Erste Leitfrage: Platon und die Schrift
Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.[1]
Im sokratischen Dialog Phaidros kommt das damals relativ neue Medium Schrift denkbar schlecht weg, denn im direkten Vergleich mit der Sprache findet Sokrates daran einiges auszusetzen: Die Schrift hat keinen eindeutigen Adressat und eignet sich daher zur massenhaften Verbreitung. Dies führt dazu, dass die Inhalte des Mediums veruntreut werden können – schließlich verliert man im Moment der Niederschrift die Kontrolle über deren Interpretation. Es ist einem Schriftstück nicht möglich, Antworten auf mögliche Unklarheiten zu geben.
Die Schrift ist ein Mittel, dem Sokrates „die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte“[2] gegenüberstellt. Während die von Sokrates bevorzugte Rede im Wesentlichen eine dialogische Form der Kommunikation ist, in der die Gesprächsteilnehmer abwechselnd sprechen und zuhören, bleibt die Schrift einseitig. In diesem Medium sind die Rollen klar verteilt; man ist entweder Sender oder Empfänger. Hier lässt sich die erste Parallele zu den neuen Massenmedien des 20. Jahrhunderts ziehen. Ihnen wohnt zwar prinzipiell die Möglichkeit des Dialogs inne, aus ihnen wurden jedoch einseitige Kanäle gemacht. So fungieren einige wenige als Sender, während die überwältigende Mehrheit aus bloßen Konsumenten besteht. In den Worten Theodor W. Adornos: „Der Schritt vom Telephon zum Radio hat die Rollen klar geschieden. Liberal ließ jenes den Teilnehmer noch die des Subjekts spielen. Demokratisch macht dieses alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern. Keine Apparatur der Replik hat sich entfaltet.“[3]
Der große Unterschied zwischen Sprache und Schrift (bei Sokrates zu Ungunsten der Schrift) ist nun, dass die menschliche Seele weiß, für wen sie sprechen und bei wem sie schweigen soll. Im Gegensatz dazu kann die Schrift im Grunde für alle gleichermaßen zugänglich sein. John Durham Peters bringt Sokrates’ Einstellung auf eine prägnante Formel: „Indiscriminate dissemination is bad; intimate dialogue or prudent rhetoric that matches message and receiver is good.“[4] Auch hier ist ein Vergleich mit den Massenmedien des 20. Jahrhunderts möglich, schließlich sind technisch reproduzierbare Medieninhalte der Inbegriff der Dissemination.
Die erste Leitfrage meines Essays speist sich aus diesem normativen Element in der Medienphilosophie Platons. Das Medium Schrift wird von Platon abgelehnt. Die Massenmedien kommen bei den Denkern der Frankfurter Schule (insbesondere Adorno und Horkheimer) ähnlich schlecht weg. Sind auch die Gründe für die jeweilige Geringschätzung ähnlich? Die aufgezeigten Parallelen deuten darauf hin. Und wieso werden die betreffenden Medien so sehr abgelehnt? Sind sie durch die Möglichkeit ihrer massenhafte Verbreitung nicht eher demokratisch und daher – gut? Diese Frage bringt mich zu Umberto Ecos Überlegungen in Apokalyptiker und Integrierte.
