weniger wahrnehmbar (Abb. 10-12).

Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,  Neue Nationalgalerie, Berlin.

Abb. 11: Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,
Neue Nationalgalerie, Berlin.

Dieses Spannungsfeld schließt ein Verhältnis der Skulptur zur Architektur aus, indem es primär darum geht, die Architektur zu kritisieren, im Konflikt zu ihr zu stehen, ihr Raumkonzept zu subvertieren sowie ihr gegenüber ein „Anti-Environment“ zu schaffen − wie es bei den meisten, im Verhältnis zur Architektur stehenden Skulpturen Serras der Fall ist.[29] In diesem Spannungsfeld ist der Berlin Block eine Skulptur, die nicht auf sich selbst rekurriert, sich nicht ihren eigenen Ort erobert, sich nicht ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich nicht in diesem behauptet. Das Verhältnis zwischen Serras Berlin Block und der Neuen Nationalgalerie Mies van der Rohes ist eines, in dem sie einander bedingen und zugleich ausschließen, ein oszillierendes Spannungsfeld, in dem sie zueinander stehen.

In einem Interview von Peter Eisenman mit Richard Serra, in dem die beiden das Verhältnis von Serras Skulptur zur Architektur besprechen, äußerte sich der Architekt diesbezüglich wie folgt: „Was mich an Ihrem Werk interessiert, ist, dass es weder Bejahung noch Verneinung ist.“[30] Serra geht in seiner Antwort darauf gar nicht ein, ignoriert diese Äußerung Eisenmans vollkommen. Ein Verhältnis, in dem seine Skulptur die Architektur weder bejaht noch verneint, sondern in einem Spannungsfeld zu ihr steht und für das der Berlin Block (for Charlie Chaplin) ein paradigmatisches Beispiel ist, scheint Serra selbst nicht zu interessieren.

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert vom südlichen Umgang in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.

Abb. 12: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert vom südlichen Umgang in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.


* Der vorliegende Aufsatz ist die gekürzte Fassung einer Bachelorarbeit, die im Rahmen eines Seminars von Prof. Dr. Friedrich Teja Bach zu Richard Serra im Wintersemester 2011/12 am Wiener Institut für Kunstgeschichte entstanden ist. Mein besonderer Dank gilt Prof. Bach, Felicia Hayden, Christine Brandner, Johanna Függer und Simon Vagts für wichtige Hinweise und Anregungen.

[1] Hal Foster (Hg.), Richard Serra, Cambridge (MA) 2000.
[2] Vgl. Yve-Alain Bois, A Picturesque Stroll around Clara-Clara, in: Foster 2000, S. 64–65.
[3] Die Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) wird folglich abkürzend als Berlin Block bezeichnet.
[4] Richard Serra, Rigging, in: Richard Serra, Richard Serra. Writings. Interviews, Chicago/London 1994, S. 99.
[5] Foster 2000, S. 201.
[6] Exemplarisch dafür sei der Ausstellungskatalog Richard Serra. Forty Years of Sculpture erwähnt, in dem der Berlin Block in den Aufsätzen von Benjamin Buchloh, Lynne Cook, Kynaston McShine und John Rajchman nicht berücksichtigt wird. Vgl. Kynaston McShine/Lynne Cooke (Hg.), Richard Serra. Sculpture: Forty Years, New York 2007.
[7] Vgl. Heinz Ohff, Richard Serra: Berlin-Block vor der Neuen Nationalgalerie, Berlin, in: Das Kunstwerk, 32, 1979, S. 59. Heinz Ohff ist bezüglich des tödlichen Unfalls am 18. November 1971 beim Montageprozess von Serras Skulptur Sculpture Nr.3 im Walker Art Center in Minneapolis falsch informiert. Nur ein Monteur und nicht zwei – wie von Ohff angegeben − wurde von einer fallenden Stahlplatte erschlagen.
[8] Ohff 1979, S. 56.
[9] Serra 1994, S. 109.
[10] Vgl. Richard Serra, Montage, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Richard Serra. Interviews, Schriften 1970–1989, Zürich 1990, S. 109–111.
[11] Ebd., S. 109.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Sonja Hildebrand, Entwurf und Bau der Neuen Nationalgalerie, in: Gabriela Wachter (Hg.), Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, Berlin 1996, S. 12.
[14] Vgl. Christoph Hardebusch, Kulturforum, in: Wachter 1996, S. 35–36. Ein monumentaler runder Platz mit repräsentativer Randbebauung und vorgelagerten Arkaden sollte im Bereich der Matthäuskirche entstehen, die selbst zum Abriss bestimmt war.
[15] Vgl. Hildebrand 1996, S. 24–26; Hardebusch 1996, S. 39; Christian Hartmann/Michael Staffa, Less is more?, in: Wachter 1996, S. 64.
[16] Vgl. Hartmann/Staffa 1996, S. 68.
[17] Dirk Lohan, Skizzen der Erinnerung, in: Neue Nationalgalerie Berlin. Dreißig Jahre, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Berlin, Berlin 1998, S. 11.
[18] Joachim Jäger, Neue Nationalgalerie Berlin. Mies van der Rohe, Ostfildern 2011, S. 44. Mit der Glashalle verwirklicht Mies van der Rohe seine seit Anfang der vierziger Jahre verfolgte Idee eines frei überspannten und prinzipiell universal nutzbaren Großraums – des sogenannten Universalraums.
[19] Vgl. Ohff 1979, S. 56.
[20] Vgl. Serra 1990, S. 109.
[21] Vgl. Ebd.
[22] Serra 1990, S. 107.
[23] Max Imdahl, Serras „Right Angle Prop“ und „Tot“. Konkrete Kunst und Paradigma, in: Richard Serra, Arbeiten 66–77. Works 66–77, Bochum 1978, S. 166.
[24] Ebd., S. 167.
[25] Vgl. Ebd.
[26] Ebd., S. 168.
[27] Vgl. Marcus Vitruvius Pollio/Curt Fensterbusch (Üs.), Zehn Bücher über Architektur. De Architectura Libri Decem, Darmstadt 2008, S. 43–45.
[28] Richard Serra/Mark Simmons, Richard Serra: The Coagula Interview, Coagula Art Journal, Issue Nr. 36, Huntington Park (CA) 1998, URL: http://coagula.com/richard-serra [29.02.2012].
[29] Exemplarisch sei auf die Skulptur Two 45° Angles for Mies verwiesen, bei der sich Serra 1985 ein zweites Mal mit der Architektur von Mies van der Rohe, nämlich mit dem Haus Lange in Krefeld, auseinandersetzt. Trotz der Namenswidmung an Mies van der Rohe kann festgestellt werden, dass Serra seinem Bestreben Folge leistet und die Skulptur Two 45° Angles for Mies im Widerspruch zur Architektur steht, auf sich selbst rekurriert, sich ihren eigenen Ort erobert, sich ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich in diesem behauptet. Vgl. Leslie van Duzer/ Kent Kleinman, Mies van der Roheʼs Krefeld Villas, Princeton 2005.
[30] Peter Eisenman/Richard Serra, Interview. Richard Serra mit Peter Eisenman, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Richard Serra. Interviews, Schriften 1970–1989, Zürich 1990, S. 175.

