„Ich“ als Flasche, „Selbst“ als Gurke?

Seit den Collagen der Kubisten, seit den Ready Mades Marcel Duchamps, spätestens aber seit den Nouveaux Réalistes und der Pop Art sind die Alltagsdinge aus dem Kunstbetrieb nicht mehr wegzudenken. Sie sind Teil von Installationen, von Assemblagen oder treten als einzelnes objet trouvé auf. Doch was geschieht, wenn Alltagsdinge speziell in die Gattung „Selbstporträt“ eingebunden werden – und zwar in der Art, dass der menschliche Leib als Vermittler eines Selbst-Bildes ausgespart wird und stattdessen eben diese Dinge zu Hauptakteuren[1] des Handlungsnetzwerkes „Selbstporträt“ werden?

Abb. 1: Kendell Geers, Self-Portrait, 1995, zerbrochene Bierflasche der Marke Heineken, 9,5 x 7,5 x 6 cm, Original zerstört auf Flug TW800, Edition 5/12, gordonschachatcollection, Johannesburg.

Abb. 1: Kendell Geers, Self-Portrait, 1995, zerbrochene Bierflasche der Marke Heineken, 9,5 x 7,5 x 6 cm, Original zerstört auf Flug TW800, Edition 5/12, gordonschachatcollection, Johannesburg.

„Selbstporträts in Dingen“,[2] wie ich diese Gruppe von Autoporträts nenne, sind nicht besonders häufig. Sie sind aber auch bei weitem nicht so selten, dass ihr Verschweigen in themenspezifischen Kompendien gerechtfertigt wäre. Pawel Althamer etwa lässt nach einer Aktion am Potsdamer Platz in Berlin (2002) sein Self-Portrait as a Businessman in Form eines Haufens abgelegter Dinge zurück. Michael Landys Beitrag für den Skulpturenpark der Londoner Frieze ist ein Self-Portrait as Rubbish Bin (2012). Shinro Ohtake begnügt sich nicht mit einem Ding als Stellvertreter seines Selbst; das Publikum seiner Arbeit zur dOCUMENTA 13 – MON CHERI: A Self-Portrait as a Scrapped Shed (2012) – sieht sich einer ganzen Ding-Akkumulation gegenüber. Ich verwende innerhalb dieses kurzen Textes zwei sehr unterschiedliche Kunstwerke, um die Wirkung von „Selbstporträts in Dingen“ zu verdeutlichen: Kendell Geers‘ Self-Portrait[3] aus dem Jahr 1995 (Abb.1) und das Selbstporträt als Essiggurkerl[4] von Erwin Wurm von 2008 (Abb. 2).[5]

Abb. 2: Erwin Wurm, Selbstporträt als Essiggurkerl, 2008, Acryl, Acryllack, lackierte Holzpodeste, 36-teilige Installation, Dimensionen variabel, Museum der Moderne, Salzburg.

Abb. 2: Erwin Wurm, Selbstporträt als Essiggurkerl, 2008, Acryl, Acryllack, lackierte Holzpodeste, 36-teilige Installation, Dimensionen variabel, Museum der Moderne, Salzburg.

In allen genannten Fällen spielt die Bezeichnung als „Selbstporträt“ eine wesentliche Rolle. Dabei ist das Konzept eines „autoporträtistischen Paktes“ interessant, das sich auf Philippe  Lejeune stützt.[6] Nach Lejeune kann der autobiografische Pakt durch verschiedene Signale ausgelöst werden – etwa durch spezifische Erkennungsmerkmale, die der Gattung auf Basis kanonisierter Werke zugeschrieben werden. Es genügt aber auch die Gattungsbezeichnung selbst, um bestimmte Erwartungen an ein Kunstwerk zu triggern. Paul de Man hat Lejeune dahingehend kritisiert, dass der Begriff „Autobiografie“ weniger als Kategorie-Begriff, denn als bestimmte Lesart eines Textes zu verstehen sei.[7] So auch mein Verständnis des Begriffs „Autoporträt“. Dennoch gebe ich Lejeune insofern recht, dass es besonders die Gattungsbezeichnung ist, welche eine gattungsspezifische Lesart provoziert. Das stimmt auch mit den Überlegungen von Jacques Derrida überein, der schreibt: „Wenn das, was man Selbstportrait nennt, von der Tatsache abhängt, dass man es Selbstportrait nennt, so müsste ein Akt der Namensgebung mir zu Recht erlauben, etwas Beliebiges ein Selbstportrait zu nennen […].“[8] Doch welche Erwartungen sind es, die eine Benennung als „Selbstporträt“ auslöst? Die wesentlichsten unter ihnen lassen sich meines Erachtens in den folgenden drei Punkten zusammenfassen: (A) Die Urheberschaft für das Selbstporträt liegt bei der sich-selbst-porträtierenden Person.[9] (B) Es besteht in irgendeiner Weise Ähnlichkeit zwischen dem Selbstporträt und Urheberin beziehungsweise Urheber – dem Modell.[10] (C) Das Publikum kann angesichts des Werkes den Blick der Künstlerin oder des Künstlers auf das eigene Selbst nachvollziehen.[11]

