Richard Serras Berlin Block (for Charlie Chaplin)*

Serra gegen van der Rohe oder eine paradigmatische Skulptur in ihrem Verhältnis zur Architektur

In der October Files-Ausgabe[1] zu Richard Serra aus dem Jahr 2000 finden sich vier Zeilen zu Serras Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin), die in den Terrassenboden von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin eingelassen ist (Abb. 1). In diesen vier Zeilen wird diese Skulptur von Yve-Alain Bois exemplarisch dazu benutzt, um das Verhältnis von Serras Skulptur zur Architektur als eines des Konflikts zu erklären.[2] Serra wird darin zitiert, dass der Berlin Block[3] letztendlich gemacht wurde, „so that it would contradict the architecture.“[4] Benjamin Buchloh, Douglas Crimp, Hal Foster, Rosalind Krauss und Annette Michelson, die weiteren Autoren und Autorinnen dieser, den Serra Diskurs maßgeblich diktierenden Publikation erwähnen die Skulptur in ihren umfangreichen Ausführungen nicht. Im Namensindex wird sie zudem, fälschlicherweise, als Berlin Block for Checkpoint Charlie[5] angegeben.

Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,  Neue Nationalgalerie, Berlin.

Abb. 1: Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,
Neue Nationalgalerie, Berlin.

Nachdem man vergeblich weitere maßgebliche Publikationen[6] zu Serras Œuvre nach dem Berlin Block durchforscht, finden sich dazu dann aber doch ein paar Zeilen. In der sechsten Ausgabe der deutschen Zeitschrift für Gegenwartskunst Das Kunstwerk von 1979 schreibt Heinz Ohff, Serra habe sein „Kartenhaus-Prinzip“ seit dem Unglück in Minneapolis, bei dem beim Aufstellen einer seiner Plastiken zwei Arbeiter erschlagen wurden, abgeändert und seine Skulpturen seither statisch fixiert: gezähmte Giganten seien es nun, aber immer noch eindrucksvoll.[7] Der Berlin Block, einer dieser gezähmten Giganten also, wird nach den Feststellungen des Autors zudem wohl nie ein Wahrzeichen werden, da er für ihn so etwas darstellt wie einen „Slapstick mit Sicherheitsnetz“[8] – Slapstick als Referenz zu dessen Meister Charlie Chaplin.

Ein kurzer Überblick des − so gut wie nicht existierenden − Forschungsstandes zu Richard Serras Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) stellt uns unweigerlich vor die Frage, ob diese berechtigterweise keine Beachtung verdient, da sie einfach eine der schlechteren Arbeiten Serras ist, oder ob sie vielleicht doch – zumindest im thematischen Schwerpunkt des Verhältnisses von Serras Skulptur zur Architektur – einen nicht unwesentlichen, wenn nicht sogar einen paradigmatischen Platz einnimmt?

I.

Es soll vorerst Serras eingangs erwähntes Zitat ernst genommen werden, wonach der Berlin Block gemacht wurde, um in einem oppositionellen Verhältnis zur Architektur zu stehen, im Widerspruch zu ihr, um gegen sie zu arbeiten.

In einem Interview aus dem Jahre 1980 äußert sich Serra ausführlich zu den kontextuellen Bezügen seiner Skulpturen: „Ich glaube, dass wenn ein Werk, im Hinblick auf den Kontext, substantiell ist, es weder verschönert noch dekoriert oder auf sein spezifisches Gebäude hinweist, noch einer bestehenden Syntax etwas hinzufügt. Ich glaube, dass wenn Skulptur überhaupt ein Potential hat, dann das, sich ihren eigenen Ort und Raum zu schaffen und sich in Widerspruch zu den Räumen und Orten zu stellen, für die sie gemacht wurde.“[9] Serras Bestreben gilt Skulpturen, die auf sich selbst rekurrieren, sich ihren eigenen Ort erobern, sich ihren eigenen Freiraum abtrennen und sich in diesem behaupten.[10] Architektonische Raumkonzepte – Environments – werden durch seine Skulpturen verändert oder viel mehr subvertiert, indem Serra sie skulpturalen Raumkonzepten unterwirft:

Anti-Environments[11] werden dadurch geschaffen. Zentral ist dabei die Kritik an der bestehenden Architektur, die für Serra maßgeblich durch formal-ästhetische Referenzen möglich ist, die sich herstellen, „wenn architektonische Maßstäbe, Methoden, Materialien und Vorgehen verwendet werden. Das provoziert Vergleiche. Jede Sprache hat eine Struktur, über die in dieser Sprache nichts Kritisches geäußert werden kann. Um eine Sprache zu kritisieren, braucht es eine zweite Sprache, die sich mit der Struktur der ersten auseinandersetzt, aber eine eigene, neue Struktur besitzt.“[12]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Potsdamer Straße aus, 1962–67, Berlin.