Quellennachweis: Matthias Moroder, Richard Serras Berlin Block (for Charlie Chaplin). Serra gegen van der Rohe oder eine paradigmatische Skulptur in ihrem Verhältnis zur Architektur, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1350.

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Zwischen Zeichnung und Schrift

In der Terminologie Jacques Derridas unterliegt auch die Zeichnung den Prädikaten der Schrift, die bekanntlich nicht mit ihren geschriebenen und gedruckten Manifestationen zusammenfällt. Als verallgemeinerte Schrift kann sie durch jene Prädikate bestimmt werden, die Derrida aus dem klassischen philosophischen Schriftverständnis entwickelt: Lesbar-Bleiben, Iterabilität, Verräumlichung.[1] Ein schriftliches Zeichen in diesem Sinne bleibt als Zeichen lesbar, weil es immer wieder auf andere Weise lesbar wird, also iteriert werden kann. Dies ist nur möglich, weil ein Zeichen zwar durch seinen Kontext bestimmt ist, aber aus diesem Kontext herausgenommen werden kann – die Relation zwischen den Zeichen ist zugleich ihr Abstand voneinander, jener Raum, der es dem Zeichen ermöglicht, sich von anderen Gliedern abzulösen und in eine neue Kette einzutreten. Demnach kann nicht nur die Zeichnung als zeichenhaft bestimmt werden, sondern auch jede Erfahrung.[2] Ausgehend von Derridas Argumentation gegen jede Erfahrung reiner Gegenwart und für die Ausweitung des Schriftbegriffs stellt sich die Frage, ob innerhalb der allgemeinen Schrift eine Differenz zwischen Schrift und Zeichnung, zwischen Sprache und Sinnlichkeit gedacht werden kann. Dies wird im Kontext von Derridas eigener Auseinandersetzung mit Zeichnungen besonders virulent. Um die feinen Relationen und Differenzen zwischen Schrift und Zeichnung besser fassen zu können, empfiehlt es sich, die Untersuchung der Fragestellung um eine Position zu erweitern, die Schrift und Zeichnung nebeneinander zum Einsatz bringt: die Blind Time Drawings von Robert Morris. Das Verhältnis von Zeichnung und Schrift will ich in zwei parallel laufenden Strängen bei Derrida und bei Morris näher betrachten, um schließlich zu den spezifischen Merkmalen der Sinnlichkeit/der Erfahrung zu gelangen.

In seinem Text Aufzeichnungen eines Blinden beschreibt Derrida die Zeichnung zunächst als eine Arbeit der Hand.[3] Angesichts der klassischen Theorie der Zeichnung ist dies bereits mehr als eine einfache Beschreibung, denn die Theorie des Disegno definiert die Zeichnung vor allem als geistiges Konzept, das sich in Linien am Blatt sammelt.[4] Die Linien stehen an der Schwelle zur Sinnlichkeit, sind aber als Linien weder materiell noch sinnlich (diese Eigenschaften – Materialität und Sinnlichkeit – werden traditionell der Farbe, also der Malerei zugesprochen). Die Zeichnung gilt von der Renaissance bis in den Klassizismus vielmehr als eine vermittels der Linie sichtbar gewordene Idee.

Betrachten wir nun die Operation der Hände am Zeichenblatt etwas genauer: Wenn die Hände beim Zeichnen am Papier arbeiten, ist das Auge nur mittelbar am Entstehen des Strichs beteiligt. Dort, wo die Spitze des Bleistifts oder Feder das Papier berührt, ist nichts zu sehen; dort ist das Sehen abwesend – es sind Kontakt und Abdruck, motorische Fertigkeit und Taktilität, die am ‚Ursprung’ des Strichs stehen.[5] Damit ist das Zeichnen zunächst nicht nur eine Arbeit der Hand, sondern zugleich eine blinde Arbeit der Hand, oder genauer gesagt der Hände, denn obwohl meistens nur eine Hand zeichnet, ist die zweite Hand nicht untätig. Sie hält und dreht das Zeichenblatt und ist auf diese Weise verantwortlich für die motorische Orientierung der ZeichnerInnen am Blatt. Bereits auf einer relativ einfachen, technischen Ebene zeigt sich also ein blinder Fleck oder Punkt im Prozess des Zeichnens.[6]

Eine blinde Arbeit der Hände – dies scheint zugleich auch eine angemessene Beschreibung der Blind Time Drawings zu sein, die Robert Morris seit 1973 in Serien anfertigt. Schon die erste der insgesamt sieben Serien besteht aus 98 Zeichnungen, sodass das gesamte Konvolut der Blind Time Drawings kaum noch überblickbar ist.[7] Die Herstellung der Zeichnungen mutet dagegen geradezu simpel an und bleibt durch alle Serien hindurch einigermaßen gleich (abgesehen von der zweiten Serie, die der Künstler nicht eigenhändig gezeichnet hat, sondern von einer Frau ausführen ließ, die von Geburt an blind war). Sonst aber legt Morris für jede Zeichnung eine Aufgabe und eine Zeitspanne fest, bevor er zu zeichnen beginnt. Dann taucht er beide Handflächen in Graphitpulver oder Tusche, schließt die Augen und führt die vorgegebene Aufgabe am Papier aus – ohne zu sehen, was er tut. Im Nachhinein werden die Aufgabenstellung und die Zeitangabe auf dem Blatt notiert (Abb. 1): „With eyes closed, graphite on the hands and estimating a lapsed time of 3 minutes, both hands attempt to descend the page with identical touching motions in an effort to keep to an even vertical column of touches. Time estimation error: +8 seconds.“

Robert Morris, Blind Time I, 1973, Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 89 x 117 cm.

Abb. 1: Robert Morris, Blind Time I, 1973, Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 89 x 117 cm.

Die Rahmenbedingungen des Zeichenprozesses sind genau festgelegt und werden den RezipientInnen durch den Text mitgeteilt. Die Rahmenbedingungen werden gewissermaßen ins Werk integriert, sodass sie nicht mehr bloß Rahmenbedingungen sind, sondern Teil der Zeichnung. Morris besteht selbst darauf, dass die Blind Time Drawings ohne Text unvollständig sind.

Wo der Strich oder der Abdruck entsteht, an dem Punkt, wo der Stift oder die Hand das Papier berührt, kann die Zeichnerin nicht/s sehen. Dies betrifft das Schreiben ebenso wie das Zeichnen.[8] Die Schrift ist, wie das Bild, kein bloßes Transportmittel für Sinn oder Bedeutung. Der Sinn ist, wenn man Derrida folgt, nicht unabhängig von seiner materiellen Form, in der er unweigerlich in Erscheinung tritt, vernehmbar als Stimme oder sichtbar als Schrift. Jedes Zeichen hat eine sinnlich fassbare Form, oder kommt nur als sinnlich Fassbares zustande. Umgekehrt wird jede Form von Materialität zeichenhaft sein. Nie kann ich eine Zeichnung bloß als Graphit auf Papier auffassen. Wenn ich versuche, auf die Materialität der Zeichnung zurückzugehen, kann ich genau genommen nicht bei Graphit auf Papier stehen bleiben, weil zumindest das Papier wiederum zusammengesetzt ist. Die Frage nach dem Trägermaterial und dem, was es trägt, verkompliziert sich – Sinnlichkeit und Zeichenhaftigkeit erscheinen als unentwirrbar ineinander verstrickt.

