„Bildkritik“ – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion

Ein Interview mit Gottfried Boehm

Gottfried Böhm, Kunsthistorisches Seminar der Universität Basel 2011.

Das Bild hatte in der Philosophie während langer Zeit einen schweren Stand. Überschattet von der Evidenz des begrifflichen Urteils, mit dessen Klarheit und Deutlichkeit es sich angeblich nicht messen konnte, und dabei nicht selten abgestempelt als bloße Verdoppelung der Dinge, fristete es im Denken vieler Philosophen lediglich ein Randdasein. Mit der Begründung der Ästhetik als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert erwachte jedoch ein zunehmendes Interesse an Wahrnehmung und damit auch an Bildern. Schließlich hat sich vor allem die Phänomenologie und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Form mit der besonderen Erscheinungsweise und Seinsart des Bildlichen beschäftigt. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Bildtheoretiker, der seit Jahren philosophisches Denken mit konkreter Seherfahrung zusammenbringt. Er hat damit nicht nur zu einer methodologischen Revision des Faches Kunstgeschichte beigetragen, sondern auch den mittlerweile interdisziplinär ausgetragenen Bild-Diskurs maßgeblich vorangetrieben.

DOMINIQUE LALEG: Herr Boehm, Ihre Forschung besteht zu einem großen Teil aus Arbeit an Bildern, einer Arbeit mit dem Sehen. Zum anderen aber auch aus intensiver theoretischer Reflexion, die insbesondere der Philosophie des 20. Jahrhunderts verpflichtet ist. Wie würden Sie das Verhältnis und Zusammenspiel dieser beiden Seiten Ihrer Tätigkeit beschreiben?

GOTTFRIED BOEHM: Ihr Begriff „Arbeit am Bild“ ist mir sehr sympathisch und innerhalb dieses Konzeptes lässt sich im Grunde auch schon die Antwort verankern, die ich zu geben versuche. „Theorie“ in meinem Sinne hat etwas zu tun mit der Durchdringung konkreter Phänomene, also Kunstwerke in aller Regel, so dass diese Durchdringung in der Theorie ein begriffliches Hilfsmittel gewinnt, das ihr erlaubt, die Erfahrung, die sich anbietet, zu intensivieren, zu artikulieren, über sie zu reflektieren. Das Ziel meiner Überlegungen ist die Konvergenz von Anschauung und anschauungsbezogener Reflexion am jeweiligen Werk, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkt – Bild in irgendeinem Sinne.

DOMINIQUE LALEG: Bezeichnet der von Ihnen verwendete Begriff der „Bildkritik“ diese Arbeit, diese Weise der Auseinandersetzung mit Bildern?

GOTTFRIED BOEHM: Das könnte man so sagen. Also der Ausdruck „Bildkritik“ ist etwas in den Vordergrund gerückt im Zusammenhang mit unserem nationalen Forschungsschwerpunkt, wo wir veranlasst waren, einen Leitbegriff zu formulieren und wir wollten ganz ausdrücklich die Kategorie „Bildwissenschaft“, die jetzt landauf landab benutzt wird, vermeiden. Und zwar deswegen, weil der Begriff der „Bildwissenschaft“ eine Autonomie und Sicherheit der Argumentation prätendiert, die uns nicht gegeben zu sein scheint. „Bildkritik“ hat im Übrigen auch, wie vor allem der angloamerikanische Gebrauch der Kategorie „criticism“ belegt, ein Moment des Prozesses. Wissenschaft ist sozusagen ein disziplinäres Monument, Kritik ist ein Prozess und diese Prozessseite lässt sich gut mit dem vereinbaren, was Sie vorhin als „Arbeit am Bild“ angesprochen haben.

DOMINIQUE LALEG: Das hört sich ganz so an, als ob Sie nicht unbedingt dafür sind, dass die sogenannten „Bildwissenschaften“ – ein Begriff, den Sie sogar vermeiden – sich zu einer eigenständigen Disziplin hin entwickeln. Diese Forderung gibt es ja. Wie stehen Sie dazu?

GOTTFRIED BOEHM: Ich bin kein Anhänger des Versuches, ein neues Fach aus dem Boden zu stampfen. Ich bin ein leidenschaftlicher Befürworter von Fragestellungen und Problemstellungen. Was mich leitet, ist, der Konsequenz einer Frage nachzugehen und nicht, ein Büro zu eröffnen, an dessen Tür steht „Institut für Bildwissenschaft“. Was jetzt ein bisschen karikiert ist, zeigt Ihnen aber, dass die Frage nach dem Bild in verschiedene Richtungen führt und dass sie auch zahlreiche andere Disziplinen, Erfahrungsfelder und Empirien einbezieht. In meinem Verständnis kann man Bildforschung oder Bildkritik nicht betreiben, ohne einen intensiven Dialog mit unterschiedlichen Disziplinen zu beginnen. Nicht nur Disziplinen der Geisteswissenschaften, da spielen, wie man weiß, auch andere eine Rolle. Also das Format des Bildes ist letztlich ein anthropologisches Format, das sehr weit führt und sehr weit ausgreift und deswegen würde ich es ungern in ein ungares Konzept von Bildwissenschaft mit all den Prätentionen, die damit verbunden sind, einsperren. Deswegen habe ich eine Reserve gegen den Begriff, ich weiß, dass er von Aby Warburg zuerst gebraucht wurde und für Warburg ist es deswegen okay, weil man da weiß, was er darunter verstanden hat.

