Editorial

Kunst ermöglicht Erfahrungen, die sich allen bestehenden Kategorien und Schemata entziehen können – Erfahrungen, die in ihrer ganzen Realität und Tragweite nie vollständig in Sprache übersetzbar sein werden. Das heißt jedoch nicht, dass eine theoretische, mithin sprachliche Auseinandersetzung mit Kunst per se zum Scheitern verurteilt wäre. Vielmehr öffnet gerade der durch die Künste ermöglichte Erfahrungsreichtum einen besonderen Raum, durch den das Denken immerfort getrieben wird, sich selbst und seine Grenzen zu erkunden. Es ist das erklärte Ziel dieser Publikation, diesen Raum auf vielfältige Weise zu erkunden und Schnittstellen zwischen konkreter Erfahrung und theoretischer Reflexion wissenschaftlich fruchtbar zu machen. Die Begriffe Kunst und Ästhetik markieren dabei die Eckpfeiler des weiten Themenfelds, in dem sich unsere Autorinnen und Autoren bewegen.

Dass ein solches Projekt von Beginn an disziplinäre und geografische Grenzen überschreitet, versteht sich beinahe von selbst. In der vorliegenden Ausgabe finden sich daher nicht nur Beiträge aus unterschiedlichen Gebieten wie Kunsttheorie, Kunstgeschichte, Philosophie und Soziologie versammelt, sondern zugleich auch Überlegungen junger Autorinnen und Autoren aus vier verschiedenen Ländern. Der Titel ALL-OVER markiert über den Begriff des „all-over-paintings“ also nicht nur eine Verbindung zur Malerei des 20. Jahrhunderts, sondern repräsentiert auch die thematische und methodische Vielfalt der Beiträge. Tatsächlich erweist sich die erste Ausgabe als ein weites Versuchsfeld kunstwissenschaftlicher Überlegungen, in dem sich – ähnlich den Gemälden Jackson Pollocks – verschiedene Gedankenlinien berühren, kreuzen und auseinander laufen, um sich insgesamt zu einem breiten Gewebe zu verdichten.

Besonders gefreut hat uns, dass das Projekt ALL-OVER auf Anhieb große und positive Resonanz gefunden hat. Als Publikation, die gerade jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern eine Präsentationsplattform für ihre Arbeit bietet, ist sie gleichsam ein Indiz für die wache Aktivität einer heranwachsenden Generation von Akademikerinnen und Akademikern.

Wir bedanken uns herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit und ihr Vertrauen, sowie bei all jenen, die zum Entstehen dieser Ausgabe beigetragen haben.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg

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„Bildkritik“ – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion

Gottfried Böhm, Kunsthistorisches Seminar der Universität Basel 2011.

Das Bild hatte in der Philosophie während langer Zeit einen schweren Stand. Überschattet von der Evidenz des begrifflichen Urteils, mit dessen Klarheit und Deutlichkeit es sich angeblich nicht messen konnte, und dabei nicht selten abgestempelt als bloße Verdoppelung der Dinge, fristete es im Denken vieler Philosophen lediglich ein Randdasein. Mit der Begründung der Ästhetik als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert erwachte jedoch ein zunehmendes Interesse an Wahrnehmung und damit auch an Bildern. Schließlich hat sich vor allem die Phänomenologie und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Form mit der besonderen Erscheinungsweise und Seinsart des Bildlichen beschäftigt. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Bildtheoretiker, der seit Jahren philosophisches Denken mit konkreter Seherfahrung zusammenbringt. Er hat damit nicht nur zu einer methodologischen Revision des Faches Kunstgeschichte beigetragen, sondern auch den mittlerweile interdisziplinär ausgetragenen Bild-Diskurs maßgeblich vorangetrieben.

DOMINIQUE LALEG: Herr Boehm, Ihre Forschung besteht zu einem großen Teil aus Arbeit an Bildern, einer Arbeit mit dem Sehen. Zum anderen aber auch aus intensiver theoretischer Reflexion, die insbesondere der Philosophie des 20. Jahrhunderts verpflichtet ist. Wie würden Sie das Verhältnis und Zusammenspiel dieser beiden Seiten Ihrer Tätigkeit beschreiben?

GOTTFRIED BOEHM: Ihr Begriff „Arbeit am Bild“ ist mir sehr sympathisch und innerhalb dieses Konzeptes lässt sich im Grunde auch schon die Antwort verankern, die ich zu geben versuche. „Theorie“ in meinem Sinne hat etwas zu tun mit der Durchdringung konkreter Phänomene, also Kunstwerke in aller Regel, so dass diese Durchdringung in der Theorie ein begriffliches Hilfsmittel gewinnt, das ihr erlaubt, die Erfahrung, die sich anbietet, zu intensivieren, zu artikulieren, über sie zu reflektieren. Das Ziel meiner Überlegungen ist die Konvergenz von Anschauung und anschauungsbezogener Reflexion am jeweiligen Werk, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkt – Bild in irgendeinem Sinne.

DOMINIQUE LALEG: Bezeichnet der von Ihnen verwendete Begriff der „Bildkritik“ diese Arbeit, diese Weise der Auseinandersetzung mit Bildern?

GOTTFRIED BOEHM: Das könnte man so sagen. Also der Ausdruck „Bildkritik“ ist etwas in den Vordergrund gerückt im Zusammenhang mit unserem nationalen Forschungsschwerpunkt, wo wir veranlasst waren, einen Leitbegriff zu formulieren und wir wollten ganz ausdrücklich die Kategorie „Bildwissenschaft“, die jetzt landauf landab benutzt wird, vermeiden. Und zwar deswegen, weil der Begriff der „Bildwissenschaft“ eine Autonomie und Sicherheit der Argumentation prätendiert, die uns nicht gegeben zu sein scheint. „Bildkritik“ hat im Übrigen auch, wie vor allem der angloamerikanische Gebrauch der Kategorie „criticism“ belegt, ein Moment des Prozesses. Wissenschaft ist sozusagen ein disziplinäres Monument, Kritik ist ein Prozess und diese Prozessseite lässt sich gut mit dem vereinbaren, was Sie vorhin als „Arbeit am Bild“ angesprochen haben.

DOMINIQUE LALEG: Das hört sich ganz so an, als ob Sie nicht unbedingt dafür sind, dass die sogenannten „Bildwissenschaften“ – ein Begriff, den Sie sogar vermeiden – sich zu einer eigenständigen Disziplin hin entwickeln. Diese Forderung gibt es ja. Wie stehen Sie dazu?

GOTTFRIED BOEHM: Ich bin kein Anhänger des Versuches, ein neues Fach aus dem Boden zu stampfen. Ich bin ein leidenschaftlicher Befürworter von Fragestellungen und Problemstellungen. Was mich leitet, ist, der Konsequenz einer Frage nachzugehen und nicht, ein Büro zu eröffnen, an dessen Tür steht „Institut für Bildwissenschaft“. Was jetzt ein bisschen karikiert ist, zeigt Ihnen aber, dass die Frage nach dem Bild in verschiedene Richtungen führt und dass sie auch zahlreiche andere Disziplinen, Erfahrungsfelder und Empirien einbezieht. In meinem Verständnis kann man Bildforschung oder Bildkritik nicht betreiben, ohne einen intensiven Dialog mit unterschiedlichen Disziplinen zu beginnen. Nicht nur Disziplinen der Geisteswissenschaften, da spielen, wie man weiß, auch andere eine Rolle. Also das Format des Bildes ist letztlich ein anthropologisches Format, das sehr weit führt und sehr weit ausgreift und deswegen würde ich es ungern in ein ungares Konzept von Bildwissenschaft mit all den Prätentionen, die damit verbunden sind, einsperren. Deswegen habe ich eine Reserve gegen den Begriff, ich weiß, dass er von Aby Warburg zuerst gebraucht wurde und für Warburg ist es deswegen okay, weil man da weiß, was er darunter verstanden hat.

DOMINIQUE LALEG: Sie haben den Nationalen Forschungsschwerpunkt „Iconic Criticisim“ oder eben „Bildkritik“ erwähnt. Ein interdisziplinäres Projekt in dem Sinne, wie Sie es eben erläutert haben. Wohin ist diese bis jetzt erfolgreiche Institution unterwegs, wenn nicht zu einem eigenständigen Institut, um nicht zu sagen, einer eigenständigen Disziplin?

GOTTFRIED BOEHM: Diese Institution ist unterwegs in Richtung einer fundamentalen Revision von Grundlagen unserer intellektuellen und kulturellen Arbeit und wenn man jetzt so emphatisch von Revolution spricht, dann muss man das sehr genau begründen. Ich glaube, dass die mit dem „iconic turn“ – das ist eine Floskel, aber eine Floskel, die das Problem jedenfalls anzeigt – verbundene wissenschaftliche Arbeit im Grunde den Versuch zu machen hat, neu zu bedenken, was die Konzepte von Logos, von Erkenntnis, von Medialität der Erkenntnis eigentlich ausmacht und welche Rolle genauer gesprochen das Ikonische in diesem Konzept des Logos spielt. Ich darf an dieser Stelle noch einmal unterstreichen, dass die abendländischen Logoskonzepte bislang ohne irgendeine Rücksicht auf Bildlichkeit ausgekommen sind, und mir die Fülle der Evidenzen, die wir inzwischen gewinnen konnten und gewinnen mussten, dahin zu führen scheinen, dass man diese Grundkategorie neu konzipieren muss. Also es muss eine Kategorie von Logos sein, die das Ikonische ein- und nicht ausschließt.