Abb. 2: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Potsdamer Straße aus, 1962–67, Berlin.

Um den Berlin Block in Bezug auf sein Verhältnis zur Architektur formal zu analysieren, ist somit eine Auseinandersetzung mit Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie in Berlin, eine 1967 eröffnete Ikone der klassischen Architekturmoderne, unabdingbar (Abb. 2). Im Sommer 1962 erhält der Architekt vom Berliner Senat den Auftrag, eine „städtische Galerie des 20. Jahrhunderts“ zu bauen, für die man einen Bauplatz am Landwehrkanal, am südlichen Rand des neu entstehenden Kulturforums wählt – bezeichnenderweise an der ehemaligen Nahtstelle zwischen Ost- und West-Berlin.[13]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie sowie nördlich dazu die Matthäuskirche, 1962–67, Berlin.

Abb. 3: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie sowie nördlich dazu die Matthäuskirche, 1962–67, Berlin.

Mies van der Rohe richtet die Neue Nationalgalerie an den Fassadenachsen der nördlich dazu liegenden, 1846 geweihten Matthäuskirche aus (Abb. 3). Von diesen Achsen deduziert er ein orthogonales System, dem die gesamte Architektur bis ins kleinste Detail folgt. Die Kirche bot nämlich den einzigen unmittelbaren städtebaulichen Referenzpunkt, da ihr Viertel im Zuge der nationalsozialistischen Bestrebungen zum Ausbau Berlins zur Welthauptstadt Germania schon vor dem Zweiten Weltkrieg für die Errichtung der Nord-Süd-Achse teilweise abgerissen wurde. Die noch stehenden Gebäude fielen dem Bombenkrieg zum Opfer, sodass die beschädigte Matthäuskirche nach der Enttrümmerung isoliert verblieb.[14]

Von der Potsdamer Straße nach hinten versetzt, steht die von einem monumentalen Stahldach überspannte, nach allen Seiten hin offene Glashalle der Neuen Nationalgalerie auf einem massiven, hellgrauen Natursteinsockel, der das nach Westen abfallende Gelände überspielt. Mittels flacher Stufen erreicht man die ausgedehnte Terrasse, mit der man gleichsam den musealen Ort betritt. Eine die Terrasse umlaufende, niedere Attika schafft eine klar artikulierte Grenze zum Stadtraum. Die 1,20 Meter Seitenlänge der quadratischen Granitplatten, mit denen die Terrasse belegt ist, sind das Grundmaß, von dem alle weiteren Gebäudemaße durch Vervielfachung deduziert wurden, etwa das monumentale Stahldach: ein quadratischer Trägerrost mit Seitenlängen von 64,80 Metern und einem Gewicht von 1.260 Tonnen, bestehend aus 324 quadratischen Kassettenfeldern mit einer Kantenlänge von 3,60 Metern und einer Konstruktionshöhe von 1,80 Metern.[15]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Nahezu vollkommen angehobener Trägerrost des Stahldaches der Neuen Nationalgalerie am 05. April 1967, 1962–67, Berlin.

Abb. 4: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Nahezu vollkommen angehobener Trägerrost des Stahldaches der Neuen Nationalgalerie am 05. April 1967, 1962–67, Berlin.