Zweite Leitfrage: Umberto Eco und die Apokalyptiker
Ja, es ist sicherlich keine fahrlässige Verallgemeinerung, diesen [die Rede war im vorgehenden Absatz von Nietzsche und Ortega y Gasset, Anm. A.E.] und ähnlichen Kritikern Züge einer aristokratischen Unduldsamkeit abzulesen – eine Verachtung, die sich scheinbar gegen die Massenkultur, in Wahrheit gegen die Masse richtet. Nur zum Schein unterscheiden sie zwischen der Masse als versammelter Herde und der Gemeinschaft der selbstverantwortlichen Individuen. Im Grunde rumort in ihnen das Heimweh nach einer Epoche, in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und nicht jedermann offenstanden.[5]
So charakterisiert Umberto Eco die Gruppe der von ihm sogenannten „Apokalyptiker“. Doch dies ist keine Erklärung für die ablehnende Haltung Adornos gegenüber den Massenmedien. Denn gleich anschließend schränkt Eco ein, dass nicht alle massenkulturkritischen Denker Apokalyptiker seien, so auch nicht Adorno. Eco begründet deren Haltung anders: „Ihr Mißtrauen gegen die Massenkultur ist ein Mißtrauen gegen eine bestimmte Form intellektueller Herrschaft, welche die Bürger in Apathie und Unterwürfigkeit hält – ein günstiges Klima für beliebige autoritäre Abenteuer.“[6]
Daraus ergibt sich die zweite Leitfrage dieses Essays: Wieso zählt Adorno für Eco nicht zu den Apokalyptikern? Warum hat Adorno nicht eine antidemokratische Haltung, wenn er die Massenmedien ablehnt? Das Misstrauen der Frankfurter Schule ist historisch zu begründen. Die Kritische Theorie entstand an einem Übergang einerseits von auratischen Kunstwerken hin zur massenhaften Reproduzierbarkeit und andererseits von Kunst hin zur Kulturindustrie, die sich nicht mehr als Kunst auszugeben braucht.
Walter Benjamin und der Auraverlust
Mit dem Aufkommen der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst verlieren nicht nur die Werke der Vergangenheit ihre Aura, den Nimbus, der sie umgibt und isoliert – wodurch auch der ästhetische Bereich der Erfahrung isoliert wird; sondern es entstehen auch Kunstformen, wie zum Beispiel der Film oder die Photographie, bei denen die Reproduzierbarkeit konstitutiv ist; hier haben die Werke nicht nur kein Original, sondern es verschwindet allmählich vor allem die Differenz zwischen Produzenten und Betrachter, nicht zuletzt weil diese Künste sich im technischen Gebrauch der Maschinen vollziehen und deshalb jeden Diskurs über das Genie (der im Grunde die Aura, vom Standpunkt des Künstlers aus, ist) beseitigen.[7]
Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschien in den 1930er Jahren in der Zeitschrift für Sozialforschung. Im Kunstwerkaufsatz entfaltete Benjamin seine Theorie über Kunstwerke, in deren Mittelpunkt der Begriff der Aura steht. Diese ist das entscheidende Unterscheidungsmerkmal, das Originale und Kopien von Kunstwerken voneinander trennt, da nur echte, unnahbare und einmalige Kunstwerke eine Aura besitzen. Benjamin diagnostiziert seiner eigenen Zeit (die vom Vormarsch faschistischer Politik gekennzeichnet war) den Verlust ebendieser Aura. Dieser historische Schnittpunkt wird für Benjamin von der Erfindung der modernen Reproduktionstechnik (vor allem Fotografie und Film) und den damit verbundenen Möglichkeiten der Massenreproduzierbarkeit hervorgerufen. Reproduktion in der Kunst war zwar prinzipiell immer schon möglich, aber mit dem Auraverlust ist ein einschneidender Punkt erreicht, an dem „die Reproduktionstechnologie und ihr ästhetisches Derivat, der Film, beginnen auf die Produktion von Kunst selbst zurückzuwirken.“[8] Die potentiell unendlichen Kopien eines Kunstwerkes beziehungsweise die Herstellung von Kunstwerken, die schon auf ihre Reproduzierbarkeit hin ausgerichtet sind, führen laut Benjamin zum Verfall der Aura. Dieser Auraverfall beruht auf dem Umstand, dass die Menschen die Unnahbarkeit der Kunstwerke mithilfe der Möglichkeiten der technischen Reproduktionen überwinden wollen: „Tagtäglich macht sich unabweisbar das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion habhaft zu werden.“[9]