DOMINIQUE LALEG: Sie haben ein zentrales Stichwort erwähnt, nämlich das „Ikonische“. In diesem Zusammenhang gibt es den von Ihnen eingeführten Begriff der „ikonischen Differenz“. Es scheint, als wäre dieser Begriff auch ein Ergebnis aus der Verbindung von Kunstgeschichte und philosophischen Konzepten. Können Sie umreißen, was dieser Begriff meint?

GOTTFRIED BOEHM: Ja, „ikonische Differenz“ ist in der Tat eine Kategorie, die an einen Diskussionsstrang der Philosophie erinnert und da vielleicht auch anknüpft. Man könnte an Hegel denken, man könnte an Heideggers „ontologische Differenz“ denken, die „différance“ von Derrida, „Differenz und Wiederholung“ von Deleuze und anderes. Inwiefern und in welcher Weise meine Kategorie damit in Verbindung steht, würde ich für den Moment aber erst noch einmal einklammern, das heißt, eine Aussage dazu hinten anstellen. Und das hängt damit zusammen, dass die Funktion der „ikonischen Differenz“ darin besteht, dort anzuknüpfen, wo wir jetzt mit unserem Gespräch auch begonnen haben, nämlich mit der Arbeit am Bild. „Ikonische Differenz“ ist der Versuch, nachzubuchstabieren, was am Bild seine innere Strukturierung, seine ihm eigene Logik ausmacht. Also die „ikonische Differenz“ ist der Versuch einer ersten Bestandsaufnahme, eine Deskription der im Bild wirksamen, auf Sinnerzeugung hin ausgerichteten Mechanismen zustande zu bringen. Daran schließen sich dann sehr viel weitergehende Überlegungen an. Zum Beispiel ist „ikonische Differenz“ erst einmal eine Beschreibung von Phänomenen und in einem nächsten Schritt aber auch eine Reflexion darüber, in welcher Weise diese Phänomene durch den Blick des Betrachters aufgeschlüsselt werden, wie er sie wahrnimmt, kurzum die Einheit von Phänomen und Phänomenwahrnehmung in guter phänomenologischer Tradition ist im Begriff der „ikonischen Differenz“ mit ausgesagt.

DOMINIQUE LALEG: Sie versuchen also, einer genuin bildlichen Erkenntnisform oder einer genuin bildlich geleisteten Form von Erkenntnis auf den Grund zu kommen. Sie machen Bilder dabei sehr stark, gerade gegenüber einer begrifflichen Erkenntnisform. Können Sie etwas erläutern, wie Sie den Übergang oder die Grenze zwischen dem Sehen der Bilder und dem Denken von Begriffen verstehen?

GOTTFRIED BOEHM: Wenn man den Versuch macht, jenseits der Sprache Symbolisierungsprozesse zu identifizieren und zu entschlüsseln, kommt man, aus arbeitstechnischen Gründen sozusagen und um sich auch Freiräume zu schaffen, leicht in die Gefahr, das Bildliche oder die Deixis vom Sprachlichen zu isolieren oder beide gegeneinander zu stellen. Das ist argumentationstechnisch vielleicht auch unvermeidlich, in jedem Fall erlaubt. Nur am Schluss muss man natürlich eine Auskunft darüber bereithalten, wie sich das Deiktische, also das Ikonische, zum Sprachlichen verhält. Wie also hängen Zeigen und Sagen miteinander zusammen? Darüber ist relativ wenig nachgedacht worden, wenn ich einmal Wittgenstein oder auch das Spätwerk von Heidegger, wo von der „Sage“ und der „Zeige“ die Rede ist, beiseite lasse. Umso drängender wird es, dieses Verhältnis zu bestimmen. Und da würde ich, ohne dass ich das an dieser Stelle im Detail ausdifferenzieren kann, dazu neigen, am einzelnen Bild zu entscheiden, wie in ihm Sinndimensionen entstehen, die sich der sprachlichen Anschlussfähigkeit entziehen. Etwa die Rolle des Vieldeutigen, der Unbestimmtheit, der Ambiguität, eine sehr dem Bilde zuzuordnende Eigenschaft. Und dann das, was sich in Bildern auch eindeutig sprachlich manifestiert oder Anschluss an verbale Sprache ermöglicht und daraufhin angelegt ist. Vielleicht kann man, der Einfachheit halber, auf Imdahls Argumentationsfigur von „wiedererkennendem“ und „sehendem Sehen“ zurückkommen. Für Imdahl war das „sehende Sehen“ eines, das sich der sprachlichen Kodifizierung entzieht und im gleichen Zusammenhang, wo sich das „sehende Sehen“ manifestiert, kann sich aber auch das „wiedererkennende Sehen“ manifestieren, das sprachlich anschlussfähig ist.

DOMINIQUE LALEG: Nun sind diese Fragen nach einem „ikonischen Logos“ und der Verbindung des Sehens mit dem Denken, des Zeigens mit dem Sagen keine typisch kunsthistorischen Fragen. Sie selber haben ja zunächst im Fach Philosophie bei Hans Georg Gadamer promoviert, dann aber im Fach Kunstgeschichte habilitiert. War für Sie diese Verbindung immer fruchtbar und war immer klar, dass Sie damit in der Kunstgeschichte arbeiten wollen?

GOTTFRIED BOEHM: Ja, ich habe mein Studium – und das waren andere Zeiten – nicht auf ein festes Berufsziel ausgerichtet. Das war vielleicht dumm oder naiv, nur habe ich das einfach nicht getan, sondern bin meinen Interessen gefolgt und diese Interessen waren von Anfang an mit einer starken sinnlich-künstlerischen und einer theoretischen Faszination ausgestattet. Diese Konstellation war seit Gymnasialzeiten für mich leitend und maßgebend. Der Versuch, das im akademischen Studium zu realisieren, war unterschiedlich erfolgreich. Zum Beispiel musste ich die Erfahrung machen, dass die deutsche Kunstgeschichte der 1960er Jahre so theoriefremd war und so positivistisch gesonnen, dass ich meine Absichten, in diesem Fach Erkenntnisziele zu verfolgen, wie sie mir vorschwebten, zurückstellen musste. Ich bin damit gescheitert, dem damaligen Ordinarius in Heidelberg ein bestimmtes Projekt als Promotion plausibel zu machen, und habe es dann mit Hilfe von Gadamer in ein philosophisches Projekt verwandelt, mit dem ich dann auch promoviert habe. Und es lag nahe, nach dieser philosophischen Promotion noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, nämlich die Philosophie auf konkrete Phänomene zurückzuführen. Das war dann zugleich die Weichenstellung in Richtung einer kunstgeschichtlichen Habilitation. Inzwischen ist die Situation der Disziplin eine andere, in vielem auch eine offenere, flexiblere, so dass meine Erfahrung, das hoffe ich jedenfalls, nicht noch einmal wiederholt werden muss.


GOTTFRIED BOEHM ist seit 1986 Ordinarius für Neuere Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel und seit 2005 Direktor des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) „Bildkritik“, ebenfalls in Basel.

Quellennachweis: Dominique Laleg, „Bildkritik“ – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion. Ein Interview mit Gottfried Boehm, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=360.

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Transformation und Umwertung im Werk Théodore Géricaults*

I

Abb. 1: Théodore Géricault, Allegorisches Sujet, um 1818, Feder und braune Tusche, 16,6×21,8 cm, Rouen, Musée des Beaux Arts.

In den Jahren von 1816 bis 1818 befasst sich der französische Künstler Théodore Géricault (1791-1824) mit Sujets, die von einigen Autoren biographisch unterlegt werden. Der Inhalt seiner Zeichnungen dieser Zeit dreht sich um Figuren, die in wilder und blinder Raserei äußeren beziehungsweise inneren Gewalten entfliehen zu wollen scheinen, diese dabei aber nicht abzuschütteln vermögen. Ein möglicher Ausgangspunkt für eine Besprechung dieser Werke kann mit einer um das Jahr 1818 datierten Tuschezeichnung gesetzt werden, die ein allegorisches Sujet zum Inhalt hat (Abb. 1).

Das Sujet dieser Zeichnung war Quelle beträchtlicher Spekulationen unter Géricault- Forschern und hat sich bis jetzt einer endgültigen Identifizierung beziehungsweise Interpretation entzogen.[1] Mehrere Deutungen wurden bisher vorgeschlagen, darunter aber meines Wissens nicht die nächstliegende (zumindest, was eine Klärung der Interpretation über eine Untersuchung einer möglichen Herkunft der zentralen Figur betrifft).[2]

Abb. 2: John Flaxman, Look, Look! Distractions in the sight: I fly, I fly Choephoroe, Bildtafel 27 aus Aischylos, 1795, The E. P. Taylor Reference Library, Art Gallery of Ontario, Toronto.