1967 kommt der damals 82-jährige Architekt zur Dacherhebung nach Berlin. Das auf dem Boden vollkommen zusammengeschweißte Stahldach wird innerhalb von acht Stunden mit 24 synchron gesteuerten, hydraulischen Pressen über die neun kreuzförmig eingespannten Stahlstützen gehoben und dort auf die Stützenköpfe abgesetzt (Abb. 4).[16] Die Stützen sind nicht erwartungsgemäß an den Ecken des Stahldaches platziert, sondern stehen weit eingerückt, was die vier Ecken des Daches frei in den Raum schiebt. Mies van der Rohes Enkel und damaliger Projektleiter Dirk Lohan erinnert sich: „Als das Dach zwei Meter hoch war, wollte Mies unbedingt darunter gehen, um zu sehen, ob der wachsende Raum seiner Vorstellung entsprach. Von mir begleitet, ging er schwerfällig an zwei Krücken unter das schwebende Dach. Während Mies die majestätische Größe des Daches bewunderte, war ich hauptsächlich damit beschäftigt, im Fall eines Abstürzens der großen Stahlplatten unter einem der offenen Felder zu stehen. Mies [hingegen] ging so spazieren, als sei der Bau bereits vollendet.“[17] Im Prozess der sich vollziehenden Erhebung kehrt die maximale Schwere des Daches in den Eindruck einer maximalen Schwerelosigkeit des Raumes. In dem von Lohan beschriebenen Moment des Zwischen ist beides − Schwere und Schwerelosigkeit − gleichsam präsent; Bedrohung und Befreiung gleichermaßen wahrnehmbar.

Der kühne Entschluss des Architekten, die für das Museum vorgesehenen Galerieräume vollkommen in das Untergeschoss zu verlagern, ermöglicht es, im Erdgeschoss eine quadratische, allseitig verglaste, ungerichtete Halle mit Seitenlängen von 50,40 Metern, einer Deckenhöhe von 8,40 Metern und einer Fläche von 2.500 Quadratmetern zu realisieren. Die Verglasung der Halle ist allseitig um 7,20 Meter vom Dachperimeter zurückgesetzt, sodass zwischen der Glaswand und den Stützen ein Umgang entsteht, der die Verschränkung von Innen- und Außenraum noch verstärkt. Dem horizontal weit in den Stadtraum ausgreifenden Ausblick stehen die beiden nichttragenden Lüftungsschächte, die Holzgarderoben sowie die Stützen betont als vertikale Elemente entgegen. „Ein universeller Raum [entsteht]: Prägnant in seiner quadratischen Grundform, die durch das ebenfalls quadratische Deckenraster und die quadratischen Bodenplatten nochmals betont wird.“[18]

II.

1977, zehn Jahre nach der Dacherhebung der Neuen Nationalgalerie, muss vom Flughafen Tegel ein Kran ausgeliehen werden, um Serras massive, 70 Tonnen schwere Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) in das vorbereitete Fundament auf die Terrasse zu hieven.[19] Da die Tragfähigkeit der Terrassendecke bei weitem überfordert ist, muss unter der Skulptur im Untergeschoss eine Säule mit Rundeisenarmierung errichtet werden, die deren Gewicht stützt.[20]

Serra lässt den Block mit einem 24 Meter hohen, hydraulischen Hammer schmieden. Im Unterschied zu einem gegossenen Block wiegt dieser durch die Materialverdichtung ein Drittel bis zur Hälfte mehr. Eine Analyse des verwendeten, auf 1.280°C erhitzbaren Magnesium-Kohlenstoff-Stahls ergibt, dass die Molekularstruktur der Legierung kubisch ist. Der Berlin Block, ein Kubus mit einer Seitenlänge von 190,5 Zentimetern, wird aus einer kubischen Struktur geschmiedet, wodurch nicht nur eine optimale Verdichtung des Materials gewährleistet, sondern auch eine kongruente Form erreicht wird. Serra forcierte zudem eine maximal mögliche Kantenschärfe, die schlussendlich auf fünf Millimeter reduziert wird, um die kubische Geometrie der Skulptur zu akzentuieren und der Kantenschärfe der architektonischen Elemente in nichts nachzustehen.[21]

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin),  1962–67, Berlin.

Abb. 5: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.