(A) Sowohl angesichts von Kendell Geers‘ Self-Portrait als auch von Erwin Wurms Selbstporträt als Essiggurkerl wird die Erwartung von „Eigenhändigkeit“ Irritation auslösen. Bei Self-Portrait handelt es sich um einen Fundgegenstand, eine zerbrochene Bierflasche der Marke Heineken. Selbstporträt als Essiggurkerl konfrontiert das Publikum[12] im ersten Moment mit einer Ansammlung von 36 Essiggurken, die einzeln auf quaderförmige weiße Sockel montiert sind. Tatsächlich handelt es sich aber nicht um echte Gurken, sondern um mimetisch detailgetreue Nachahmungen aus farbig gefasstem Acryl. Dass es sich de facto um Fake-Gurken handelt, wird für das Publikum zunächst kaum eine Rolle spielen. Doch selbst, wenn sich die Betrachterinnen und Betrachter dieser Täuschung bewusst werden:  Von „Ausdruck“, von „Authentizität“ durch „Eigenhändigkeit“ kann hier nicht die Rede sein. Der künstlerische Akt besteht bei Geers in der Auswahl, der Rekontextualisierung des Alltagsdings und seiner Benennung als Selbstporträt. Bei Wurm ist der künstlerische Akt durch ein Konzept gegeben, das der Künstler durch andere realisieren lässt. Beide Selbstporträts verheimlichen nicht, dass sie Selbstbildnisse sind, die nicht von der Handlungsmacht eines Individuums abhängen. Die mit dem autoporträtistischen Pakt verbundene Erwartung, im Selbstporträt eine eigene Arbeit der Modelle vorzufinden wird somit durch den vorhandenen künstlerischen Akt zwar einerseits bestätigt; andererseits wird aber fragwürdig, ob durch diese Form des Selbstporträts ein authentisches Bild des selbstreferenziellen Blicks der Künstler auf sich selbst vermittelt werden kann.