Unter den angegebenen Deutungen scheint der Verweis von Marie Jeune-Pessiot auf die Illustrationen von John Flaxman zu Dantes Inferno  (1793) als mögliche Inspirationsquelle sehr plausibel zu sein. In Flaxmans Illustrationen zu Dantes Divina Comedia lassen sich tatsächlich etliche Motive finden, die auch in Zeichnungen Géricaults Eingang gefunden haben, wie etwa abwehrende Gesten, von Schlangen umschlungene oder laufende Figuren, die einen Eindruck von Flucht erwecken. Sehr nahe kommt Géricaults Bild jedoch eine Illustration Flaxmans aus Aischylos, welche die Flucht vor Ablenkungen thematisiert (Abb. 2).[3]

Die Eigenart der Pose von Géricaults Figur vermag allerdings nicht gänzlich in den Vergleichen mit Illustrationen Flaxmans aufzugehen, ihr Vorbild ist vielmehr anderswo zu suchen. Schließlich ist die Zeichnung entweder schon im Zuge von Géricaults Italienreise (1816-1817) oder kurz darauf entstanden, auf der er wohl auch die Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen in Rom gesehen hatte. In der Literatur wurde auf Laokoon als Vorbild für die zentrale Figur in der Zeichnung Géricaults bereits hingewiesen, so etwa von Lorenz Eitner im Jahr 1971.[4]Allerdings ist mir in diesem Zusammenhang kein Deutungsversuch bekannt, in dem auf eine mögliche Verbindung zwischen der damaligen Lebenssituation Géricaults und dem Schicksal Laokoons hingewiesen wird. In seiner Zeichnung scheint Géricault die Haltung Laokoons zu reflektieren, wie er sie mit dem ausgestreckten Arm in der damaligen Rekonstruktion gesehen haben musste (der stark angewinkelte Arm wurde erst nach einem späteren Fund im 20. Jahrhundert angefügt). Laokoon und die Figur in der Zeichnung eint, dass sie beide durch die Einwirkung äußerer Kräfte bedroht und bedrängt, von Ungeheuern und Dämonen verfolgt und bestraft werden. Bei Géricaults Figur scheinen diese Krafteinwirkungen aber bereits zumindest teilweise von ihrem Innenleben evoziert zu werden – sind die Schlangen noch relativ konkret und real, so erwecken die anderen, weniger kräftig gezeichneten Figuren rechts den Eindruck, schon dem Bereich innerer Dämonen anzugehören. Die Schlange, die Laokoon mit seinem Arm abzuwehren versucht, ist in Géricaults Zeichnung aber in eine Draperie, ein Gewandtuch, transformiert worden. Allerdings wohnt ihm noch, vor allem in der Spitze des rechten Endes, ein kreatürliches Eigenleben inne, das von der Herkunft des Tuches zeugt. Auf diese künstlerische Leistung der Umwandlung eines Figurenattributs ist bei den Verweisen auf Laokoon als Vorbild meines Wissens jedoch nicht hingewiesen worden.

Abb. 3: Théodore Géricault, Studien von fliehenden und berittenen Figuren, 1816-18, Feder und braune Tusche, 18,4×25,5 cm, Privatsammlung.

Ein Beleg für diese Transformation – und damit auch für die Herkunft der Figur – lässt sich in einer wohl in Rom entstandenen Studie fliehender und berittener Figuren finden, worin in der oberen Reihe die dritte Figur von links statt eines Tuchs noch eine Schlange in der linken Hand hält (Abb. 3). Die Differenzen zwischen dieser Figur und Laokoon basieren auf einer Seitenverkehrung beziehungsweise Verdrehung, die auf den möglichen Einfluss von Reproduktionen hinweist, in denen die Gruppe qua Reproduktionstechnik seitenverkehrt wiedergegeben wurde. Eine Besonderheit der Arbeitsweise Géricaults bietet eine alternative Erklärung: Der Künstler änderte oft seine Kompositionen oder auch einzelne Figuren kurz vor ihrer Ausführung insofern ab, als er ihre Seiten verkehrte.[5]

II

Géricaults Zeichnung (Abb. 1) hängt offensichtlich mit einem Werkkomplex zusammen, der als Gigantomachie-Projekt bezeichnet wird und ebenfalls in den Jahren von 1816 bis 1818 geschaffen wurde.[6] Zu dieser Werkgruppe wird auch die elaborierte Tuschzeichnung in Abbildung 4 gezählt.

Abb. 4: Théodore Géricault, Zwei Studien von fliehenden Figuren, 1816-18, Feder und braune Tusche und verdünnte braune Farbe über Bleistift, 14,6×21,9 cm, Schweiz, Privatsammlung.

Das Motiv einer fliehenden Figur mit bewegter Draperie, das Géricault in den Werken dieser Gruppe entwickelte, kann nach Wheelock Whitney möglicherweise als der mit dem vom vergifteten Blut des Zentauren Nessos durchtränkten Mantel kämpfende Herkules identifiziert werden, was gut zum Interesse Géricaults für die Herkuleslegende während seiner Italienreise passen würde. Auch scheint die zweite Figur von links in Abbildung 3 eine Keule zu halten, was ebenfalls auf die Figur des Herkules hinweist. Wendet man den Blick nun an den Ort, an dem die Studien der Abbildung 3 wahrscheinlich ausgeführt wurden – nämlich nach Rom – so mag man sich vorstellen, wie Géricault in der Laokoon-Gruppe eine Verkörperung seines eigenen Gemütszustandes erkannte. Wie Laokoon und seine beiden Söhne von den Schlangen zusammengezurrt werden, so nahm sich Géricault vielleicht durch die unmoralische Affäre mit seiner Tante (vor der er nach Italien ‚geflohen‘ war) und den ständigen Druck der Geheimhaltung derselben in seiner Freiheit beschränkt und eingeengt wahr. Der Sprung von der Laokoon-Studie in Abbildung 3 zur künstlerischen Leistung der Transformation der Schlange in ein Tuch scheint nun plausibler zu werden. Es sieht so aus, als habe sich Géricault im zeitlichen Umfeld seiner Italienreise mit der Thematik der Flucht auseinandergesetzt, was für ihn damals von unmittelbarer Bedeutung gewesen sein musste. Die Episode der Herkulessage mit dem vergifteten Mantel, der sich mit Herkules’ Haut verband und sich nicht mehr abstreifen ließ, würde ebenfalls zur Gemütslage Géricaults zu dieser Zeit passen – die Affäre mit seiner Tante verfolgte ihn weiterhin während seiner Italienreise. Das Motiv der Draperie und das damit verbundene Thema der Flucht waren also bereits durch die Herkulessage vorbereitet.[7] Meine These lautet nun, dass Géricault angesichts von Laokoon, in dessen misslicher Lage er eine Darstellung seines eigenen Gemütszustandes erkannte, gerade deshalb zu dem künstlerischen Schritt angeregt wurde, die Schlange in ein Tuch zu transformieren, weil die Bedrohung durch ein Gewand in der Episode der Herkulessage bereits angelegt gewesen war – Schlange (Laokoon) und Tuch (Herkules) boten ein wahrlich vortreffliches Mittel, um Draperie und Bedrohung in einer Form – der des ‚lebendigen‘ Tuches – zu synthetisieren. In Folge wohnt dem Gewand eine bedrohliche Wirkung inne, die sich vor allem in Abbildung 4 zeigt. Hierin scheint Géricault die Transformation der Laokoonschen Schlange in ein Tuch tatsächlich weiter ausgearbeitet zu haben. Der Ursprung des Draperiemotivs lässt sich noch daran erkennen, dass dem Gewand offenbar keinerlei Schutzfunktion innewohnt, sondern vielmehr eine bedrohliche Gewalt, vor der die Figuren zwar fliehen wollen, in der sie sich aber verfangen und sie nicht mehr abzuschütteln vermögen. Sie sind Gejagte ohne Hoffnung auf Rettung (die bewegten Draperien in Abbildung 4 können auf zweifache Art gelesen werden: Entweder als formale Resonanz und Verstärkung der dynamischen Figurenbewegung oder als eine Verdeutlichung eines Eigenlebens, das sich nicht um die Gesetze der Gravitation schert). Vor wem oder was die gehetzten und gepeinigten Figuren in Géricaults Zeichnung zu fliehen scheinen, bleibt allerdings unklar. Nie tritt eine definier- oder identifizierbare Bedrohung ins Bild – auf seltsame Weise scheint die Bedrohung von den Figuren beziehungsweise von ihren Attributen (den Draperien) selbst auszugehen, vor denen sie davonlaufen, sie aber gleichzeitig mit sich fort tragen und nicht abschütteln können.

III

Abb. 5: Théodore Géricault, Studie zur Meuterei auf dem Floß, 1818, Feder, Kreide und Bleistift auf Papier, 41,7×59,1 cm, Amsterdam, Stedelijk Museum.