Die Zeichnung oder das Bild ist also bereits von Sprache oder von diskursiven Versatzstücken durchdrungen, ohne Text im engeren Sinn zu enthalten. Eine Zeichnung ist immer schon mehr oder weniger als das Sichtbare:

Hier geht es nicht darum, sich der Freude am Spiel zu überlassen oder triumphierend Wörter und Vokabeln zu manipulieren. Im Gegenteil, Sie können hören, wie diese ganz von selbst in der Zeichnung erklingen, mitunter unmittelbar auf ihrer Haut; denn das Gemurmel dieser Silben hat in ihr bereits angehoben, Wortstücke stören sie/schmarotzen an ihr [le parasitent], und um diese Besessenheit zu vernehmen, muß man sich den Phantomen des Diskurses überlassen, indem man die Augen schließt.[9]

An der Oberfläche der Zeichnung ist ein Gemurmel vernehmbar, das man bloß aufgreifen muss, nicht in die Zeichnung hineinlegen. Aber man muss es vielleicht verdeutlichen oder ausformulieren – und dazu muss man bloß die Worte hören, die in der Zeichnung angelegt sind; man muss die Zeichnung nicht sehen – man muss also, wie Derrida nahelegt, die Augen schließen. Auch Derrida selbst, der über die Zeichnung schreibt, sieht sich vor die Wahl zwischen Zeichnung und Schrift gestellt.[10] Er legt „Netze aus Sprache“ um die Zeichnung, die er als solche nicht schriftlich erfassen, nicht zitieren kann.[11] Zwischen dem Gemurmel, das der Zeichnung inhärent ist, und der Sprache, die sich von außen um sie legt, scheint nur eine feine Grenze zu liegen. Sobald das offene, vielsilbige Murmeln in Worte überführt ist, versucht es von seinem fixierten Ort her die Offenheit einzudämmen.

Auch ein bloßer Abdruck, eine vermeintlich bloß materielle Spur macht bereits mehr vernehmbar als reines Material oder reine Sinnlichkeit. In den kurzen Texten der Blind Time Drawings formuliert Morris aus, was in den Abdrücken wiedergegebenen wird. Doch zugleich trifft der Text nicht ganz das, was zu sehen ist – eher ist da zu lesen, was Morris getan hat, während er nicht gesehen hat. Er beschreibt gewissermaßen die „Innenperspektive“ des blinden Vorgangs, seine Intentionen – oder das, was er zu zeichnen versuchte. Der abgedrückte Ablauf, der zu sehen ist, weicht davon ab. Die Spur deckt sich nicht mit der geschilderten Intention. Durch die Blindheit bei der Herstellung entsteht etwas, was Morris schon in einem Text von 1970 benennt: „a kind of regress into a controlled lack of control.“[12] Diese mangelnde Kontrolle durch den Künstler selbst soll dem Herstellungsprozess eine größere Kohärenz geben, sodass das Werk als offener Prozess, als Geste lesbar wird, nicht als abgeschlossenes Produkt, das die eigene Herstellung verbirgt.[13] Die Blind Time Drawings sind als Spuren von Gesten nachvollziehbar; der Herstellungsprozess ist aus den Abdrücken lesbar. Doch scheint eine prozessuale Ästhetik nicht alles zu sein, was sich in diesen Zeichnungen zeigt.

Morris beschreibt in seinen Texten einen Raum der Erfahrung, und einen solchen Raum scheint er auch in den Blind Time Drawings herstellen zu wollen. Diesen Raum der Erfahrung grenzt Morris immer dezidierter von einem verflachten Raum ab, den er auch der modernen Malerei – und der modernistischen Kunst überhaupt bis hin zur Minimal Art – zuordnet. Der flache Raum sei der Ort von Abstraktion und Intelligibilität, der Ort eines Diskurses, der die Erfahrung verflacht und einebnet. Das Paradigma dieser Zweidimensionalität scheint Morris vor allem in den kunstkritischen Schriften von Clement Greenberg zu finden, und zwar in eben jenem flächig-optischen Raum, den Greenberg als den Raum des modernen, zu sich gekommenen Mediums der Malerei bestimmt.[14] Exemplarisch beschreibt Greenberg diesen Farbraum als „eine strikt bildliche, strikt optische dritte Dimension“, eine Illusion, in die man „allenfalls hineinsehen kann: Man kann sie, wörtlich oder metaphorisch verstanden, nur mit den Augen durchwandern.“[15] Morris wendet sich von diesem Raum ab, der bloß eine flache, optische Projektion darstellt, eine Art Wand, der man sich gegenübergestellt sieht. Er sucht eine konkrete Dreidimensionalität, einen erfahrbaren Raum, der auf den Körper bezogen ist, nicht bloß auf den isolierten Sehsinn. Diesen Raum nennt Morris einen „space of the self“[16] – einen Raum, der durch Nähe und Distanz auf das Selbst, auf den Körper bezogen ist. Einen solchen Raum eröffnen die Blind Time Drawings: Zwischen Körper und Zeichenblatt entsteht ein Raum, der auf die Reichweite der Arme bezogen ist und im Zeichenprozess tastend erkundet wird.

Dieser vermeintlich reine, unmittelbare Tastraum der Blind Time Drawings wird durch die Schrift auf den Zeichnungen gestört. Wenn man den Texten von Morris in der Zuordnung der Schrift zur Flächigkeit folgen will, dann führt die Schrift diesen flachen Raum in den Erfahrungsraum ein. Schrift, Sprache, Logik und Ordnung fallen für Morris zusammen. Sprachliche und logische Operationen werden am besten auf flachen Oberflächen wiedergegeben.[17] Die flache Ordnung der Sprache fixiert die multidimensionale Unordnung der Erfahrung. Zeigen die Blind Time Drawings also zwei verschiedene Räume im Widerstreit? Oder generiert der Raum des Körpers oder des Selbst eine eigene Form von Wissen, die nicht der Ordnung der Sprache und der Fläche gehorcht? Was geschieht zwischen diesen beiden „Räumen“, zwischen Abdruck und Schrift?

Mit Derrida wiederum kann man erahnen, dass der Raum der Erfahrung grundsätzlich in Gefahr steht zu verfallen, sodass die Fülle, die Pluralität und die Ereignishaftigkeit der Erfahrung nur an der Grenze der Sichtbarkeit aufscheinen – als eine unwiderruflich verlorene Ganzheit.