DOMINIQUE LALEG: Sie haben den Nationalen Forschungsschwerpunkt „Iconic Criticisim“ oder eben „Bildkritik“ erwähnt. Ein interdisziplinäres Projekt in dem Sinne, wie Sie es eben erläutert haben. Wohin ist diese bis jetzt erfolgreiche Institution unterwegs, wenn nicht zu einem eigenständigen Institut, um nicht zu sagen, einer eigenständigen Disziplin?

GOTTFRIED BOEHM: Diese Institution ist unterwegs in Richtung einer fundamentalen Revision von Grundlagen unserer intellektuellen und kulturellen Arbeit und wenn man jetzt so emphatisch von Revolution spricht, dann muss man das sehr genau begründen. Ich glaube, dass die mit dem „iconic turn“ – das ist eine Floskel, aber eine Floskel, die das Problem jedenfalls anzeigt – verbundene wissenschaftliche Arbeit im Grunde den Versuch zu machen hat, neu zu bedenken, was die Konzepte von Logos, von Erkenntnis, von Medialität der Erkenntnis eigentlich ausmacht und welche Rolle genauer gesprochen das Ikonische in diesem Konzept des Logos spielt. Ich darf an dieser Stelle noch einmal unterstreichen, dass die abendländischen Logoskonzepte bislang ohne irgendeine Rücksicht auf Bildlichkeit ausgekommen sind, und mir die Fülle der Evidenzen, die wir inzwischen gewinnen konnten und gewinnen mussten, dahin zu führen scheinen, dass man diese Grundkategorie neu konzipieren muss. Also es muss eine Kategorie von Logos sein, die das Ikonische ein- und nicht ausschließt.

DOMINIQUE LALEG: Sie haben ein zentrales Stichwort erwähnt, nämlich das „Ikonische“. In diesem Zusammenhang gibt es den von Ihnen eingeführten Begriff der „ikonischen Differenz“. Es scheint, als wäre dieser Begriff auch ein Ergebnis aus der Verbindung von Kunstgeschichte und philosophischen Konzepten. Können Sie umreißen, was dieser Begriff meint?

GOTTFRIED BOEHM: Ja, „ikonische Differenz“ ist in der Tat eine Kategorie, die an einen Diskussionsstrang der Philosophie erinnert und da vielleicht auch anknüpft. Man könnte an Hegel denken, man könnte an Heideggers „ontologische Differenz“ denken, die „différance“ von Derrida, „Differenz und Wiederholung“ von Deleuze und anderes. Inwiefern und in welcher Weise meine Kategorie damit in Verbindung steht, würde ich für den Moment aber erst noch einmal einklammern, das heißt, eine Aussage dazu hinten anstellen. Und das hängt damit zusammen, dass die Funktion der „ikonischen Differenz“ darin besteht, dort anzuknüpfen, wo wir jetzt mit unserem Gespräch auch begonnen haben, nämlich mit der Arbeit am Bild. „Ikonische Differenz“ ist der Versuch, nachzubuchstabieren, was am Bild seine innere Strukturierung, seine ihm eigene Logik ausmacht. Also die „ikonische Differenz“ ist der Versuch einer ersten Bestandsaufnahme, eine Deskription der im Bild wirksamen, auf Sinnerzeugung hin ausgerichteten Mechanismen zustande zu bringen. Daran schließen sich dann sehr viel weitergehende Überlegungen an. Zum Beispiel ist „ikonische Differenz“ erst einmal eine Beschreibung von Phänomenen und in einem nächsten Schritt aber auch eine Reflexion darüber, in welcher Weise diese Phänomene durch den Blick des Betrachters aufgeschlüsselt werden, wie er sie wahrnimmt, kurzum die Einheit von Phänomen und Phänomenwahrnehmung in guter phänomenologischer Tradition ist im Begriff der „ikonischen Differenz“ mit ausgesagt.

DOMINIQUE LALEG: Sie versuchen also, einer genuin bildlichen Erkenntnisform oder einer genuin bildlich geleisteten Form von Erkenntnis auf den Grund zu kommen. Sie machen Bilder dabei sehr stark, gerade gegenüber einer begrifflichen Erkenntnisform. Können Sie etwas erläutern, wie Sie den Übergang oder die Grenze zwischen dem Sehen der Bilder und dem Denken von Begriffen verstehen?