Platziert wird die Skulptur von Serra auf der Terrasse, in der Nähe des nordwestlichen Treppenabgangs, der sich gegenüber der Chorfassade der Matthäuskirche befindet. Die Skulptur ist somit nicht nur dem orthogonalen System der Architektur, sondern auch seiner Ursprungsausrichtung – den Fassadenachsen der Kirche – gegenübergestellt (Abb. 5). Ungefähr 10 Meter vom Treppenbeginn (8 Granitplatten) und dadurch eine Platte hinter dem Beginn der Westfassade, 6 Meter von der (5 Granitplatten) sowie 17 Meter von der nördlichen Glasfassade der Halle (13 Granitplatten) ist die Skulptur entfernt. Dort ist sie um 5° im Uhrzeigersinn aus dem orthogonalen System der Architektur gedreht (Abb. 6).

Die Ausdrehung um 5° des Berlin Block (for Charlie Chaplin) bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft.

Abb. 6: Die Ausdrehung um 5° des Berlin Block (for Charlie Chaplin) bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft.

Diese Drehung bewirkt, dass die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche des Berlin Block die nordwestliche Ecke der Glashalle präzise trifft. Serra scheint die aus den Himmelsrichtungen im Uhrzeigersinn schon vollzogene Drehung, die in den Fassadenachsen der Matthäuskirche resultiert und die dem orthogonalen System von Mies van der Rohe zugrunde liegt, so lange weiterzuführen bis die Verlängerung der nordwestlichen Seitenfläche der Skulptur die nordwestliche Ecke der Glashalle kreuzt (Abb. 6).

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie den Verlängerungen von dessen Kubus-Seitenflächen,  1962–67, Berlin.

Abb. 7: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Grundriss des Erdgeschosses mit eingezeichnetem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie den Verlängerungen von dessen Kubus-Seitenflächen, 1962–67, Berlin.

Die Seitenflächen des Berlin Block wenden sich durch diese Drehung einerseits den von der Treppe und andererseits den von der Potsdamer Straße kommenden Betrachter und Betrachterinnen zu. Durch ihre Platzierung stellt sie sich ihnen als massiver Stahlkörper in den Weg. Gleichzeitig wendet sich die südöstliche, vertikale Kante des Kubus jenen zu, die in die Halle der Neuen Nationalgalerie eintreten (Abb. 7).

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Eine Hälfte der südlichen Seitenansicht der Neuen Nationalgalerie mit eingezeichnetem, abgesenktem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie der Verlängerung von dessen oberer Kubusfläche,  1962–67, Berlin.

Abb. 8: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Eine Hälfte der südlichen Seitenansicht der Neuen Nationalgalerie mit eingezeichnetem, abgesenktem Berlin Block (for Charlie Chaplin) sowie der Verlängerung von dessen oberer Kubusfläche, 1962–67, Berlin.

Durch die einseitige Absenkung von 7 cm in den Terrassenboden, neigt sich der Berlin Block um 2° auf die Neue Nationalgalerie zu. Diese leichte Neigung setzt der allgegenwärtigen, dominanten Untersicht des Daches eine permanente Sichtbarkeit der oberen Kubusfläche entgegen, die die Absenkung und Zuneigung der Skulptur zum Gebäude hin akzentuiert (Abb. 8). Anhand einer Verschiebung und zwei Drehoperationen des orthogonalen, geometrischen Systems der Mies‘schen Architektur schafft sich der Berlin Block ein eigenes System, das allerdings mit einem Grundmaß von 1,905 Metern operiert. Die Granitplatten, die durch die Absenkung der Skulptur betroffen sind, wurden beschnitten und einem aus dem orthogonalen System Serras resultierenden Fugenmuster unterworfen.

Serra wollte der klassischen Konstruktion der Neuen Nationalgalerie im Prinzip des Tragens und Lastens „nicht eine weitere Konstruktion hinzufügen […, sondern …] die Möglichkeit erproben, eine schwerkraftgebundene Masse am Ort zu fixieren, eine Kraft, ein Gewicht im Gegensatz zum Zentrum der Architektur, im Widerspruch zu ihr.“[22] In der offiziellen Fotografie des Berlin Block kommt dieser Widerspruch zur Architektur hervorragend zur Geltung (Abb. 1). Entscheidend dafür sind nicht nur bildstrukturelle Faktoren, sondern auch die Qualitäten der Schwarz-Weiß-Abbildung. Dem starken Kontrastwert der Fotografie kommt nämlich eine bildbestimmende Funktion zu, indem er die Skulptur, die Architektur und das Fugenraster des Terrassenbodens in ihrer dunklen Materialität markant hervorhebt.