Im Weiteren soll untersucht werden, ob die Figur in Abbildung  1 und deren Schicksal in den folgenden Werken Géricaults eine Rolle spielen, und wenn ja, welche. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass Abbildung 1 stilistisch und damit auch zeitlich den Zeichnungen nahe steht, die Géricault als Studien für das Floß der Medusa angefertigt hatte, darunter auch die  Studie zur Meuterei (Abb. 5).[8] Tatsächlich scheint Géricault hier die zentrale Figur von Abbildung 1 wieder aufzunehmen, nämlich in der männlichen Figur ganz rechts, die ein wehendes Tuch mit ihrem ausgestreckten linken Arm hochhält. Diese bemerkenswerte Figur wirft sich in buchstäblich blinder Raserei (das Tuch schlingt sich um ihre Augen) mit einem Beil in der rechten Hand in die Fluten, beziehungsweise richtet sie sich gegen die von rechts herannahende Naturgewalt, wobei beide in einem mimetischen Verhältnis zueinander stehen: Géricault hat das Tuch der Welle angeglichen. An diesem Punkt kommt auch das Verhältnis von Natur und Kultur ins Spiel, die blinde Raserei nähert sich den Gewalten der Natur an, der Kannibalismus, der kurze Zeit später auf dem Floß stattfinden sollte, kann aus einer eurozentrischen Perspektive als ein Herausfallen des Menschen aus der Kultur gedeutet werden. Die Verfolgung und Bedrohung durch Gewalten, die sich wie der vergiftete Mantel des Nessos nicht abschütteln lassen, haben sich in dieser Studie Géricaults zur blinden Raserei ausgeformt und entsprechen so auch dem Wesen einer Meuterei: Radikaler Umsturz einer sozialen Hierarchie, der blind ist für Unterschiede von Stand, Status und Herkunft. Interessant ist nun zu beobachten, was im Vergleich mit der Studie zur Meuterei schließlich im ausgeführten Monumentalgemälde Géricaults, dem Floß der Medusa (Abb. 6), passiert.

Abb. 6: Théodore Géricault, Das Floß der Medusa, 1819, Öl auf Leinwand, 491×716 cm, Paris, Musée du Louvre.

Ausgehend von der Figur in blinder Raserei in der Meuterei-Studie hat Géricault offenbar den Farbigen gemalt, der auf ein Fass gestiegen ist und mit einem um seinen linken Arm gewickelten Tuch der weit entfernten Brigg Argus winkt. Hier wird eine radikale Umwertung einer Figur deutlich, deren Entwicklung in Géricaults Allegorischem Sujet (Abb. 1) ihren Anfang genommen hatte. Ausgehend von Laokoon, der sich vergeblich gegen äußere Gewalten zu wehren versucht, hat Géricault im Allegorischen Sujet eine Figur geschaffen, die bedroht und verfolgt wird. Die Zeichnung hat allerdings neben den Gewalten, die der Figur äußerlich sind, bereits eine Bedrohung zum Inhalt, die vom moralischen Innenleben der Figur selbst erzeugt wird. Die Zeichnung bildet so eine Brücke zur Figur blinder Raserei in der Meutereistudie. Diese wird nun nicht mehr von äußeren, sondern von inneren Gewalten heimgesucht: Man mag hier an das Schicksal der Schiffbrüchigen denken, an einen Entzug von Flüssigkeit und fester Nahrung, die brennende Hitze der Sonne, die solche inneren Gewalten heraufbeschworen haben mochten und schließlich in ein Herausfallen des Menschen aus der Kultur in den als niederträchtig gebrandmarkten Kannibalismus mündeten. Bei der Figur in der Meutereistudie geht es nicht mehr um das Sehen und Wahrnehmen dessen, was dem Körper äußerlich ist, sondern um Vorstellungen, die aus dem Wahn geboren werden. Den Schlusspunkt bildet die Figur des Farbigen im Floß  der  Medusa, die nun mit einer von Géricault vorgenommenen Umwertung zusammenfällt: Der Farbige wird am stärksten von allen übrigen Schiffbrüchigen auf dem Floß zum Hoffnungsträger, weil er nämlich im Gegensatz zur Figur in der Meutereistudie wieder sieht, seine Sicht auf die Argus frei wird und er auch nicht mehr von einem Tuch beziehungsweise einer Schlange bedroht wird, sondern dieses beziehungsweise diese bändigen und in ein rettendes Signal verwandeln kann. Eine Einschlussbewegung, die mit Wahnsinn, Raserei und somit auch den Figuren Géricaults (etwa den Monomanen, deren stumpfer Blick die Bildfläche nicht zu durchbrechen vermag, um in einen reziproken Austausch mit den Betrachtern zu treten) in Verbindung gebracht werden kann, hat sich so in seinem wohl bekanntesten Gemälde in eine Figur der Öffnung verwandelt.[9]

IV

Ich möchte hier zum Schluss einen ganz knappen Ausblick auf die Frage geben, wie die in diesem Text entwickelten Beobachtungen an das Thema Elemente der Moderne im Werk   Théodore Géricaults angeschlossen werden können.[10] Eine mögliche Beantwortung dieser Frage kann im Nachleben der Ikonographie gefunden werden – und dies in zweifachem Sinne:[11] Einerseits wird am Beispiel Géricaults deutlich, wie im Zeitraum um 1800, der Schwelle zur Moderne, gesetzte ikonographische Formen ausgehöhlt und sodann von psychischen Dynamiken des Künstlers gefüllt und von innen heraus transformiert werden – Géricaults Sujets sprechen in diesem Sinne von Vorgängen, denen die Ikonographie selbst unterworfen wird. Andererseits ist damit ein methodischer Einsatz bezeichnet: Nach einem Ende der Ikonographie kann dieser Aufsatz zeigen, welcher Erkenntnisgewinn bei einer erneuten Beschäftigung mit dieser auf dem Spiel steht – es sei hier auf Aby Warburgs Begriff der „energetischen Inversion“ hingewiesen, der dazu herangezogen werden kann, werkimmanente inhaltliche Umwertungen Géricaults unter dem Gesichtspunkt einer umwälzenden Psychodynamik zu fassen, die das Tor zur Moderne aufstößt.


* Dieser Aufsatz ist die Kurzfassung des zweiten Kapitels, das ich für meine Diplomarbeit mit dem Titel Elemente der Moderne im Werk Théodore Géricaults ausarbeiten möchte. Ich danke Stefan Albl, Friedrich Teja Bach, Wolfram Pichler und Mirko Zschaubitz für wichtige Hinweise und Anregungen.

[1] Vgl. Wheelock Whitney, Géricault in Italy, New Haven/London 1997, S. 196.

[2] Whitney gibt hierzu einen Überblick: Whitney 1997, S. 212, Anm. 44.

[3] Vgl. Katharine Lochnan, Eintrag zu Kat. Nr. 65, in: Brenda Gilchrist (Hg.), Master drawings from the National Gallery of Canada (Kat.), Washington 1988, S. 202-204.

[4] Vgl. Lorenz Eitner, Géricault (Kat.), Los Angeles 1971, S. 63. Germain Bazin hingegen zieht einen direkten Vergleich zwischen Géricaults Allegorischem Sujet und einem Gemälde von Paulin Guérin, das auf dem Pariser Salon von 1812 ausgestellt wurde und Kain nach dem Mord an Abel zeigt, wie sich Satan in Form einer Schlange um ihn windet. Vgl. Germain Bazin, Théodore Géricault. Étude critique, documents et catalogue raisonné, Bd. 2: L’œuvre. Période de formation, Paris 1987, S. 318. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Bildern wäre jedoch erst zu prüfen, bevor man die Behauptung, Laokoon habe für Abb. 1 als Inspirationsquelle gedient, abschwächen könnte (eine Abbildung des angeblich zerstörten Gemäldes von Guérin war mir bis zur Fertigstellung dieses Aufsatzes nicht zugänglich). Für Abb. 1 haben sich also nun mehrere mögliche Vorbilder herauskristallisiert: die Illustrationen von John Flaxman, die Laokoon-Gruppe und das von Bazin angeführte Gemälde von Guérin – mit Georges Didi-Huberman kann man sagen, das Werk ist überdeterminiert und in ihm sind mehrere semantische Stränge verflochten.

[5] Vgl. Lorenz Eitner, Reversals of Direction in Géricaults Compositional Projects, in: Giulio Carlo Argan et al., Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964, Bd. 3: Theorien und Probleme, Berlin 1967, S. 126-133.

[6] Vgl. Whitney 1997, S. 192 sowie S. 212, Anm. 41.

[7] In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Herkules der Nessos-Mantel im Rahmen einer Eifersuchtsszene zum Verhängnis wurde: Seine Frau Deianira hatte ihm den Mantel geben lassen, als ihr das Gerücht zu Ohren kam, er habe sich in Iole verliebt – der tückische Nessos hatte Deianira zuvor seinen vergifteten Mantel als angeblichen Liebeszauber geschenkt. Vgl. Ovid, Metamorphosen, übers. u. hg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, S. 463-471.

[8] Vgl. Whitney 1997, S. 196.

[9] Michel Foucault zufolge fällt die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des 18. Jahrhunderts mit einem Kommunikationsbruch, einem abgebrochenen Dialog zwischen dem modernen Vernunftmenschen und dem Irren zusammen. Vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969, S. 8.

[10] Ich danke Wolfram Pichler sehr herzlich für den Hinweis auf diese mögliche Zuspitzung meines Themas.

[11] Dieser Ausdruck ist an Georges Didi-Hubermans Buch Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg (Berlin 2010), angelehnt.

Quellennachweis: Gabriel Hubmann, Transformation und Umwertung im Werk Théodore Géricaults, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=394.