Die Ruine befindet sich nicht vor uns, sie ist weder ein Schauspiel noch ein Gegenstand der Liebe. Sie ist die Erfahrung selbst, weder das aufgegebene, aber immer noch monumentale Fragment einer Totalität, noch bloß, wie Benjamin meinte, ein Thema der Barockkultur. Sie ist kein Thema, da sie vielmehr das Thema, die Setzung, die Präsentation und Repräsentation von allem und jedem ruiniert. Eher ist die Ruine dieses Gedächtnis, das offensteht wie ein Auge oder das Loch einer knöchernen Augenhöhle und das Sie sehen läßt, ohne Ihnen etwas vom Ganzen zu zeigen [sans rien vous montrer du tout].[18]

Das Modell der Ruine, das Derrida an die Erfahrung anlegt, beschreibt keine ehemals vorhandene Ganzheit, die mit der Zeit verfällt. Die Herkunft der sichtbaren Spuren ist von Beginn an verloren, die Erfahrung ruinös ohne jemals ruiniert worden zu sein. Der Reichtum und die jeweilige Singularität der Sinnlichkeit sind nur als Verlust erfahrbar. Die Struktur des Gedächtnisses liegt im Sehen begraben.

Das Zeichnen gibt für Derrida das Modell der Ruine der Erfahrung. Beim Zeichnen wendet sich die Zeichnerin von ihrem Modell ab. Sie muss aufs Blatt sehen, um nach der Natur, nach dem Modell zeichnen zu können; sie sieht vom Sehen ab, um das Gesehene zu zeichnen und ist also an das Gedächtnis verwiesen. Auf diese Weise gibt sich auch das Sehen, sobald es greifbar wird, als eine Art Erinnerung. Die Gesamtheit und die Tiefe der Erfahrung kann ich nicht erfassen oder gar behalten. Diese Form der Blindheit ist kein nachträglicher Verlust (sodass die vielfältige Fülle der Erfahrung zwangsläufig reduziert und konturiert werden müsste), sondern ein Nicht-Sehen, das im Sehen selbst liegt und es gewissermaßen bedingt. Das Unsichtbare bildet die Tiefendimension des Sichtbaren. Die Unsichtbarkeit ist, wie Derrida mit Merleau-Ponty formuliert, absolut, sie ist das Andere des Sichtbaren.[19]

Was es [das „Bewußtsein“] nicht sieht, ist das, wodurch sich das Sehen des Übrigen in ihm vorbereitet […]. Sich berühren, sich sehen bedeutet […] nicht, sich als Ob-jekt zu erfassen, sondern es heißt, für sich offen zu sein, für sich selbst ausersehen zu sein (Narzißmus) – […]. Das Empfinden, das man empfindet, das Sehen, das man sieht, ist kein Denken zu sehen oder zu empfinden, sondern es ist Sehen, Empfinden, stumme Erfahrung eines stummen Sinns.[20]

Merlau-Ponty selbst fasst diesen stummen Sinn auch als Fleisch der Welt, wo sich das sichtbare Ding in einem Netz von differentiellen Beziehungen formt. Zugleich ist dieses Fleisch oder Netz jener Ort, wo der eigene Leib in die Welt eingebunden ist – der Ort des Narzissmus. Die Möglichkeitsbedingung des Sichtbaren liegt in der Verknüpfung dieses Orts mit dem Netz der Welt. Was ich sehe, formt sich parallel aus den sichtbaren Bezügen in der Umgebung und aus jenen unsichtbaren Ähnlichkeits- und Differenzbezügen, die sich im „Bewusstsein“ ausbreiten. Ohne sich von den sichtbaren Assoziationen trennen zu lassen, entfalten die (un)sichtbaren Verknüpfungen, das Fleisch der Welt, in dem sich jedes bestimmte Ding zu sehen gibt.[21]

In Derridas Terminologie lässt sich der stumme Sinn der Erfahrung als unartikulierte Verräumlichung der Erfahrung re-formulieren. Die Erfahrung gründet nicht in einem Punkt, sondern in einer Wucherung der Relationen, und in gewisser Weise pflanzen diese differentiellen Relationen sprechend oder zumindest murmelnd das Diskursive in die Erfahrung ein.[22] Das Sehen ist einerseits als Vorgang ein Entzug oder Verlust, ein Übergehen zum Gedächtnis, andererseits liegt im Sehen eine unsichtbare Verräumlichung, die die Erfahrung erst ermöglicht. Das Ereignis des Ruins und die Möglichkeitsbedingungen der Ordnung sind am Ursprung des Sehens miteinander verknüpft – die Erfahrung entzieht sich zugleich der sprachlichen Ordnung und legt ihren Grund. Im Raum der Erfahrung hebt also nach Derrida bereits der Diskurs an, doch zugleich widersetzt sich dieser Raum der lückenlosen Übersetzung in die Ordnung der Sprache. Berührung und Sehen finden sich nicht nur mit der eigenen Verräumlichung, sondern zugleich mit explizit diskursiven Elementen konfrontiert, die von außen auf sie zugreifen.

Die Blind Time Drawings konfrontieren das blinde Tasten mit der formulierten Beschreibung der Erfahrung. Zwischen der abgedrückten Zeichnung und der beigefügten Schrift liegt ein Abstand, eine Unvereinbarkeit, obwohl beide auf derselben Geste beruhen, auf dasselbe Ereignis hinweisen. Wie kann der Raum der Erfahrung hier greifbar werden, ohne schriftlich-sprachlich zu verflachen?

Robert Morris, Blind Time I, 1973, Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 76,2 x 101,6 cm.

Abb. 2: Robert Morris, Blind Time I, 1973, Graphitpulver und Leinöl auf Papier, 76,2 x 101,6 cm.

Die sprachliche Spur erhält einerseits Charakter der Beiläufigkeit, der bloßen Ergänzung, doch zugleich behaupten sich die kleinen Texte als Kommentare oder Erstinterpretationen, die gewisse Deutungen der Fingerabdrücke von vornherein ausschließen. Die Abdrücke scheinen nicht völlig verschieden von der Schrift zu sein; sie artikulieren eine anklingende Ordnung, die in Morris’ präzise gesetzten Zeilen voll ausgeprägt ist. Wie das Schreiben durch Übung und Disziplinierung der Hand geformt ist, sind auch Morris’ Handabdrücke nicht ohne Kunstfertigkeit ausgeführt. Es ist keine grobe, unbändige Gestik, deren Spuren hier zu sehen sind. Auch keine ungeschickte, die sich abmüht, den gesetzten Aufgaben nachzukommen. Morris kann seine Aufgaben einigermaßen geübt ausführen, obwohl er nichts sieht. Er scheint sich trotz Blindheit auf dem Zeichenblatt zurechtzufinden. Dabei ist er sich auf ein Zusammenspiel von Gedächtnis, Tastsinn und Gehör angewiesen. Eben dieses fein abgestimmte, blinde Sensorium produziert jedes Mal wieder unvorhersehbare Abweichungen von der gestellten Aufgabe. Diese Abweichungen folgen nicht den intendierten Aufgaben und lassen sich nicht aus der Situation ableiten, eher werden sie gerade durch die Situation sichtbar, die Morris für die Produktion seiner Zeichnungen konstruiert. Was sichtbar wird, scheint nun eine Art Widerständigkeit des Körpers zu artikulieren, die in der schriftlichen Wiedergabe der Geste schon wieder verloren geht. Die protokollartige Beschreibung des Vorgangs kann bloß den Versuch oder die Intention erfassen. Das, was geschehen ist, während Morris die Augen geschlossen hielt, wird auf dem Blatt sichtbar, und zwar in der Differenz zwischen Abdruck und Text, eben in der Abweichung von der Aufgabenstellung, die Morris produziert, während er versucht der Aufgabenstellung genau zu folgen. Da die Möglichkeit zur Selbstkontrolle wegfällt, scheint es, als würden hier zwei Vorgänge nebeneinander ablaufen: Der Versuch, möglichst akkurat einer vorformulierten Aufgabe zu folgen, und die unbemerkte Abweichung von der intendierten Vorgehensweise. Mit welcher Hartnäckigkeit Morris diese Differenz immer wieder verfolgt und untersucht wird nicht nur an der Anzahl der Blind Time Drawings deutlich, sondern besonders auch an einzelnen Blättern, die eine Abfolge von Experimenten zeigen (Abb. 2).