(B) Noch mehr wird allerdings die Suche nach einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen diesen beiden „Selbstporträts in Dingen“ und ihren Modellen verwirren. Eng mit der Bezeichnung „Selbstporträt“ verbunden ist immer noch die Erwartung physiognomischer Ähnlichkeit im Sinne von „Porträtähnlichkeit“ wie Jacob Burckhardt den Begriff am Ende des 19. Jahrhunderts verwendete.[13] Burckhardt spricht von „Porträtähnlichkeit“, wenn ein Kunstwerk es vermag, eindeutig auf den spezifischen Leib eines bestimmten Menschen zu verweisen. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Individualität, beziehungsweise dem Selbst, kann nach Burckhardt nur über die mimetische Darstellung des einzigartigen Leibes erfolgen. Burckhardts Konzept der Porträtähnlichkeit und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen sind häufig kritisiert worden.[14] Zumindest die Vorstellung, wonach der Fokus von Selbstporträts „in der Charakteristik der Physiognomie, des Körperhabitus und der Gebärde“ liegt,[15] hält sich bis heute aber beharrlich. Auch James Hall bespricht in The self-portrait. A cultural history, erschienen 2014, fast ausschließlich Werke, die in irgendeiner Art und Weise Leibesreferenzialität aufweisen.[16]  Gottfried Boehm stellt bereits 1997 mit Blick auf die gestische Malerei zur Diskussion, ob „nicht abstrakte Selbstbildnisse denkbar [seien], die darauf verzichten, die Außenseite der Person zu reportieren und die dennoch authentischer Ausdruck eines bestimmten Menschen sind“.[17] Allerdings stellt auch die gestische Malerei einen unmittelbaren Bezug zum individuellen Leib her, da sie – mehr noch als andere Formen der Malerei – als dessen Spur verstanden werden kann. Während manche „Selbstporträts in Dingen“ durch eine bestimmte Anordnung formale Bezüge zum menschlichen Leib evozieren,[18] kann ein solcher physiognomischer Bezug zu den von mir gewählten Beispielen nur hergestellt werden, indem ihre Form anthropomorphisiert wird. Die Bierflasche bei Kendell Geers eignet sich dazu gar nicht so schlecht: Die Größenverhältnisse zwischen Kopf und Bauch der Flasche können jenen zwischen Kopf und Rumpf des Menschen gedanklich gegenübergestellt werden.[19] Die Bezeichnungen der verschiedenen Teile der Flasche, beispielsweise als „Bauch“ oder „Hals“, regen einen solchen Vergleich an. In Bezug auf Oberflächeneigenschaften kann ebenfalls durch ein hohes Maß an Abstraktion Ähnlichkeit zum Leib konstruiert werden. Das Konzept von Ähnlichkeit, das hier zur Anwendung kommt, erinnert an jenes von Charles Peirce, demzufolge sich Ähnlichkeit immer auf ausgewählte abstrahierte Eigenschaften bezieht.[20] Auch die Form der Essiggurken bei Erwin Wurm kann damit als rumpf-ähnlich gedeutet werden. Den Dingen kommt in jedem Fall zugute, dass sie ebenso wie der Leib im Raum wirken. Gerade aus diesem Grund wird allerdings nie völlig befriedigende Porträtähnlichkeit zu einem individuellen Leib hergestellt werden können. Denn die Dinge besitzen bereits durch ihre räumliche Gegebenheit so große Präsenz, dass sie sich in ihrer Spezifität und Eigenständigkeit niemals ausblenden lassen, sich immer wieder in den Vordergrund drängen.

Bei Selbstporträt als Essiggurkerl wird der Irritationsgrad  eventuell nicht so groß sein, da der Titelzusatz „als“ auf ein Rollenporträt hinweist. Demnach können die Dinge hier als Maske verstanden werden. Die Maske aber muss erfahrungsgemäß keine Porträtähnlichkeit zum menschlichen Körper aufweisen. Die Frage, die sich vor dem Hintergrund des autoporträtistischen Paktes angesichts der Arbeit von Erwin Wurm stellt, ist vielmehr, auf welches der 36 Gurken-Doubles sich der Pakt überhaupt bezieht. Erwartet das Publikum ein einzigartiges, in sich geschlossenes Bild des Selbst, kann es gerade auf Basis dieser Erwartungshaltung Selbstporträt als Essiggurkerl nur so verstehen, dass die spezielle Wurm-Gurke nicht mehr auszumachen ist und sich der Urheber des Selbstporträts möglicherweise absichtlich als ein Gurkerl unter vielen darstellt. Spätestens, wenn Folgerungen solcher Art getroffen werden, ist die Konstruktion physiognomischer Porträtähnlichkeit nicht mehr relevant. Es wird versucht, eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Selbstporträt und Modell über die Inhalte herzustellen, die das Ding im Selbstporträt zu vermitteln vermag. Weil das Ding in die unterschiedlichsten Handlungsnetzwerke verwoben ist, ist es in seiner Funktion als Berichterstatter allerdings überaus vieldeutig. Wurms Essiggurken können etwa im Gesamtzusammenhang des Œuvre des Künstlers betrachtet werden. Sie werden dann den anderen Alltagsdingen gegenübergestellt, die Wurm bereits in seine Arbeiten eingebunden hat und die unter anderem als ironisches Statement zum Kunstbetrieb gelesen werden können. Sie können als erweiterte Bildhauerei verstanden werden, somit in die Gattung Skulptur eingereiht und dementsprechend diskutiert werden. Häufig werden sie auch biografisch, auf das Heimatland des Künstlers bezogen, interpretiert. Auf der Homepage des Salzburger Museums der Moderne ist etwa zu lesen: „Die beliebte österreichische Jause – das Leberkäsesemmerl mit Essiggurkerl – ist für viele unverzichtbar. […] wenn Erwin Wurm ein Essiggurkerl ist, was sind denn dann wir restlichen Österreicher?“[21] Was „wir Österreicher“ sind, weiß trotz der humorigen Implikation dieses Pressetextes natürlich auch Erwin Wurm nicht. Daher kann auch er nicht vorhersehen, in welche subjektiven Handlungsnetzwerke ein Gurkerl vom Publikum gedanklich eingereiht wird. Denn das Ding wird durch seine ursprünglichen Gebrauchsfunktionen persönliche Erinnerungen in seinen Betrachterinnen und Betrachtern aufrufen, mehr noch, als es die mimetische Darstellung eines individuellen Leibes vermag.[22] Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Bedeutungsmöglichkeiten der Dinge innerhalb der beiden Selbstporträts in diesem Text nicht vollständig angeführt werden können. Generell ist die Polysemie aller Dinge kaum fassbar. Das gilt umso mehr, wenn Alltagsdinge in das System „Kunst“ eingegliedert werden. Angesichts der „Selbstporträts in Dingen“ wird aus diesen Gründen allerdings unklar, auf Grundlage welchen Inhaltes die durch den autoporträtistischen Pakt erwartete Ähnlichkeit zwischen Selbstporträt und Modell eigentlich hergestellt werden soll. Durch solche Zweifel wird das Ding im Selbstporträt zum unergründbaren objet ambigu,[23] das immer neue Fragen und Assoziationen auslöst, sein Gegenüber aber niemals zu einem vollkommen klaren Ergebnis gelangen lässt.