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Vom Blick auf ein Volk, das noch fehlt

Die gesellschaftliche Funktion der Kunst besteht Theodor W. Adornos berühmtem Diktum zufolge in nichts anderem als ihrer Funktionslosigkeit. Kunstwerke „verkörpern durch ihre Differenz von der verhexten Wirklichkeit negativ einen Stand, in dem, was ist, an die rechte Stelle käme, an seine eigene.“[1] Was hier anklingt, ist ein emanzipatorisches Potential von Kunst, eine Perspektive auf Versöhnung, die selbst aber uneinholbar bleibt. Der nicht an Emanzipation interessierte soziologische Blick Niklas Luhmanns hingegen erkennt in der Kunst ein ausdifferenziertes Funktionssystem der modernen Gesellschaft, ein System also, das per definitionem eine Funktion erfüllt. Im Falle des Kunstsystems jedoch bleibt deren Erfüllung innergesellschaftlich, wie Luhmann illusionslos festhält, ganz einfach folgenlos. Unter Rückgriff auf Jacques Rancières Konzept einer der Kunst eigenen Politik der Gleichheit soll hier nun eine Spur gelegt werden, wie im Rahmen der Theorie einer funktional differenzierten Gesellschaft die Folgenlosigkeit der Kunst, die Luhmann wie auch Adorno festschreiben, aufgebrochen und ihre Funktion als zumindest potentiell emanzipatorisch verstanden werden könnte.

Zum  Funktionssystem  Kunst

Luhmanns systemtheoretische Rekonstruktion der modernen Gesellschaft geht davon aus, dass diese sich nicht mehr primär durch Stratifikation, also Schichtung, auszeichnet, sondern durch die Differenzierung in autonome Funktionssysteme wie etwa die Politik, die Wirtschaft, das Recht und eben auch die Kunst. Die historische Ausdifferenzierung der Kunst, deren Anfänge bis ins späte Mittelalter zurückreichen, ist gemäß Luhmanns Rekonstruktion spätestens mit der Romantik besiegelt. Mit dem Abschluss dieser Entwicklung geht die Etablierung von kunstspezifischen Rollenkomplementaritäten einher, paradigmatisch ‚Künstler‘ und ‚Betrachter‘, die von den Rollenkomplementaritäten der anderen Funktionssysteme, etwa ‚Käufer‘ und ‚Verkäufer‘ in der Wirtschaft oder ‚Regierung‘ und ‚Untertan‘ in der Politik, prinzipiell unabhängig sind. Schichtspezifische Kriterien, wie sie etwa im ‚Geschmack‘, einer Übergangslösung des 18. Jahrhunderts, noch nachgeklungen sind, wurden durch funktionssystemspezifische Kriterien abgelöst. Wohl gibt es, wie Luhmann einräumt, Verzerrungen, die Kunstliebhaber sind keineswegs gleichmäßig in der Gesamtgesellschaft verteilt. Diese Verzerrungen aber, die nach Kunstgattungen stark variieren, sind Luhmann zufolge nicht durch die Gesellschaft reguliert, sondern vielmehr als „Korrelat der evolutionären Unwahrscheinlichkeit von Gleichverteilungen“ zu verstehen.[2] Während Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft, seinem kunstsoziologischen Hauptwerk, diese Abkopplung des Kunstsystems betont, so hatte er in seinem frühen, dem ersten der Kunst gewidmeten Aufsatz Ist Kunst codierbar?   noch eingeräumt, dass die Kunst neben der Funktion, deren Referenz das Gesellschaftssystem als Ganzes ist, in Bezug auf andere Funktionssysteme auch Leistungen übernimmt.[3] Das entsprechende Kriterium hierbei ist die Brauchbarkeit im Rahmen der entsprechenden Funktionszusammenhänge, etwa zu Zwecken der Distinktion, wie sie insbesondere Pierre Bourdieu ausführlich analysiert hat.[4] Diese Ergänzung ist aus soziologischer Perspektive natürlich unabdingbar, nichtsdestotrotz lässt sich im Rahmen der Systemtheorie aber festhalten, dass schichtspezifische Zugangskriterien zugunsten von funktionssystemspezifischen zumindest in den Hintergrund getreten sind. So ist auch die kunstinterne Rangordnung der Kunstarten, die der stratifizierten Gesamtgesellschaft entsprochen hatte, durch eine segmentäre Binnendifferenzierung abgelöst worden, und was die Sujets betrifft, so ist nun ganz einfach alles kunsttauglich.

Die Funktion, die dieses autonome oder, in systemtheoretischer Diktion, ausdifferenzierte Teilsystem der Gesellschaft in dieser und in Bezug auf diese erfüllt, besteht nach Luhmann nun „im  Nachweis  von  Ordnungszwängen  im  Bereich  des  nur  Möglichen.“[5] Kunstwerke schaffen einen imaginären Raum und eine ebensolche Zeit, sie verdoppeln die Realität durch eine imaginäre Realität, eine Realität, die mit höheren Freiheitsgraden ausgestattet ist als die vorfindbare. Dass nun aber auch in diesem Bereich des nur Möglichen Ordnungszwänge herrschen, dass also Ordnung überhaupt, trotz grundsätzlicher Kontingenz jeder Ordnung, notwendig ist, weisen Kunstwerke dadurch nach, dass sie trotz der offensichtlichen Kontingenz ihres Hergestelltseins den Eindruck erwecken, mit Notwendigkeit genau so sein zu müssen, wie sie sind, dass sie sich gleichsam „gegen die eigene Kontingenz durchsetzen“ können.[6] Dieser Eindruck entsteht durch das, was Luhmann die „Schließung des Kunstwerks“ nennt.[7] Ein Kunstwerk entsteht und erschließt sich nur temporal, als Sequenz von Entscheidungen (Soll es eine Erzählung, eine Skulptur, ein Happening oder noch etwas anderes werden? Verwende ich Marmor, Holz oder Bronze? Setze ich den Meißel hier oder dort an? – und dergleichen mehr), die die jeweils nachfolgende zwar nicht determinieren, sie aber doch der Unterscheidung unterwerfen, ob sie dazu passen oder nicht. Das Kunstwerk ‚schließt sich’, wenn mit der letzten dieser Entscheidungen die erste gleichsam von der anderen Seite her wieder erreicht wird, wenn alle in dem Kunstwerk verarbeiteten Formen sich wechselseitig mit Sinn anreichern und ein in sich stimmiges Ganzes entstanden ist. Genau in dieser „unwahrscheinliche[n]  Evidenz“ , die letztlich die Notwendigkeit von Ordnung überhaupt manifestiert, liegt nach Luhmann die Funktion der Kunst.[8] Auf dieser Grundlage kann das Verhältnis der imaginären Realität der Kunst zur vorfindbaren sowohl in Begriffen der Imitation, der Affirmation wie auch der Kritik ausgearbeitet werden, was aber feststeht, ist die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst, die um genau diesen Preis mit, im Vergleich zu anderen Funktionssystemen, besonders hohen Freiheitsgraden ausgestattet ist, das heißt mit besonders vielen Möglichkeiten der Selbstbeschränkung und -regulierung.

Zur  Politik  der  Kunst

Ganz im Gegensatz zu dieser systemtheoretischen Beschreibung der Kunst als Funktionssystem, das gesellschaftlich folgenlos bleibt, spricht Jacques Rancière der Kunst ein emanzipatorisches Potential zu. Ein emanzipatorisches Potential, das sich aus der radikalen Gleichgültigkeit ergibt, die die Kunst in dem auszeichnet, was er das „ästhetische Regime“ nennt. Bei diesem „Regime“ handelt es sich um eine historisch spezifische Weise, Kunst als solche zu identifizieren. Es geschieht dies demnach nicht mehr primär anhand einer bestimmten, sie hervorbringenden Tätigkeitsform, wie etwa der Nachahmung, sondern vielmehr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer spezifischen, sinnlichen Sphäre, zu einem charakteristischen Erfahrungsmodus. Diese Sphäre des Sinnlichen ist durch die Auflösung aller üblichen Verbindungen und Ordnungen gekennzeichnet. Die Kunst wird befreit von jeglichen Vorgaben und Hierarchien: Es gibt nun kein Sujet mehr, das der Kunst nicht würdig wäre, keine Rangordnung der Sujets oder auch der Genres und Kunstarten, was zuvor in einer allgemeinen Analogie zur Hierarchie politischer und sozialer Tätigkeiten der Fall gewesen war. Trotz eminenter Unterschiede in der Theorieanlage lässt sich das, was Rancière hier im Blick hat, unschwer mit der von Luhmann beschriebenen Ausdifferenzierung des Kunstsystems in eine Beziehung der Entsprechung bringen.