Wenn Körperlichkeit, und damit auch Sinnlichkeit nur zwischen den Spuren aufscheint, wie können sich Körper und Erfahrung gegenüber der Schrift behaupten? Gibt es eine Eigenheit des Sinnlichen bzw. des Sehens gegenüber dem Diskursiven?

Das Sehen belässt in der Schwebe, was die Sprache fixiert; insofern gibt das Sehen selbst auch kein Wissen – oder zumindest keine Gewissheit. Es braucht eine Aussage über das Sehen, die das Gesehene festlegt und definiert. Aus diesem Grund kann, nach Derrida, ein Selbstportrait nie bloß aus dem Bild selbst als Selbstportrait identifiziert werden. Das Selbstportrait wird in den Aufzeichnungen eines Blinden zum Motiv oder zum Modell für eine gewisse Blindheit im Sehen, nämlich insofern das Sehen von sprachlichen Strukturen überdeckt wird. Zur Identifikation einer Zeichnung als Selbstportrait braucht es zumindest den Titel, der außerdem auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werden kann (das heißt, es können oder müssen noch weitere, nicht nur schriftliche Dokumente herangezogen werden, um ein Werk oder allgemeiner etwas Sichtbares zu identifizieren). Auf jeden Fall scheint etwas notwendig zu sein, was außerhalb der Zeichnung oder der Erfahrung liegt, um dieselbe zu identifizieren. Dieses ‚Außerhalb‛ trägt das Sehen zum einen in sich, indem es zugleich sehend und blind, gedächtnishaft oder verräumlicht ist, und sich also schon im Inneren differenziert. Darüber hinaus ordnen sich die feinen Kontraste des Sehens den harten Differenzen der Sprache unter. In welchen Konstellationen also kommen die feinen Nuancen unter den Begriffen zum Vorschein? Die Blind Time Drawings öffnen einen solchen Raum, in dem die Erfahrung in ihrer Differenz zur Schrift hervortreten kann. Derrida formuliert eine bestimmte Erfahrung bzw. ein spezifisches Ereignis, das Sehen und Sprache zugleich suspendiert. Vielleicht tritt hier ein fragendes ‚Wissen‛ des Körpers zu Tage, wobei Wissen kein angemessener Begriff zu sein scheint, da nichts/niemand definiert oder identifiziert wird.

Wenn die Tränen in die Augen treten, wenn sie dabei auch den Blick zu trüben vermögen, vielleicht enthüllen sie im Verlauf selbst dieser Erfahrung, in diesem Laufen von Wasser, eine Essenz des Auges, auf jeden Fall des menschlichen Auges […]. Im Grunde genommen [au fond], am Grund des Auges [au fond de l’oeil] wäre es nicht dazu bestimmt zu schauen, sondern zu weinen. Im Augenblick selbst, wo sie die Sicht verschleiern, entschleierten die Tränen das Eigene/Eigentliche [propre] des Auges. Das, was sie aus dem Vergessen hervorquellen lassen, in dem es der Blick zurückbehält, wäre nichts geringeres als die aletheia, die Wahrheit der Augen, deren höchste Bestimmung sie so offenbarten: das heißt eher das Anflehende als die Sicht/Vision im Auge zu haben, eher das Gebet, die Liebe, die Freude, die Traurigkeit als den Blick zu adressieren.[23]


[1] Diese drei Prädikate der Schrift entwickelt Derrida exemplarisch in: Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Limited Inc., Wien 2001, S. 15-45.
[2] Vgl. Derrida 2001, S. 29.
[3] Vgl. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, München 1997, S. 12.
[4] Eine klassische, kunsthistorisch-populäre Perspektive auf die Zeichnung formuliert z.B. Walter Koschatzky, Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke, Wien/Salzburg 1980.
[5] Vgl. Derrida 1997, S. 49.
[6] Die Beschreibung der Zeichnung als Arbeit der Hände ist eher eine Nebenerscheinung in Derridas Aufzeichnungen eines Blinden. Derrida spannt das Feld der Zeichnung zwischen zwei Hypothesen auf: Seine erste Hypothese besagt, dass die Operation der Zeichnung etwas mit Blindheit zu tun habe, die zweite Hypothese kündigt mit einem doppelten Genitiv an, dass die Zeichnung eines Blinden die Zeichnung eines Blinden sei – dass also die Zeichnerin, die einen Blinden zeichnet, sich selbst portraitiert, da sie selbst beim Zeichnen blind ist. Vgl. Derrida 1997, S. 10.
[7] Hier bleibe ich bei der ersten Serie.
[8] Die Schrift und die Zeichnung teilen zudem ihre Anfänge in prähistorischen Höhlenzeichnungen und Bilderschriften sowie ihre Etymologie aus dem alt-griechischen γράφειν, das “einritzen” oder “mit Linien darstellen” bedeutet.
[9] Derrida 1997, S. 44, Übersetzung leicht modifiziert.
[10] Vgl. dazu Derridas Anekdote über die kindliche Rivalität zu seinem Bruder, der gut zeichnete, während sich Derrida selbst – im Zeichnen höchst ungeschickt – für die Schrift entschied. Derrida 1997, S. 41f.
[11] Derrida 1997, S. 43.
[12] Robert Morris, Continuous Project altered daily. The Writings of Robert Morris, Cambridge 1995, S. 87.
[13] Die Zeichnung bildet diesbezüglich einen Zwischenfall, weil ihre spurhafte Verfasstheit in der Gezogenheit der Striche sichtbarer bleibt als in der Malerei, die den Pinselstrich verbergen kann.
[14] Stellenweise benennt Morris das Geschichtsmodell und die Theorie Greenbergs schlicht als „den Diskurs“. Vgl. Morris 1995, S. 119-142.
[15] Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Amsterdam/Dresden 1997, S. 273f.
[16] Morris 1995, S. 159.
[17] Vgl. Morris 1995, S. 160.
[18] Derrida 1997, S. 72. Erste Hervorhebung durch die Autorin.
[19] Vgl. Derrida 1997, S. 57.
[20] Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, München 1994, S. 313f.
[21] Auch die anderen Sinne und das aktuell Nicht-Sichtbare tragen zu dieser Formung des Sehens bei, das bei Merleau-Ponty als eine umfassende Wahrnehmung erscheint, die sich nicht von den anderen Sinnen trennen lässt. Besonders plastisch wird diese Erfahrung in Merleau-Pontys Beschreibung des Sehens von Farben. Vgl. Merleau-Ponty 1994, S. 174f.
[22] Vgl. Jacques Derrida, in: Brunette, Peter/Wills, Davis: The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida, in: Dies. (Hg.), Deconstruction and the Visual Arts. Art, Media, Architecture. Cambridge 1994, S. 15.
[23] Derrida 1997, S. 122, Übersetzung leicht modifiziert.