Von einem Standort unmittelbar im oberen Treppenbereich nach Südosten fotografiert, zeigt die Fotografie die Skulptur links im vorderen Bildfeld. Ihr gegenüber, im rechten Bildfeld, fluchtet das herausragende Dach der Neuen Nationalgalerie in den Bildhintergrund. Der rechte Bildrand erfährt durch die Vertikalität der angrenzenden Stahlstütze eine innerbildliche Betonung. Die zweite in der Fotografie sichtbare Stütze lenkt den Blick über die Horizontale der Dachkante im hinteren rechten Bildfeld auf einen Ausschnitt der nordöstlichen Glasfassade der Halle. Ihre räumlichen Dimensionen sowie ihr schwereloser Eindruck im Inneren bleiben aufgrund der starken Reflexion der Glasfassade und des fragmentarischen Ausschnitts völlig verborgen. Das rechte Bildfeld unterscheidet sich markant vom linken durch eine Dynamik, die einerseits durch das starke In-die-Tiefe-Fluchten der Architektur entsteht und andererseits durch das sich in die Tiefe erstreckende Fugenraster unterstützt wird. Jener dynamische Eindruck wird im linken Bildfeld der Fotografie durch die Masse der Skulptur aufgehalten, ja geradezu negiert. Die Schwere des Stahlkörpers wird durch den starken Kontrast, der den Berlin Block vor dem nahezu entmaterialisierten Hintergrund als einheitlich schwarze Fläche erscheinen lässt, in die Fotografie übersetzt. Die leichte Neigung der Skulptur hin zur Neuen Nationalgalerie wird durch ihre silhouettenhafte Erscheinung und die Scharfkantigkeit maximal betont. Die geneigten Konturen des Berlin Block treten in Korrelation mit der fluchtenden Dachkante durch eine Gegenüberstellung von Schrägen, fordern sodann aber eine Konfrontation mit den markant horizontalen und vertikalen Elementen der Architektur. Die leichte Neigung widerspricht radikal dem orthogonalen System der Architektur Mies van der Rohes, das in seiner Vertikalen von den Stahlstützen, den hervorstehenden Stahlwandträgern der Dachkonstruktion und den Fensterunterteilungen der Fassade sowie in seiner Horizontalen von der betonten südöstlichen Dachkante konstituiert wird. Die Fotografie unterstreicht den Widerspruch, in dem die Skulptur zur Architektur steht. Sie bekräftigt, dass der Berlin Block eine Skulptur ist, die auf sich selbst rekurriert, sich ihren eigenen Ort erobert, sich ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich in diesem behauptet.

Richard Serra, Tot, 1977, Stahlblock, 210 x 210 x 30 cm, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität - Situation Kunst, Bochum.

Abb. 9: Richard Serra, Tot, 1977, Stahlblock, 210 x 210 x 30 cm, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität – Situation Kunst, Bochum.

Die aus demselben Jahr wie der Berlin Block stammende und diesem formal sehr ähnliche, ebenfalls in den Boden abgesenkte, rechteckige Skulptur Tot bezeichnet Max Imdahl als ein „Paradigma der Negation“[23] (Abb. 9). Für Imdahl entsprechen die rechten Winkel der rechteckigen Grundform der Skulptur nur dann den vertikalen und horizontalen Grundrichtungen und damit den Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins, wenn die Skulptur gerade und nicht abgesenkt steht. In der leichten Absenkung der rechtwinkligen Skulptur evoziert Tot das Geradestehen „als das ausgesetzte, verlassene Normative, als das nicht mehr in Geltung befindliche Gültige.“[24] Die Negation im Sinne eines Nicht-mehr ist dabei etwas anderes als eine reine Negation, da sie den Bezug zum eben verlassenen Normativen maximiert und den vollzogenen Bruch akzentuiert. Die Schwere und Starrheit des verwendeten Materials Stahl kommen laut Imdahl durch die Absenkung maximal zur Geltung, da die Form dieses Materials zwar nicht mehr den Grundorientierungen der Vertikalen und Horizontalen entspricht, aber dennoch als Rechteck erschließbar ist.[25] In der Selbstevidenz der Form und des Materials ist Tot für Imdahl paradigmatisch „nicht für [eine] Struktur […] von Existenz sondern als [eine] Struktur […] von Existenz.“[26]