Das Konzept der Aura funktioniert als Bruchlinie in der Kunst. Diese Bruchlinie „dekonstruiert praktisch die angenommene Einzigkeit einer Schöpfung, das einmalige Da- Sein des Exemplars, den Echtheitswert. Die Religion, der Kult, der Ritus, die ‚Aura‘ können im Bereich der Kunst nicht länger mehr das Politische verschleiern.“10 Diese politische Wendung ist das eigentliche Ziel der Argumentation im Kunstwerkaufsatz:
Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.[11]
Theodor W. Adorno und die Kulturindustrie
Dass Benjamins frommer Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist, fiel bereits Theodor W. Adorno auf. Adorno weist darauf hin, dass der Verlust der Aura weder kollektive Rezeption mit sich brachte, noch von der Masse ausgehende Revolutionen verursachte. „He sees correctly that the culture industry itself has seized control of the decaying aura by conserving it as a ‚foggy mist‘; a case in point would be the cult of stardom in the film industry and in the art world (Andy Warhol), which directly serves ideological and advertising interests.“[12]
Dass Adorno nicht einen wie auch immer gearteten Verfall der Aura in der Kunst beklagt (beziehungsweise feststellt, denn bei Benjamin ist der Auraverfall nicht unbedingt wertend beschrieben), sondern von Missständen im Bereich der Kultur beziehungsweise Kulturindustrie spricht, hat dabei Programm, denn er differenziert ganz eindeutig zwischen diesen beiden Begriffen: „Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben.“[13] Sie sind für Adorno nichts als Geschäft. Und weiter: „Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde. […] Die Serienproduktion des Sexuellen leistet automatisch seine Verdrängung. Der Filmstar, in den man sich verlieben soll, ist in seiner Ubiquität von vornherein seine eigene Kopie.“[14] Die Aura des Starkults ist bloß künstlich herbeigeführt. Wo die ‚echte‘ Aura im Sinne Benjamins durch Einzigartigkeit und Originalität gekennzeichnet ist, ist der Filmstar in seiner Omnipräsenz und Kopiehaftigkeit eigentlich unvereinbar mit auratischer Erfahrung. Die Aura wird ersetzt durch die Gleichheit der Kulturindustrie. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.“[15] Die Produkte der Kulturindustrie, allen voran der Tonfilm, sind das exakte Gegenteil zu auratischen Kunstwerken, die der Kontemplation bedürfen: „Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will.“[16]
Soweit zu den Parallelen zwischen dem Konzept des Auraverlustes und dem der Kulturindustrie. Was unterscheidet Adornos Überlegungen nun noch von Benjamins Auffassung? Im Gegensatz zu Benjamin, Adorno „does not differentiate technical rationality in a capitalist system from that in a socialist society. Western culture industry, in Adorno‘s view, is a symptom of at least latent totalitarianism.“[17]
Massenmedien und Demokratie
Damit komme ich zum Abschluss dieses Textes zurück zu meinen Ausgangsfragen. Aus der Beschäftigung mit dem sokratischen Dialog Phaidros ergab sich die Frage, wieso die Massenmedien von den Protagonisten der Frankfurter Schule so sehr abgelehnt werden (wie wir gesehen haben, nicht unbedingt von Benjamin, der sich von ihnen eine positive politische Wendung erhoffte, aber umso mehr von Adorno). Die Klassifizierung von Medienphilosophen in Apokalyptiker und Integrierte, die Umberto Eco vorgenommen hat, brachte mich zu der Frage, wieso Adorno dabei eigentlich nicht zu den Apokalyptikern zählt, wo dieser doch die Massenmedien ablehnt. Die Erklärung dafür lautet auf den Punkt gebracht: Die Denker, die Eco in die Gruppe der Apokalyptiker einordnet, „saw the masses as threatening all culture from below. Adorno‘s insistence on autonomy, however, is the logical result of his analysis of mass culture as the intentional integration of its consumers from above. Adorno refers explicitly to changes in production and distribution.