Quellennachweis: Barbara Reisinger, Zwischen Zeichnung und Schrift. Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität bei Robert Morris und Jacques Derrida, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1385.

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Art – the virtualized value

It is a matter of common knowledge that art is – or can be – expensive. Moreover, it is also known that specific connoisseurship distinguishes the worthless from the valuable and therefore also regulates the pricing. Public debates on the relation of artworks and their prices are not unusual. However, what are the actual conditions for this evaluation?

Based on Boris Groys’ theory of culture as a process of valorization, in which he investigates European avant-garde by the paradigm of the new, the impetus for producing and collecting art since the 1960s, when pieces of art became highly-rated investment objects, shall be discussed within this paper.[1] A general view on Western history shows that booming economies have become centers of art production and artistic innovation. Studying this phenomenon the following essay will focus on the evolution of money economy. In order to explore artistic value, the relationship between monetarism and virtuality has to be investigated.

Money allows to swap everything with everything – as Karl Marx explained.[2] Money can primarily be defined as universal value measure that enables a huge complex of transfers or exchanges of an unlimited number of different things between an unlimited number of partners. Georg Simmel explained money to have and to be relation in 1900.[3] Now, more than a hundred years later financial industry has developed further into computer-controlled high-frequency trading.[4] This practice, which is also called algorithmic trading, works in timespans as small as microseconds. Hence, those investors who can afford to use this technology are privileged. While these complex processes are quite hard to understand for non-professionals, ordinary people today use online banking or pay by electronic cash as matters of course.

The virtualization of money

Initially, a short overview on the evolution and the characteristics of money should be given here: The oldest form of money used as medium of exchange is called commodity money.[5]

Its value results from the commodity it has been made from. Whereas until the 13th century charges had been paid in natural products, money economy began to be established through introduction of coinage.[6] The nominal value of a mint was – in theory – depending on its commodity value, which means the value of the metal it was made of. In practice, precious metal was clipped and scratched from the coins, so its commodity value was reduced compared to the face value held by legal tender laws. Besides, it is provable that European sovereigns counterfeited mints to finance their war projects such as Philip IV of France.

Representative money, however, guarantees a claim on a commodity, for example gold or silver. Historically developed from coinage, the term can be illustrated easily by paper money: In 1609 the Bank of Amsterdam established bank money by receiving coinage at their intrinsic value. Gresham’s law – “Bad money drives out good“ – explains this effort.[7] In order to explicate the idea behind this dictum, the economic situation from the 13th to the 17th century as described above has to be imagined. Gresham shows that people try to spend bad money (debased coins) while saving good money (coins of high standard), which lowers the value of a country’s currency in general. In comparison to that, the money provided by the Bank of Amsterdam, was in accord with mint standards and guaranteed the exact same value, which made it worthier than real coinage. The invention of cashless payment transactions avoided the risks of conveyance and allowed a higher mobility. Whereas the Dutch banking house ensured covering in coins for deposits, the introduction of paper money produced a huge crisis in 18th century France, later known as Mississippi-Bubble. Authorities started producing money partly based on the ideas of John Law. He recommended covering banknotes not only by precious metal but also by immovable property. The latter guaranteed “earnings expectations“.

In Goethe’s drama Faust. The Second Part of the Tragedy, Mephistopheles suggests substituting gold standard from “unexploited resources” for paper money.[8] Goethe illustrates the magical component of money creation and points out its diabolic nature inspired not least by the French economic collapse. Similar to the situation in France around 1718, the fictional empire suffers from a shortage of precious metals, which has also led to a shortage of coins. The solution of replacing gold by paper is similar in history and literature. This shows the basic principles of money: there has always to be a certain shortage of money.[9] If the money wasn’t tight, it would not be worthy anymore.

In summary, it can be stated that values like silver or gold represented by coinage have become virtualized into a medium of exchange. This process of continuous virtualization of money as well as value itself is sustained and pushed on by inventing the banknote. Particularly during the 20th century we can observe two significant events having a high impact on global monetary management. The first was the Bretton Woods conference held in 1944 with the intention to decide over financial and commercial relations among the world’s major industrial states in order to prevent hyperinflation.[10] As a result of Bretton Woods the U.S. dollar became the world reserve currency, to which other national currencies of the system were pegged. In return, the U.S. guaranteed a fixed amount of gold for the dollar, which consequently ensured gold covering for the other currencies – the so-called gold exchange standard. Due to a coated inflation since 1945 and the high costs of the Vietnam War, President Nixon abandoned the gold standard finally in 1971. This second important event is known as the Nixon-Shock. In consequence of this shock, fiat money has been developed (Latin: fiat – “it shall be”). Fiat money is what we are using today; it does not have any intrinsic value but it is declared to be legal tender and issued and controlled by the state.[11] Paper money and coins or even software serve as a kind of certificate for the declared value.

Arts, patronage and money in the past

What about the coherence of money and art? In order to figure out how investment in art works nowadays it seems to be helpful to go back in history and to compare the relation of arts, patronage and money in feudal regency systems with our current art market. Michael Baxandall’s investigation on the relationship of artists and their clients in 15th century Italy shows a change of paradigm, which is very important for subsequent developments.[12] Paintings were – except for a few commissioned works – especially designed for each and every patron. While the medieval ‘artist’ had been paid like a craftsman for his time and the used material, sources written during the period of early Renaissance show a shift from precious material – like ultramarine and gold – towards pictorial skill. Giovanni d’Agnolo de’ Bardi paid Botticelli “two florins for ultramarine, thirty-eight florins for gold and preparation of the panel, and thirty-five florins for his brush“ in 1485.[13] In this context, “brush” indicates the painter’s labor and skill. This “economic basis for the cult of pictorial skill” had become possible in a booming society based on the advantages of money economy.[14] By giving up prohibition of interest, banking industry has been born initiated by Florentine families such as the Bardi, the Peruzzi and later the Medici.[15]