Im ästhetischen Zustand, den Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen beschreibt, erblickt Rancière „die erste und in gewisser Hinsicht unübertroffene Manifestation dieses Regimes“.[9] Es handelt sich um einen besonderen Modus der Wahrnehmung, einen Modus, der ganz allgemein als ‚coincidentia oppositorum‘ näher spezifiziert werden könnte. Rancière erläutert dies anhand von Schillers Beschreibung der Juno Ludovisi, einer antiken Statue, von der nur der Kopf erhalten geblieben ist. Dieser abgetrennte Kopf einer Göttin, „die niemandem mehr befiehlt oder gehorcht, die nichts tut und nichts will“ , wird nun zum Symbol der Einheit von Gegensätzen, von Aktivität und Passivität, von Wissen und Nichtwissen.[10] Mit dieser Einheit, dieser Gleichgültigkeit evoziert Schiller nach Rancière eine Gemeinschaft von Gleichen und Freien, eine Gemeinschaft, in der die Unterscheidung zwischen den Aktiven, die entscheiden und befehlen, und den Passiven, die gehorchen und abseits des Gemeinsamen und Öffentlichen der privaten Arbeit nachgehen, zwischen denen, die wissen, und denen, die nicht wissen, suspendiert ist. Diese Gemeinschaft ist, wie er mit Deleuze festhält, „ein Volk, das ‚noch fehlt’.“[11] Im Kopf der Juno Ludovisi verdichtet sich die Erfahrung eines „Bruch[s] mit dem Schema der Adäquatheit, dem gemäß die Verteilung der Lebensverhältnisse oder Betätigungen genau der Körper-Verteilung und der Verteilung der körperlichen Ausstattung, die diesen Verhältnissen und Betätigungen angepasst sind, entspricht.“[12] Mit der Freiheit und Gleichheit der Sujets und der Genres der Kunst korrespondiert hierbei ein Betrachter, den Rancière als „zufälligen Passanten“ bestimmt: ein „Subjekt ohne besondere Identität, das ‚Irgendjemand’ heißt.“[13]

Es ist dies somit nicht weniger als ein Bruch mit der gesellschaftlichen Ordnung, denn auch diese konzipiert Rancière in ästhetischen Kategorien als System sinnlicher Evidenzen, als „Aufteilung des Sinnlichen“ und dies in einem doppelten Sinn: Einerseits legt diese Aufteilung fest, wer zur Gemeinschaft gehört, einen Platz in der symbolischen Ordnung der Gemeinschaft hat, wer sichtbar und fähig ist, das Gemeinsame zu sehen und darüber zu sprechen und wer von all dem ausgeschlossen bleibt. Andererseits betrifft sie aber auch das Gemeinsame selbst, die raumzeitliche Aufteilung der Teile der Gemeinschaft, der Plätze in der symbolischen Ordnung, die Verteilung der ihnen zugewiesenen Tätigkeiten und Fähigkeiten, die Legitimität der einem zustehenden oder nicht zustehenden Anteile. Solch eine Aufteilung des Sinnlichen nennt Rancière „Polizei“, der Begriff „Politik“ hingegen ist denjenigen Tätigkeiten vorbehalten, die ebendiese polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen unterbrechen, welche das sie zugleich ermöglichende und unterminierende Prinzip der Gleichheit der Beliebigen in sie einschreiben.

Die der Kunst eigene Politik der Gleichheit, wie Rancière sie im ‚ästhetischen Regime’ am Werk sieht, besteht nun also nicht etwa darin, die Betrachter aufzuklären und zu mobilisieren, sie also vom Nichtwissen zum Wissen und von der Passivität zur Aktivität zu führen, sondern vielmehr darin, Wissen und Nichtwissen sowie Aktivität und Passivität zum Punkt ihrer Ununterscheidbarkeit zu bringen. Innerhalb des ‚ästhetischen Regimes‘ unterscheidet Rancière nun aber zwei unterschiedliche Traditionen, diese Politik zu denken. Die eine erhofft sich die tatsächliche, sinnliche Verwirklichung der Gemeinschaft der Freien und Gleichen durch die Kunst, ihr Aufgehen im Leben. Hierzu zählt etwa Gilles Deleuze, demzufolge der Künstler nicht nur „‚mit Blick’ auf ein Volk, das ‚noch fehlt’“[14] arbeitet, sondern an der Hervorbringung dieses Volks auch unmittelbar selbst beteiligt ist. Angesichts der zum Scheitern verurteilten Versuche, Kunst und Leben zugunsten einer neuen Gemeinschaft zu verschmelzen – etwa der Experimente der russischen Avantgarde im Rahmen der Revolution, von denen letztlich nicht viel mehr übrig blieb als der Chorgesang, die von Ossip Mandelstam lakonisch beklagte „Geißel sowjetischer Erholungsheime“ – betont aber die andere Tradition gerade die Autonomie der Kunst. Rancière exemplifiziert diese zweite Tradition an Adorno, ihr gehört aber zweifelsohne auch Niklas Luhmanns Theorie der modernen Kunst als eines ausdifferenzierten Teilsystems der Gesellschaft an.[15] Luhmann versucht jedoch nicht wie Adorno, ihr emanzipatorisches Potential um den Preis des unendlichen Aufschubs seiner Verwirklichung zu retten, sondern konstatiert vielmehr nüchtern ihre gesellschaftliche Folgenlosigkeit.

Die Produktivität der Begegnung von Luhmanns und Rancières Bestimmungen dessen, was als gesellschaftliche Funktion der Kunst bezeichnet werden kann, auch wenn Rancière diesen Ausdruck nicht verwendet, wird nun dadurch ermöglicht, dass Rancière die Autonomie der Kunst selbst nicht zugunsten des Einswerdens von Kunst und Leben aufgeben will, sondern vielmehr auf die Bedeutung der Aufrechterhaltung der Spannung zwischen diesen beiden Polen hinweist. Der vergebliche Traum der sinnlichen Verwirklichung einer neuen Gemeinschaft, des ‚Volks, das noch fehlt’, wie er in Anlehnung an Deleuze schreibt, gilt es gerade aufgrund seiner von vornherein feststehenden Vergeblichkeit ebenso zu vermeiden wie die Selbstbescheidung im Rückzug in die gesellschaftliche Folgenlosigkeit. Vielmehr halten Kunstwerke, als Bestandteile einer autonomen Sphäre des Sinnlichen, den ‚Blick auf ein Volk, das noch fehlt’ aufrecht, ohne aber dieses durch sich selbst, letztlich durch Selbstabschaffung, hervorbringen zu wollen. Kunstwerke evozieren im Rahmen ihrer eigenen Politik eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen, die durch Kunst zwar nicht verwirklicht werden kann, die aber mit einem politischen Aufbrechen der ungleichen gesellschaftlichen Ordnung durchaus in Korrespondenz treten kann. Denn auch diese versteht Rancière in erster Linie als eine Ordnung sinnlicher Evidenzen.

Zur  Politik  des  Funktionssystems  Kunst

Die vor dem Hintergrund einer ästhetischen Konzeption gesellschaftlicher Ordnung anzusiedelnde, künstlerische Politik der Gleichgültigkeit lässt sich nun in die Luhmannsche Theoriesprache übersetzen und dadurch das emanzipatorische Potential der Kunst, der ‚Blick auf ein Volk, das noch fehlt’, in die systemtheoretische Beschreibung der Kunst als Teilsystem der modernen Gesellschaft einführen. Die Funktion des autonomen Kunstsystems, die Luhmann am Nachweis der Notwendigkeit von Ordnung überhaupt festmacht, wird dadurch zu einem Pol, der durch einen anderen ergänzt wird, den anderen, der den Blick auf die Gemeinschaft der Freien und Gleichen ermöglicht. Kunstwerke ermöglichen diesen Blick, sie evozieren diese Gemeinschaft durch das Zusammenfallen von Gegensätzen, wie Rancière es anhand von Schillers Beschreibung der Juno Ludovisi erläutert. Der Zustand der Aufhebung der Gegensätze von Aktivität und Passivität, von Wissen und Nichtwissen, der Zustand der Suspendierung der vorfindbaren Ordnung aber lässt sich mit systemtheoretischem Vokabular nur als Zustand der totalen Entdifferenzierung beschreiben. Wenn Rancière von „der Konstruktion eines neuen Lebens, in dem die Kunst, die Politik, die Ökonomie oder die Kultur in ein und derselben Form des gemeinschaftlichen Lebens verschmelzen“ spricht, so lässt sich dies systemtheoretisch nur als Suspendierung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft fassen.[16] Mit dieser Suspendierung fallen auch die funktionssystemspezifischen Rollenkomplementaritäten als Gegensätze zwischen aktiv und passiv wie auch zwischen Wissen und Nichtwissen dahin. Luhmanns Bestimmung der Funktion der Kunst als Aufzeigen der Notwendigkeit von Ordnung überhaupt kann mit Rancière somit ergänzt und gleichsam in Schwingung versetzt werden – durch den Blick auf eine entdifferenzierte Gesellschaft. Dass diese prinzipiell nicht verwirklicht werden kann, deckt sich hierbei mit Rancières These, dass die fundamentale Gleichheit nicht als Aufteilung des Sinnlichen verwirklicht werden kann, denn Aufteilung, also Ordnung, bedeutet immer Ungleichheit. Die Gleichheit lässt sich vielmehr bloß ereignishaft in die polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen einschreiben. Ist dies aber geschehen, handelt es sich einfach um eine neue polizeiliche Ordnung, in der sich Gleichheit dann als unterminierendes Prinzip erneut geltend machen kann.