“[18] Dass Adorno die Kulturindustrie ablehnt, hängt also damit zusammen, dass diese nur an der Oberfläche Demokratie verspricht. „Die Teilnahme der Millionen an ihr [der Kulturindustrie, Anm. A.E.] erzwinge Reproduktionsverfahren, die es wiederum unabwendbar machten, daß an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden.“[19] Hinter dem Schein von Gleichheit und Allgemeinheit, den die Kulturindustrie nach außen hin aufrecht erhält, versteckt sich jedoch in Wirklichkeit eine Herrschaft der Reichen: „Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.“[20] Anstatt die Demokratie – oder, in Benjamins Vorstellung, den Kommunismus – voranzutreiben, unterstützen die Massenmedien der Kulturindustrie eine Oligarchie der Finanzelite. „Die Fusion von Kultur und Unterhaltung heute vollzieht sich nicht nur als Depravation der Kultur, sondern ebensosehr als zwangsläufige Vergeistigung des Amusements. Sie liegt schon darin, daß man ihr nur noch im Abbild, als Kinophotographie oder Radioaufnahme beiwohnt.“[21]
Zum Schluss dieser Überlegungen bleibt noch die Frage offen, ob Adorno in seinen Überlegungen nicht selbst von einem idealisierten und sogar elitären Begriff von Kunst und Hochkultur ausgeht. Wenn Adorno sagt, dass die Kulturindustrie sich nicht mehr als Kunst auszugeben braucht, sondern nur noch Geschäft ist, vergisst er dabei nicht, dass die Bildenden Künste die längste Zeit als Handwerk, als bloße techné, angesehen wurden und daher im Grunde ebenfalls nichts als Geschäft waren? Übersieht Adorno nicht vielleicht außerdem, dass die massenmediale Art des Kulturgenusses für weite Bevölkerungsschichten die einzig mögliche beziehungsweise leistbare war und ist? Sie ist in jedem Fall die am leichtesten zugängliche. Sich die Dinge im Abbild näher zu bringen mag zwar den Verlust der Aura bedeuten – wenn jedoch die Alternative lautet, sich Kultur überhaupt nicht näher zu bringen, sind die Massenmedien das kleinere Übel.
[1] Platon, Phaidros, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 2008, 275d-e.
[2] Ebd., 276a.
[3] Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. Main 1988, S. 129f.
[4] John Durham Peters, Speaking Into The Air. A History of the Idea of Communication, Chicago 2000, S. 46.
[5] Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a. Main 1986, S. 39.
[6] Ebd., S. 39f.
[7] Gianni Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 59.
[8] Konrad Paul Liessmann, Walter Benjamin und das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen (Re)produzierbarkeit, in: Ders., Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung, Stuttgart 2007, S. 98.
[9] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Detlev Schöttker (Hg.), Frankfurt a. Main 2007, S. 17.
[10] Jacques Derrida, Ein Porträt Benjamins, in: Burkhardt Lindner (Hg.), Walter Benjamin im Kontext, Königstein 1985, S. 172.
[11] Benjamin 2007, S. 50.
[12] Andreas Huyssen, Introduction to Adorno, in: New German Critique 6 (Autumn, 1975), S. 7f.
[13] Adorno 1988, S. 129.
[14] Ebd., S. 148.
[15] Ebd., S. 128.
[16] Ebd., S. 134f.
[17] Huyssen 1975, S. 4.
[18] Ebd., S. 8.
[19] Adorno 1988, S. 129.
[20] Ebd.
[21] Ebd., S. 152.
Quellennachweis: Astrid Exner, Warum Adorno Massenmedien ablehnt und wieso er für Eco trotzdem nicht zu den Apokalyptikern zählt, in: ALL-OVER, Nr. 1, Juli 2011. URL: http://allover-magazin.com/?p=411.