GOTTFRIED BOEHM: Wenn man den Versuch macht, jenseits der Sprache Symbolisierungsprozesse zu identifizieren und zu entschlüsseln, kommt man, aus arbeitstechnischen Gründen sozusagen und um sich auch Freiräume zu schaffen, leicht in die Gefahr, das Bildliche oder die Deixis vom Sprachlichen zu isolieren oder beide gegeneinander zu stellen. Das ist argumentationstechnisch vielleicht auch unvermeidlich, in jedem Fall erlaubt. Nur am Schluss muss man natürlich eine Auskunft darüber bereithalten, wie sich das Deiktische, also das Ikonische, zum Sprachlichen verhält. Wie also hängen Zeigen und Sagen miteinander zusammen? Darüber ist relativ wenig nachgedacht worden, wenn ich einmal Wittgenstein oder auch das Spätwerk von Heidegger, wo von der „Sage“ und der „Zeige“ die Rede ist, beiseite lasse. Umso drängender wird es, dieses Verhältnis zu bestimmen. Und da würde ich, ohne dass ich das an dieser Stelle im Detail ausdifferenzieren kann, dazu neigen, am einzelnen Bild zu entscheiden, wie in ihm Sinndimensionen entstehen, die sich der sprachlichen Anschlussfähigkeit entziehen. Etwa die Rolle des Vieldeutigen, der Unbestimmtheit, der Ambiguität, eine sehr dem Bilde zuzuordnende Eigenschaft. Und dann das, was sich in Bildern auch eindeutig sprachlich manifestiert oder Anschluss an verbale Sprache ermöglicht und daraufhin angelegt ist. Vielleicht kann man, der Einfachheit halber, auf Imdahls Argumentationsfigur von „wiedererkennendem“ und „sehendem Sehen“ zurückkommen. Für Imdahl war das „sehende Sehen“ eines, das sich der sprachlichen Kodifizierung entzieht und im gleichen Zusammenhang, wo sich das „sehende Sehen“ manifestiert, kann sich aber auch das „wiedererkennende Sehen“ manifestieren, das sprachlich anschlussfähig ist.

DOMINIQUE LALEG: Nun sind diese Fragen nach einem „ikonischen Logos“ und der Verbindung des Sehens mit dem Denken, des Zeigens mit dem Sagen keine typisch kunsthistorischen Fragen. Sie selber haben ja zunächst im Fach Philosophie bei Hans Georg Gadamer promoviert, dann aber im Fach Kunstgeschichte habilitiert. War für Sie diese Verbindung immer fruchtbar und war immer klar, dass Sie damit in der Kunstgeschichte arbeiten wollen?

GOTTFRIED BOEHM: Ja, ich habe mein Studium – und das waren andere Zeiten – nicht auf ein festes Berufsziel ausgerichtet. Das war vielleicht dumm oder naiv, nur habe ich das einfach nicht getan, sondern bin meinen Interessen gefolgt und diese Interessen waren von Anfang an mit einer starken sinnlich-künstlerischen und einer theoretischen Faszination ausgestattet. Diese Konstellation war seit Gymnasialzeiten für mich leitend und maßgebend. Der Versuch, das im akademischen Studium zu realisieren, war unterschiedlich erfolgreich. Zum Beispiel musste ich die Erfahrung machen, dass die deutsche Kunstgeschichte der 1960er Jahre so theoriefremd war und so positivistisch gesonnen, dass ich meine Absichten, in diesem Fach Erkenntnisziele zu verfolgen, wie sie mir vorschwebten, zurückstellen musste. Ich bin damit gescheitert, dem damaligen Ordinarius in Heidelberg ein bestimmtes Projekt als Promotion plausibel zu machen, und habe es dann mit Hilfe von Gadamer in ein philosophisches Projekt verwandelt, mit dem ich dann auch promoviert habe. Und es lag nahe, nach dieser philosophischen Promotion noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, nämlich die Philosophie auf konkrete Phänomene zurückzuführen. Das war dann zugleich die Weichenstellung in Richtung einer kunstgeschichtlichen Habilitation. Inzwischen ist die Situation der Disziplin eine andere, in vielem auch eine offenere, flexiblere, so dass meine Erfahrung, das hoffe ich jedenfalls, nicht noch einmal wiederholt werden muss.


GOTTFRIED BOEHM ist seit 1986 Ordinarius für Neuere Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel und seit 2005 Direktor des Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) „Bildkritik“, ebenfalls in Basel.

Quellennachweis: Dominique Laleg, „Bildkritik“ – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion. Ein Interview mit Gottfried Boehm, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=360.

Dominique Laleg studiert Philosophie und Kunstgeschichte in Basel. Er ist Mit-Herausgeber und Redakteur bei ALL-OVER.
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