Diese Feststellungen können aufgrund der formalen Nähe auch für den Berlin Block übernommen werden. Die Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins – Vertikalität und Horizontalität – werden von dieser Skulptur durch ihre leichte Absenkung im Sinne eines Nicht-mehr negiert. Die Skulptur setzt in ihrem Verhältnis zur Architektur zudem das konstruktive Grundprinzip der Neuen Nationalgalerie – als eines des Tragens und Lastens – außer Kraft und damit eine der Hauptanforderung an Architektur seit Vitruv, nämlich die „Firmitas[27], ihre Standhaftigkeit und Stabilität sowohl in der Konstruktion als auch in der Anschauung. Sie ist dabei alles andere als ein gezähmter Gigant, wie Heinz Ohff die Skulptur beschrieb.

Zur Absenkung des Berlin Block äußerte sich Serra wie folgt: “[T]he way it’s impaled into the deck gives the block a very ungainly look. Almost as if Chaplin were turning on his shoe. It has an almost comical gesture in the fact that this massive block seems to be plunged into the surface or entailed into the surface of the deck. And I think it undercuts the seriousness of the work by allowing one to see another aspect of its ungainliness.”[28] Die Absenkung der Skulptur, die deren Plump- und Unbeholfenheit hervorruft, evoziert für Serra einen spielerischen Umgang mit dem Verhältnis zur Architektur Mies van der Rohes. Diese spielerische Dimension des Berlin Block wird durch die Titelwidmung an Charlie Chaplin unterstrichen. Die hervorgerufene Dichte von Schmerz und Komik bei dessen Slapsticks kann in Bezug zur maximalen Dichte der Skulptur gebracht werden.

Diese Widmung verweist jedoch nicht nur auf formale Aspekte, sondern bezieht historische mit ein, die über die falsche Namensangabe im Index der October Files-Ausgabe sowie die – für Serra unübliche − Stadtangabe im Titel hinausgehen. Die maximale Schwere des Berliner Schwerbelastungskörpers bringt diesen unweigerlich in Zusammenhang mit dem Berlin Block. Dieser südlich von der Neuen Nationalgalerie, sich ebenfalls auf der geplanten Nord-Süd-Achse befindliche, von den Nationalsozialisten erbaute, 14 Meter hohe Betonzylinder mit einem Durchmesser von 21 Metern wurde von 1941 bis 1942 erbaut, um die Tragfähigkeit des Berliner Bodens für einen gigantischen Triumphbogen zu testen. Die Absenkung der Skulptur könnte als eine Persiflage der nationalsozialistischen Bemühungen um die Errichtung der Welthauptstadt Germania in der Art von Charlie Chaplins Film The Great Dictator von 1940 verstanden werden.

III.

Im peripatetischen Wahrnehmen des Berlin Blocks soll dessen festgestellter Widerspruch zur Neuen Nationalgalerie abschließend überprüft werden.

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Mitte der Glashalle in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin) während der raumbezogenen Installation von Rudolf Stingel im Jahre 2010, 1962–67, Berlin.

Abb. 10: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert von der Mitte der Glashalle in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin) während der raumbezogenen Installation von Rudolf Stingel im Jahre 2010, 1962–67, Berlin.

Im Durchschreiten der Terrasse sowie des Erdgeschosses der Neuen Nationalgalerie eröffnet sich im Wahrnehmungsprozess ein Spannungsfeld zwischen der Skulptur und der Architektur. Dieses Spannungsfeld oszilliert abhängig vom Standpunkt der Betrachtenden und erzeugt ein Zwischen, das jenem 1967 bei der Dacherhebung ähnelt. Dieses ephemere Zwischen lässt die Wahrnehmung zwischen der maximalen Schwere der Skulptur und dem Eindruck maximaler Schwerelosigkeit der Architektur pendeln. Ihm ist das Schwerefeld der massigen Skulptur und das Schwerelosigkeitsfeld der Glashallenarchitektur inhärent; das skulpturale Raumkonzept einer an einem Ort fixierten schwerkraftgebundenen Masse und das architektonische Raumkonzept eines universellen Raumes; das verdreht orthogonale System Serras und das orthogonale System Mies van der Rohes; das negierte Prinzip des Tragens und Lastens durch die Skulptur und das Tragen und Lasten der Architektur; das Nicht-mehr der Grundorientierungen unseres räumlichen In-der-Welt-Seins durch die Skulptur und dessen Noch-immer durch die Architektur – Bedrohung und Befreiung für die Betrachtenden, jeweils einmal mehr, einmal weniger wahrnehmbar (Abb. 10-12).

Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,  Neue Nationalgalerie, Berlin.

Abb. 11: Richard Serra, Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1977, Stahlblock, 190,5 x 190,5 x 190,5 cm,
Neue Nationalgalerie, Berlin.

Dieses Spannungsfeld schließt ein Verhältnis der Skulptur zur Architektur aus, indem es primär darum geht, die Architektur zu kritisieren, im Konflikt zu ihr zu stehen, ihr Raumkonzept zu subvertieren sowie ihr gegenüber ein „Anti-Environment“ zu schaffen − wie es bei den meisten, im Verhältnis zur Architektur stehenden Skulpturen Serras der Fall ist.[29] In diesem Spannungsfeld ist der Berlin Block eine Skulptur, die nicht auf sich selbst rekurriert, sich nicht ihren eigenen Ort erobert, sich nicht ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich nicht in diesem behauptet. Das Verhältnis zwischen Serras Berlin Block und der Neuen Nationalgalerie Mies van der Rohes ist eines, in dem sie einander bedingen und zugleich ausschließen, ein oszillierendes Spannungsfeld, in dem sie zueinander stehen.

In einem Interview von Peter Eisenman mit Richard Serra, in dem die beiden das Verhältnis von Serras Skulptur zur Architektur besprechen, äußerte sich der Architekt diesbezüglich wie folgt: „Was mich an Ihrem Werk interessiert, ist, dass es weder Bejahung noch Verneinung ist.“[30] Serra geht in seiner Antwort darauf gar nicht ein, ignoriert diese Äußerung Eisenmans vollkommen. Ein Verhältnis, in dem seine Skulptur die Architektur weder bejaht noch verneint, sondern in einem Spannungsfeld zu ihr steht und für das der Berlin Block (for Charlie Chaplin) ein paradigmatisches Beispiel ist, scheint Serra selbst nicht zu interessieren.

Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert vom südlichen Umgang in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.

Abb. 12: Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, fotografiert vom südlichen Umgang in Richtung des Berlin Block (for Charlie Chaplin), 1962–67, Berlin.


* Der vorliegende Aufsatz ist die gekürzte Fassung einer Bachelorarbeit, die im Rahmen eines Seminars von Prof. Dr. Friedrich Teja Bach zu Richard Serra im Wintersemester 2011/12 am Wiener Institut für Kunstgeschichte entstanden ist. Mein besonderer Dank gilt Prof. Bach, Felicia Hayden, Christine Brandner, Johanna Függer und Simon Vagts für wichtige Hinweise und Anregungen.