Der Blick auf eine entdifferenzierte Gesellschaft, der durch ein Kunstwerk evoziert werden kann, lässt sich systemtheoretisch mithin als Blick auf die letztliche Kontingenz jeder sozialen Ordnung interpretieren. Dass Ordnung immer kontingent ist, ist der Luhmannschen Theorie hierbei keineswegs fremd, vielmehr handelt es sich sogar um eine ihrer wesentlichen Säulen. Das Zustandekommen von Ordnung ist extrem unwahrscheinlich und könnte immer auch anders vonstattengehen. Auf dieser Grundlage beobachtet der Systemtheoretiker beziehungsweise die Systemtheoretikerin, wie Ordnung durch Reduktion von Komplexität, also durch Systembildung zustande kommt, und auch die moderne Gesellschaft selbst zeichnet sich Luhmann zufolge durch ein Bewusstsein ihrer eigenen Kontingenz aus. Die Besonderheit des zweiten der beiden Pole, zwischen denen Kunstwerke eine Spannung aufrecht zu erhalten suchen, besteht also nicht bloß darin, dass sie die letztliche Kontingenz jeder Ordnung aufzeigen, sondern vielmehr darin, dass sie dies in Form eines Blicks auf einen nicht verwirklichbaren Zustand der totalen gesellschaftlichen Entdifferenzierung, eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen, erreichen. Dass dieser Blick auf ein ganz anderes, die Distanz zur vorfindbaren Ordnung, die diese in ihrer Kontingenz, ihrer letztlichen Grundlosigkeit aufzeigt, sich mit Bemühungen verbinden kann, diese Ordnung aufzubrechen, Bemühungen, die nicht gesellschaftlich folgenlos bleiben, ist, wenn auch mitnichten garantiert, so doch zumindest denkbar.

Die zumindest potenziell emanzipatorische Funktion der Kunst in der modernen Gesellschaft lässt sich also, nach der hier arrangierten Begegnung von Niklas Luhmann und Jacques Rancière, an einer Spannung festmachen: Der Spannung, die im doppelten Nachweis der Notwendigkeit von Ordnung überhaupt und zugleich der Kontingenz jeglicher Ordnung liegt. Durch die Aufrechterhaltung dieser Spannung, die einzelne Kunstwerke auf je singuläre Weise zu leisten vermögen, wird denn auch die Möglichkeit eröffnet, dass der ‚Blick auf ein Volk, das noch fehlt’, die Evozierung einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen, sich mit einem emanzipatorischen Aufbrechen dessen verbindet, was Rancière die ‚polizeiliche Aufteilung des Sinnlichen’ nennt. Die Künste können der politischen Emanzipation gleichsam leihen, was sie mit ihr gemeinsam haben: „Positionen und Bewegungen von Körpern, Funktionen des Worts, Verteilungen des Sichtbaren und des Unsichtbaren.“[17] Es wird dadurch also zumindest denkbar, dass die Suspendierung von Ordnung in der sinnlichen Sphäre der autonomen Kunst mit Bemühungen um ein Aufbrechen der bestehenden sozialen Ordnung und dem Einschreiben der Gleichheit der Beliebigen in sie in Korrespondenz treten kann.


[1] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 337.
[2] Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 391.
[3] Niklas Luhmann, Ist Kunst codierbar?, in: Ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 2008, S. 42.
[4] Vgl. etwa Pierre Bourdieu/Alain Darbel, Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher, Konstanz 2006.
[5] Luhmann 1997, S. 238.
[6] Ebd., S. 193.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 191.
[9] Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008a, S. 40.
[10] Ebd., S. 81.
[11] Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008b, S. 11.
[12] Rancière 2008a, S. 81.
[13] Ebd., S. 78.
[14] Rancière 2008b, S. 11.
[15] Ossip Mandelstam, Armenien, Armenien. Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930-1933, Frankfurt a.M. 1994, S. 63.
[16] Rancière 2008b, S. 24.
[17] Rancière 2008a, S. 34.

Quellennachweis: Stefan Egger, Vom Blick auf ein Volk, das noch fehlt. Mit Niklas Luhmann und Jacques Rancière zur Funktion der Kunst, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=405.

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Warum Adorno Massenmedien ablehnt und wieso er für Eco trotzdem nicht zu den Apokalyptikern zählt

Erste Leitfrage: Platon und die Schrift

Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.[1]

Im sokratischen Dialog Phaidros kommt das damals relativ neue Medium Schrift denkbar schlecht weg, denn im direkten Vergleich mit der Sprache findet Sokrates daran einiges auszusetzen: Die Schrift hat keinen eindeutigen Adressat und eignet sich daher zur massenhaften Verbreitung. Dies führt dazu, dass die Inhalte des Mediums veruntreut werden können – schließlich verliert man im Moment der Niederschrift die Kontrolle über deren Interpretation. Es ist einem Schriftstück nicht möglich, Antworten auf mögliche Unklarheiten zu geben.

Die Schrift ist ein Mittel, dem Sokrates „die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte“[2] gegenüberstellt. Während die von Sokrates bevorzugte Rede im Wesentlichen eine dialogische Form der Kommunikation ist, in der die Gesprächsteilnehmer abwechselnd sprechen und zuhören, bleibt die Schrift einseitig. In diesem Medium sind die Rollen klar verteilt; man ist entweder Sender oder Empfänger. Hier lässt sich die erste Parallele zu den neuen Massenmedien des 20. Jahrhunderts ziehen. Ihnen wohnt zwar prinzipiell die Möglichkeit des Dialogs inne, aus ihnen wurden jedoch einseitige Kanäle gemacht. So fungieren einige wenige als Sender, während die überwältigende Mehrheit aus bloßen Konsumenten besteht. In den Worten Theodor W. Adornos: „Der Schritt vom Telephon zum Radio hat die Rollen klar geschieden. Liberal ließ jenes den Teilnehmer noch die des Subjekts spielen. Demokratisch macht dieses alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern. Keine Apparatur der Replik hat sich entfaltet.“[3]

Der große Unterschied zwischen Sprache und Schrift (bei Sokrates zu Ungunsten der Schrift) ist nun, dass die menschliche Seele weiß, für wen sie sprechen und bei wem sie schweigen soll. Im Gegensatz dazu kann die Schrift im Grunde für alle gleichermaßen zugänglich sein. John Durham Peters bringt Sokrates’ Einstellung auf eine prägnante Formel: „Indiscriminate dissemination is bad; intimate dialogue or prudent rhetoric that matches message and receiver is good.“[4] Auch hier ist ein Vergleich mit den Massenmedien des 20. Jahrhunderts möglich, schließlich sind technisch reproduzierbare Medieninhalte der Inbegriff der Dissemination.

Die erste Leitfrage meines Essays speist sich aus diesem normativen Element in der Medienphilosophie Platons. Das Medium Schrift wird von Platon abgelehnt. Die Massenmedien kommen bei den Denkern der Frankfurter Schule (insbesondere Adorno und Horkheimer) ähnlich schlecht weg. Sind auch die Gründe für die jeweilige Geringschätzung ähnlich? Die aufgezeigten Parallelen deuten darauf hin. Und wieso werden die betreffenden Medien so sehr abgelehnt? Sind sie durch die Möglichkeit ihrer massenhafte Verbreitung nicht eher demokratisch und daher – gut? Diese Frage bringt mich zu Umberto Ecos Überlegungen in Apokalyptiker  und  Integrierte.

Zweite Leitfrage: Umberto Eco und die Apokalyptiker

Ja, es ist sicherlich keine fahrlässige Verallgemeinerung, diesen [die Rede war im vorgehenden Absatz von Nietzsche und Ortega y Gasset, Anm. A.E.] und ähnlichen Kritikern Züge einer aristokratischen Unduldsamkeit abzulesen – eine Verachtung, die sich scheinbar gegen die Massenkultur, in Wahrheit gegen die Masse richtet. Nur zum Schein unterscheiden sie zwischen der Masse als versammelter Herde und der Gemeinschaft der selbstverantwortlichen Individuen. Im Grunde rumort in ihnen das Heimweh nach einer Epoche, in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und nicht jedermann offenstanden.[5]

So charakterisiert Umberto Eco die Gruppe der von ihm sogenannten „Apokalyptiker“. Doch dies ist keine Erklärung für die ablehnende Haltung Adornos gegenüber den Massenmedien. Denn gleich anschließend schränkt Eco ein, dass nicht alle massenkulturkritischen Denker Apokalyptiker seien, so auch nicht Adorno. Eco begründet deren Haltung anders: „Ihr Mißtrauen gegen die Massenkultur ist ein Mißtrauen gegen eine bestimmte Form intellektueller Herrschaft, welche die Bürger in Apathie und Unterwürfigkeit hält – ein günstiges Klima für beliebige autoritäre Abenteuer.“[6]

Daraus ergibt sich die zweite Leitfrage dieses Essays: Wieso zählt Adorno für Eco nicht zu den Apokalyptikern? Warum hat Adorno nicht eine antidemokratische Haltung, wenn er die Massenmedien ablehnt? Das Misstrauen der Frankfurter Schule ist historisch zu begründen. Die Kritische Theorie entstand an einem Übergang einerseits von auratischen Kunstwerken hin zur massenhaften Reproduzierbarkeit und andererseits von Kunst hin zur Kulturindustrie, die sich nicht mehr als Kunst auszugeben braucht.