In the Dutch Golden Age the first flourishing art market was established, which allowed personalities like Rembrandt certain autonomy.[16] In contrast to 15th century Italy, the Dutch painters produced for the open market, as Svetlana Alpers points it out.[17] Due to a lack of land people of all classes invested in paintings. Pictures were cheap and were marketed at fairs. In comparison to Rubens, whose workshop was based on the division of labor, the author drafts Rembrandt’s personality to be the forerunner of the model of an artist, which we are familiar with in our present culture. According to Alpers’ argument, Rembrandt’s great effort was to create the label Rembrandt, containing an “aura of individuality“ in contrast to the manufactured mass product of a pre-industrialized society – a point of view, which I only partially agree on (see below).[18] The interesting fact is that Rembrandt managed his artistic career mostly on credit, which allowed him independence from the patronage system. As written sources show, the artist offered paintings or etchings as payment of his debt.[19] This had been made possible by a system flexible enough to enable these complex money transactions. Rembrandt could establish his wide reputation by dint of his specific manner of etching. He created a demand – as Alpers calls it – on his works in progress. By reworking the plate and modifying the image the print could be sold as new.[20] At a sale the artist himself bought the famous Hundred-Guilder Print, an impression of Christ Preaching, for this excessive price.[21] According to Alpers, Rembrandt intended to make his own work rare and beyond this to upvalue his profession in general by acquiring pieces of art at high prices.

During Industrialization, producing pictures on stock and merchandising them through galleries has more or less successfully become the rule rather than the exception. Paradoxically the artistic ready-made symbolizes the unique, the singular in opposition to the mass product. Driven by the paradigm of the artist as an autonomous subject creating out of his individuality, the period of the European avant-garde establishes the new as an essential category. This is exactly what Groys describes as the reevaluation of value.[22] In his model the author differentiates between the so-called archive and the profane. Ordinary things – out of profane context – are upvalued by reevaluation and become a part of the cultural archive, like Marcel Duchamp’s Fountain from 1917. Thus, a process of continuous exchange in both directions is launched, where it is also possible to devalue pieces of artworks for example as kitsch and banish them back into the profane world.

Trying to explore the area of value and money, these thoughts are central. Especially the idea of continuous exchange is similar to money economy. According to the works of Jochen Hörisch and recently Joseph Vogl, who both analyze the money system from the perspective of literature, the trust in money has replaced religion in some way.[23]

Arts, patronage and money in the 20th century

Since the 1970s fiat money is circulating around the globe. Earning expectations for the future create the value of assets, investment objects, prices and money itself. As Robert Hughes shows in his documentary “The Mona Lisa Curse”, a great shift within the art world took place in 1973, when taxi tycoon Robert C. Scull and his wife Ethel sold fifty works of Pop Art from their collection with tremendous profit at Sotheby’s New York.[24] Scull had bought Jasper Johns’ Double White Map for $ 10,200 around 1965 but resold it for $ 240,000, which was not only the record price of the evening but also the biggest sum ever spent on a work of a living artist.[25] Robert Hughes calls this event “a shift from aesthetics towards money”.[26]  As shown above, art has already been known as an asset in 17th century Netherlands. The new quality reached here is not that pieces of art are traded as commodities but rather the dimension of profit in the face of time. Average profit among works of top-artists was 29.4% p.a. observed during the period from 1979 to 1989.[27] According to the economic situation, contemporary art offers new opportunities as a secure investment. In Damien Hirst’s For the Love of God money was part of the media mix of platinum and diamonds, which it has been made from, as the artist himself was engaged in the consortium that acquired the most expensive contemporary artwork ever.[28]

Judging the role of the art collector/patron in the 20th century has to be done very carefully. Scull himself described buying art as “involvement”.[29] From an economic point of view the aim of every investor is to ensure making profit. Like money multiplying its worth, art offers the expectation of a high resale value after some years. Harald Szeemann worried about the fact of pushing prices by collectors or institutions as part of the game particularly within the American art system.[30] For the highly rated American artist Jeff Koons or the British artist Damien Hirst the workshop-practice of a Rubens became modus operandi rather than the practice of a Rembrandt who worked by his own hand.

Data processing and information technology has been the pacesetter for today’s money economy. We all benefit from its advantages through a global network which works as a huge machine désiderante:[31] Every time and at every place almost everything is available via the Internet, everybody can participate due to the innovations of the Web 2.0. Instead of communicating from one-to-many, content is provided from many-to-many. Following Walter Benjamin’s thoughts on mechanical reproduction, it can be assumed that for the collector incorporating the unique, the singular by purchasing it in order to stand out from the mass of art-consumers, like visitors of galleries or museums, might be a reason for art being this highly-paid status symbol.[32] In this context, Tasos Zembylas introduces Thorstein Veblen’s concept of conspicuous consumption according to which wealth is used to manifest social power.[33]

May I help you” by Andrea Fraser addresses these main issues in the art world. Realized as a lecture performance in 1991 during Allan MacCollum’s exhibition at the American Fine Arts, Co., New York,[34] actors address the visitors directly by means of a 20-minutes lecture about the presented pieces based on Fraser’s script:[35]

“I would say that this work is the apotheosis of abstraction. It’s an abstraction that implies an absolute simplification and reduction within a language of well balanced purity. It has extraordinary colors and formal intensity. […] It’s sublime – almost transcendent. It’s distinctive, disinterested, gratuitous, refined, restrained, sober, calm, guileless, good, simple, certain. It’s perfect. It has such tact, such grace, such quiet self-assurance. It’s . . .

She pauses again, then moves closer to the work. She looks at it for a moment. As she looks her expression becomes increasingly peaceful as if, in looking, all of her wants are satisfied.

. . . so far away from the passions that ordinary people invest in their ordinary lives. This is art. This is culture.”

The first character speaking to the audience represents the typical art critic, whose speech tends to be exclusive, evaluating, creating its own mystery not approachable for any ordinary person. It shows the elitist quality of contemporary art. The second character appearing in Fraser’s monologue continues:

“I always tell my clients that the criterion for buying an artwork should be whether you would want it in your home. Loving something means having it with you.

Your collection expresses the texture and quality and even the smell of your life. It permeates everything about you, from the condition of your teeth to the way that you love.

You’re branded by the objects you love. They mark you as the property of your culture, the property of your class.”

Here, the difference between you and the others is expressed very openly. The discourse addresses an art buyer directly, whose expectations are illustrated. Subsequently, art as simple investment object is denied in a polemic way.

“You know, some people come in here and they want to invest and then they haven’t got the time. Imagine! They haven’t got the time to be personally interested.

On the one hand investment and on the other, total incompetence. If you stuck a piece of shit on the wall it would be all the same to them as long as someone told them the shit was worth money. That’s the nouveau-riche approach.”

In his study Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste the French sociologist Pierre Bourdieu reveals aesthetics as a category of power.[36] Fraser uses this model for introducing her characters as representatives of different social classes. Here the “art lover” expresses his or her disapproval of the “nouveau-riche approach”.