[1] Hal Foster (Hg.), Richard Serra, Cambridge (MA) 2000.
[2] Vgl. Yve-Alain Bois, A Picturesque Stroll around Clara-Clara, in: Foster 2000, S. 64–65.
[3] Die Skulptur Berlin Block (for Charlie Chaplin) wird folglich abkürzend als Berlin Block bezeichnet.
[4] Richard Serra, Rigging, in: Richard Serra, Richard Serra. Writings. Interviews, Chicago/London 1994, S. 99.
[5] Foster 2000, S. 201.
[6] Exemplarisch dafür sei der Ausstellungskatalog Richard Serra. Forty Years of Sculpture erwähnt, in dem der Berlin Block in den Aufsätzen von Benjamin Buchloh, Lynne Cook, Kynaston McShine und John Rajchman nicht berücksichtigt wird. Vgl. Kynaston McShine/Lynne Cooke (Hg.), Richard Serra. Sculpture: Forty Years, New York 2007.
[7] Vgl. Heinz Ohff, Richard Serra: Berlin-Block vor der Neuen Nationalgalerie, Berlin, in: Das Kunstwerk, 32, 1979, S. 59. Heinz Ohff ist bezüglich des tödlichen Unfalls am 18. November 1971 beim Montageprozess von Serras Skulptur Sculpture Nr.3 im Walker Art Center in Minneapolis falsch informiert. Nur ein Monteur und nicht zwei – wie von Ohff angegeben − wurde von einer fallenden Stahlplatte erschlagen.
[8] Ohff 1979, S. 56.
[9] Serra 1994, S. 109.
[10] Vgl. Richard Serra, Montage, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Richard Serra. Interviews, Schriften 1970–1989, Zürich 1990, S. 109–111.
[11] Ebd., S. 109.
[12] Ebd.
[13] Vgl. Sonja Hildebrand, Entwurf und Bau der Neuen Nationalgalerie, in: Gabriela Wachter (Hg.), Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, Berlin 1996, S. 12.
[14] Vgl. Christoph Hardebusch, Kulturforum, in: Wachter 1996, S. 35–36. Ein monumentaler runder Platz mit repräsentativer Randbebauung und vorgelagerten Arkaden sollte im Bereich der Matthäuskirche entstehen, die selbst zum Abriss bestimmt war.
[15] Vgl. Hildebrand 1996, S. 24–26; Hardebusch 1996, S. 39; Christian Hartmann/Michael Staffa, Less is more?, in: Wachter 1996, S. 64.
[16] Vgl. Hartmann/Staffa 1996, S. 68.
[17] Dirk Lohan, Skizzen der Erinnerung, in: Neue Nationalgalerie Berlin. Dreißig Jahre, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Berlin, Berlin 1998, S. 11.
[18] Joachim Jäger, Neue Nationalgalerie Berlin. Mies van der Rohe, Ostfildern 2011, S. 44. Mit der Glashalle verwirklicht Mies van der Rohe seine seit Anfang der vierziger Jahre verfolgte Idee eines frei überspannten und prinzipiell universal nutzbaren Großraums – des sogenannten Universalraums.
[19] Vgl. Ohff 1979, S. 56.
[20] Vgl. Serra 1990, S. 109.
[21] Vgl. Ebd.
[22] Serra 1990, S. 107.
[23] Max Imdahl, Serras „Right Angle Prop“ und „Tot“. Konkrete Kunst und Paradigma, in: Richard Serra, Arbeiten 66–77. Works 66–77, Bochum 1978, S. 166.
[24] Ebd., S. 167.
[25] Vgl. Ebd.
[26] Ebd., S. 168.
[27] Vgl. Marcus Vitruvius Pollio/Curt Fensterbusch (Üs.), Zehn Bücher über Architektur. De Architectura Libri Decem, Darmstadt 2008, S. 43–45.
[28] Richard Serra/Mark Simmons, Richard Serra: The Coagula Interview, Coagula Art Journal, Issue Nr. 36, Huntington Park (CA) 1998, URL: http://coagula.com/richard-serra [29.02.2012].
[29] Exemplarisch sei auf die Skulptur Two 45° Angles for Mies verwiesen, bei der sich Serra 1985 ein zweites Mal mit der Architektur von Mies van der Rohe, nämlich mit dem Haus Lange in Krefeld, auseinandersetzt. Trotz der Namenswidmung an Mies van der Rohe kann festgestellt werden, dass Serra seinem Bestreben Folge leistet und die Skulptur Two 45° Angles for Mies im Widerspruch zur Architektur steht, auf sich selbst rekurriert, sich ihren eigenen Ort erobert, sich ihren eigenen Freiraum abtrennt und sich in diesem behauptet. Vgl. Leslie van Duzer/ Kent Kleinman, Mies van der Roheʼs Krefeld Villas, Princeton 2005.
[30] Peter Eisenman/Richard Serra, Interview. Richard Serra mit Peter Eisenman, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Richard Serra. Interviews, Schriften 1970–1989, Zürich 1990, S. 175.

Quellennachweis: Matthias Moroder, Richard Serras Berlin Block (for Charlie Chaplin). Serra gegen van der Rohe oder eine paradigmatische Skulptur in ihrem Verhältnis zur Architektur, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1350.

Matthias Moroder diplomierte 2009 in Architektur an der Architectural Association School of Architecture London und studiert seither Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Wien
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