Walter Benjamin und der Auraverlust

Mit dem Aufkommen der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst verlieren nicht nur die Werke der Vergangenheit ihre Aura, den Nimbus, der sie umgibt und isoliert – wodurch auch der ästhetische Bereich der Erfahrung isoliert wird; sondern es entstehen auch Kunstformen, wie zum Beispiel der Film oder die Photographie, bei denen die Reproduzierbarkeit konstitutiv ist; hier haben die Werke nicht nur kein Original, sondern es verschwindet allmählich vor allem die Differenz zwischen Produzenten und Betrachter, nicht zuletzt weil diese Künste sich im technischen Gebrauch der Maschinen vollziehen und deshalb jeden Diskurs über das Genie (der im Grunde die Aura, vom Standpunkt des Künstlers aus, ist) beseitigen.[7]

Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschien in den 1930er Jahren in der Zeitschrift für Sozialforschung. Im Kunstwerkaufsatz entfaltete Benjamin seine Theorie über Kunstwerke, in deren Mittelpunkt der Begriff der Aura steht. Diese ist das entscheidende Unterscheidungsmerkmal, das Originale und Kopien von Kunstwerken voneinander trennt, da nur echte, unnahbare und einmalige Kunstwerke eine Aura besitzen. Benjamin diagnostiziert seiner eigenen Zeit (die vom Vormarsch faschistischer Politik gekennzeichnet war) den Verlust ebendieser Aura. Dieser historische Schnittpunkt wird für Benjamin von der Erfindung der modernen Reproduktionstechnik (vor allem Fotografie und Film) und den damit verbundenen Möglichkeiten der Massenreproduzierbarkeit hervorgerufen. Reproduktion in der Kunst war zwar prinzipiell immer schon möglich, aber mit dem Auraverlust ist ein einschneidender Punkt erreicht, an dem „die Reproduktionstechnologie und ihr ästhetisches Derivat, der Film, beginnen auf die Produktion von Kunst selbst zurückzuwirken.“[8] Die potentiell unendlichen Kopien eines Kunstwerkes beziehungsweise die Herstellung von Kunstwerken, die schon auf ihre Reproduzierbarkeit hin ausgerichtet sind, führen laut Benjamin zum Verfall der Aura. Dieser Auraverfall beruht auf dem Umstand, dass die Menschen die Unnahbarkeit der Kunstwerke mithilfe der Möglichkeiten der technischen Reproduktionen überwinden wollen: „Tagtäglich macht sich unabweisbar das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden.“[9]

Das Konzept der Aura funktioniert als Bruchlinie in der Kunst. Diese Bruchlinie „dekonstruiert praktisch die angenommene Einzigkeit einer Schöpfung, das einmalige Da- Sein des Exemplars, den Echtheitswert. Die Religion, der Kult, der Ritus, die ‚Aura‘ können im Bereich der Kunst nicht länger mehr das Politische verschleiern.“10 Diese politische Wendung ist das eigentliche Ziel der Argumentation im Kunstwerkaufsatz:

Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.[11]

Theodor W. Adorno und die Kulturindustrie

Dass Benjamins frommer Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist, fiel bereits Theodor W. Adorno auf. Adorno weist darauf hin, dass der Verlust der Aura weder kollektive Rezeption mit sich brachte, noch von der Masse ausgehende Revolutionen verursachte. „He sees correctly that the culture industry itself has seized control of the decaying aura by conserving it as a ‚foggy mist‘; a case in point would be the cult of stardom in the film industry and in the art world (Andy Warhol), which directly serves ideological and advertising interests.“[12]

Dass Adorno nicht einen wie auch immer gearteten Verfall der Aura in der Kunst beklagt (beziehungsweise feststellt, denn bei Benjamin ist der Auraverfall nicht unbedingt wertend beschrieben), sondern von Missständen im Bereich der Kultur beziehungsweise Kulturindustrie spricht, hat dabei Programm, denn er differenziert ganz eindeutig zwischen diesen beiden Begriffen: „Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben.“[13] Sie sind für Adorno nichts als Geschäft. Und weiter: „Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde. […] Die Serienproduktion des Sexuellen leistet automatisch seine Verdrängung. Der Filmstar, in den man sich verlieben soll, ist in seiner Ubiquität von vornherein seine eigene Kopie.“[14] Die Aura des Starkults ist bloß künstlich herbeigeführt. Wo die ‚echte‘ Aura im Sinne Benjamins durch Einzigartigkeit und Originalität gekennzeichnet ist, ist der Filmstar in seiner Omnipräsenz und Kopiehaftigkeit eigentlich unvereinbar mit auratischer Erfahrung. Die Aura wird ersetzt durch die Gleichheit der Kulturindustrie. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.“[15] Die Produkte der Kulturindustrie, allen voran der Tonfilm, sind das exakte Gegenteil zu auratischen Kunstwerken, die der Kontemplation bedürfen: „Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will.“[16]

Soweit zu den Parallelen zwischen dem Konzept des Auraverlustes und dem der Kulturindustrie. Was unterscheidet Adornos Überlegungen nun noch von Benjamins Auffassung? Im Gegensatz zu Benjamin, Adorno „does not differentiate technical rationality in a capitalist system from that in a socialist society. Western culture industry, in Adorno‘s view, is a symptom of at least latent totalitarianism.“[17]

Massenmedien und Demokratie

Damit komme ich zum Abschluss dieses Textes zurück zu meinen Ausgangsfragen. Aus der Beschäftigung mit dem sokratischen Dialog Phaidros ergab sich die Frage, wieso die Massenmedien von den Protagonisten der Frankfurter Schule so sehr abgelehnt werden (wie wir gesehen haben, nicht unbedingt von Benjamin, der sich von ihnen eine positive politische Wendung erhoffte, aber umso mehr von Adorno). Die Klassifizierung von Medienphilosophen in Apokalyptiker und Integrierte, die Umberto Eco vorgenommen hat, brachte mich zu der Frage, wieso Adorno dabei eigentlich nicht zu den Apokalyptikern zählt, wo dieser doch die Massenmedien ablehnt. Die Erklärung dafür lautet auf den Punkt gebracht: Die Denker, die Eco in die Gruppe der Apokalyptiker einordnet, „saw the masses as threatening all culture from below. Adorno‘s insistence on autonomy, however, is the logical result of his analysis of mass culture as the intentional integration of its consumers from above. Adorno refers explicitly to changes in production and distribution.“[18] Dass Adorno die Kulturindustrie ablehnt, hängt also damit zusammen, dass diese nur an der Oberfläche Demokratie verspricht. „Die Teilnahme der Millionen an ihr [der Kulturindustrie, Anm. A.E.] erzwinge Reproduktionsverfahren, die es wiederum unabwendbar machten, daß an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden.“[19] Hinter dem Schein von Gleichheit und Allgemeinheit, den die Kulturindustrie nach außen hin aufrecht erhält, versteckt sich jedoch in Wirklichkeit eine Herrschaft der Reichen: „Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.“[20] Anstatt die Demokratie – oder, in Benjamins Vorstellung, den Kommunismus – voranzutreiben, unterstützen die Massenmedien der Kulturindustrie eine Oligarchie der Finanzelite. „Die Fusion von Kultur und Unterhaltung heute vollzieht sich nicht nur als Depravation der Kultur, sondern ebensosehr als zwangsläufige Vergeistigung des Amusements. Sie liegt schon darin, daß man ihr nur noch im Abbild, als Kinophotographie oder Radioaufnahme beiwohnt.“[21]

Zum Schluss dieser Überlegungen bleibt noch die Frage offen, ob Adorno in seinen Überlegungen nicht selbst von einem idealisierten und sogar elitären Begriff von Kunst und Hochkultur ausgeht. Wenn Adorno sagt, dass die Kulturindustrie sich nicht mehr als Kunst auszugeben braucht, sondern nur noch Geschäft ist, vergisst er dabei nicht, dass die Bildenden Künste die längste Zeit als Handwerk, als bloße techné, angesehen wurden und daher im Grunde ebenfalls nichts als Geschäft waren? Übersieht Adorno nicht vielleicht außerdem, dass die massenmediale Art des Kulturgenusses für weite Bevölkerungsschichten die einzig mögliche beziehungsweise leistbare war und ist? Sie ist in jedem Fall die am leichtesten zugängliche. Sich die Dinge im Abbild näher zu bringen mag zwar den Verlust der Aura bedeuten – wenn jedoch die Alternative lautet, sich Kultur überhaupt nicht näher zu bringen, sind die Massenmedien das kleinere Übel.


[1] Platon, Phaidros, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 2008, 275d-e.
[2] Ebd., 276a.
[3] Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. Main 1988, S. 129f.
[4] John Durham Peters, Speaking Into The Air. A History of the Idea of Communication, Chicago 2000, S. 46.
[5] Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a. Main 1986, S. 39.
[6] Ebd., S. 39f.
[7] Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 59.
[8] Konrad Paul Liessmann, Walter Benjamin und das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen (Re)produzierbarkeit, in: Ders., Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung, Stuttgart 2007, S. 98.
[9] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Detlev Schöttker (Hg.), Frankfurt a. Main 2007, S. 17.
[10] Jacques Derrida, Ein Porträt Benjamins, in: Burkhardt Lindner (Hg.), Walter Benjamin im Kontext, Königstein 1985, S. 172.
[11] Benjamin 2007, S. 50.
[12] Andreas Huyssen, Introduction to Adorno, in: New German Critique 6 (Autumn, 1975), S. 7f.
[13] Adorno 1988, S. 129.
[14] Ebd., S. 148.
[15] Ebd., S. 128.
[16] Ebd., S. 134f.
[17] Huyssen 1975, S. 4.
[18] Ebd., S. 8.
[19] Adorno 1988, S. 129.
[20] Ebd.
[21] Ebd., S. 152.

Quellennachweis: Astrid Exner, Warum Adorno Massenmedien ablehnt und wieso er für Eco trotzdem nicht zu den Apokalyptikern zählt, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=411.

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