In the 1960s the newly created style of Pop Art coincided with the art hype. Pop Art has been interpreted as an attempt of democratizing art by producing pieces, people understood. Especially for Andy Warhol making business was part of his artistic concept.[37] The technological progress since the 1990s made it possible for everybody owning the technical equipment and an internet access to broadcast himself by writing, sharing links, pictures, videos, podcasts or music. Warhol’s vision of 15 minutes fame for everyone seems to have become reality. While publishing in traditional media was once only possible from one to many, nowadays the formula is from many to many.[38] In this context the website of the British leading gallery owner Charles Saatchi should be mentioned.[39] The official site representing the gallery contains a prominently placed online store, which offers catalogues, merchandising articles, artist’s editions and works of art. Additionally there exists Saatchi Online which is a platform organized as a marketplace for (young) art accessible to everyone. Its advertising Janus-faced slogan “Discover. Get discovered.” invites investors as well as emerging artists. A series of online competitions, so-called Showdowns, are initiated here. The winner of each Showdown gets the opportunity to be shown at Saatchi Gallery. “Economy of attention”, a term, which is circulating in social media platforms, describes the principle of the internet: Publicity leads to profit. While prices of the Top 100 Artists remain astronomically high, a growing discount price segment can be observed, which is established through online platforms and in analogue life as well. An example is the ArtMart, a one-week event, taking place annually at Künstlerhaus Wien.[40] Visitors/clients are in a gold-rush mood by discovering art at € 80 the piece. Programmatically open-door policy is implemented to consume and to purchase one out of the 2,500 affordable art works. Regarding the number of art events – what does this mean for perception in general?

Robert Hughes refers in “The Mona Lisa Curse” to Walter Benjamin and in succession to the pessimistic view of Theodor W. Adorno by criticizing the presentation of Leonardo’s Mona Lisa in the Metropolitan Museum, which reduces the masterpiece to a facsimile of itself.[41] The motivation of the visitors to have seen rather than to view the panel makes the difference. While the mode of reception can be discussed, it is unquestioned that Mona Lisa represents fine arts – it is a convention. Following the argumentation of Groys, culture is generated by producing interchangeable and benchmark setting value measures. It is a dynamic process in which values become negotiated perpetually.

Benjamin’s aura has not been destroyed, neither through mass reproduction nor through the masses themselves. The artistic mission to demolish the artwork’s aura has at least created something I would call aura 2.0. The attempts to ‘democratize’ artistic production in terms of questioning the masterpiece or the original in the 1920s and in the 1960s only have worked for a short time – for a moment of shock. So the pricing of an archived artwork, its value is part of our knowledge and affects our perception on the one hand. On the other hand it also attracts and encourages more and more people to get involved by becoming artists, collectors or art historians. Joseph Beuys has once put the phenomenon into a very short and simple formula: Art = Capital[42].


[1] Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Wien 1992, pp. 10, 11.
[2] Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in:  Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1968, p. 566.
[3] Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Köln 2009, p. 147.
[4] Henrik Mortsiefer, Maschinen an der Macht, in: Tagesspiegel, 08-05-2010, URL: http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/maschinen-an-der-macht/1816674.html [03.06.2011].
[5] Georg Zoche, Grundsätzliches, in: Welt macht Geld, URL: http://weltmachtgeld.tnparty.eu/index.php/Grundsätzliches [10.06.2011].
[6] Hendrik Makeler/Nicolas Oresme/Grabriel Biel. Zur Geldtheorie im späten Mittelalter, in: Scripta Mercaturae. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Vol. 37, 2007, 1, pp. 56–94.
[7] Zoche 2011.
[8] Jochen Hörisch, Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt am Main 1996, pp. 130–132.
[9] Ibid., p. 130.
[10] Cf. Zoche 2011.
[11] Ibid.
[12] Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, 2nd Ed., Oxford 1988.
[13] Ibid., pp. 16, 17.
[14] Ibid., Preface to the 1st Edition.
[15] Jaques Le Goff, Geld im Mittelalter, Stuttgart 2010, pp. 163–168.
[16] Tasos Zembylas, Kunst oder Nichtkunst. Über Instanzen ästhetischer Beurteilung, Wien 1997, pp. 97, 98.
[17] Svetlana Alpers, Rembrandt’s Enterprise. The Studio and the Market, Chicago 1988, p. 94.
[18] Ibid., pp. 102.
[19] Ibid., pp. 96, 97.
[20] Ibid., 98.
[21] Ibid., 104. For comparison, contemporary Dutch household inventories list paintings under ten guilders: ibid., p. 94.
[22] Groys 1992, p. 14.
[23] Cf. Hörisch 1996, and Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals. 2nd Edition, Zürich 2010/11.
[24] Robert Hughes, The Mona Lise Curse (Documentary, 49 min.), GBR 2008.
[25] Baruch D. Kirschenbaum, The Scull Auction and the Scull Film, in: Art Journal, Vol. 39, No. 1 (Autumn, 1979), pp. 50–54.
[26] Hughes 2008.
[27] Zembylas 1997, p. 89.
[28] Stefan Koldehoff, Der Künstler kauft sich selbst, in: Süddeutsche Zeitung, 03-09-2007,  URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/das-ende-des-kunstbooms-der-kuenstler-kauft-sich-selbst-1.773847 [26.06.2011].
[29] Hughes 2008.
[30] Harald Szeemann, Zensur habe ich nie akzeptiert, woher sie auch immer kam (Interview), in: Cash, No. 43, 29-10-1993, p. 52-53, quoted after: ZAMBYLOS 1997: 69.
[31] Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus, 4th Ed., Berlin 1977.
[32] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Id., Schriften, Vol. I, Theodor W. Adorno (ed.), Frankfurt/Main 1955, pp. 366–405.
[33] Cf. Zembylas 1997, p.72, and: Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class, 1899.
[34] Sabine Breitwieser (ed.), Occupying Space. Generali Foundation Collection (cat.), Köln 2003.
[35] Andrea Fraser, May I Help You?, in: Friedrich Petzel Gallery, URL: http://i1.exhibit-e.com/petzel/95f61adf.pdf [12.07.2011].
[36] Pierre Bourdieu, Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste, Harvard University Press 1984.
[37] Cf.: Nina Tessa Zahner, Die neuen Regeln der Kunst. Andy Wahrhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006.
[38] Valerie Brennan, Navigating Social Media in the Business World, in: Licensing Journal, Vol. 1, p. 8–12.
[39] See: http://www.saatchi-gallery.co.uk/ and http://www.saatchionline.com/.
[40] Julia Urbanek, Die Revolution der leistbaren Kunst, in: Wiener Zeitung, 09-11-2010, URL: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/kunst/?em_cnt=34315&em_loc=77 [12.07.2011].
[41] Cf. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973.
[42] “CAPITAL is at present the work sustaining ability. Money is not an economic value though. The two genuine economic values involve the connection between ability (creativity) and product. That explains the formula presenting the expanded concept of art: ART=CAPITAL”, Joseph Beuys, 1985, quoted in: Regina Brenner, Political Activism, URL: http://www.walkerart.org/archive/F/9C4309B0B50D8AA36167.htm [02.10.2012]

Quellennachweis: Maria Männig, Art – the virtualized value, in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, URL: http://allover-magazin.com/?p=1078.

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