(C) Der autoporträtistischen Pakt kann das Publikum glauben machen, man könne durch das Selbstporträt gewissermaßen die Position des sich-selbst-porträtierenden Menschen vor dem Spiegel einnehmen, also den Blick der Künstlerin beziehungsweise des Künstlers auf sich selbst nachvollziehen. Jacques Derrida weist in seinen Aufzeichnungen eines Blinden darauf hin, dass es gerade der Leib ist, der den Blick des Menschen auf seinen eigenen Körper unmöglich werden lässt.[24] Der hinderliche Leib ist aus Kendell Geers‘ Self-Portrait ebenso wie aus Erwin Wurms Selbstporträt als Essiggurkerl insofern ausgeschlossen, als dass er nicht zur Darstellung gelangt. Im Gegensatz zum eigenen Leib können sowohl die Fake-Essiggurken als auch die zerbrochene Bierflasche von allen Seiten betrachtet werden. Die Position der sich-selbst-porträtierenden Person und des Publikums ist in dieser Hinsicht tatsächlich dieselbe: Beide befinden sich gegenüber der stellvertretenden Ding-Berichterstatter, die sich mitsamt ihrer Eigenheiten in den Diskurs einbringen. Nicht nur die Dinge werden hier von ihren menschlichen Mit-Akteuren animiert, auch sie animieren ihr Gegenüber.

Aus der Position des Modells bedeutet der Einsatz eines Dings im Selbstporträt Handlungsmacht abzugeben. Die Sprecherrolle wird auf die Dinge übertragen. Für die Modelle der Selbstporträts sind die von ihnen gewählten Dinge zwar mit subjektiven Bedeutungen besetzt; gleichzeitig ist die Vieldeutigkeit dieser Dinge für sie aber ebenso wenig fassbar wie für das Publikum. Die mit dem autoporträtistischen Pakt verknüpften Erwartungen rufen im Publikum Irritation hervor, die zu immer neuen kritischen Fragen bezüglich des Selbst und seiner Darstellbarkeit führt. Angesichts eines jeden Selbstporträts erblickt sich das Publikum immer auch selbst im Spiegel; „Selbstporträts in Dingen“ lassen die Subjektivität von interpretativen Assoziationen bezüglich des Dings aber wesentlich deutlicher zutage treten als traditionell-mimetische Selbstporträts. Damit stellt der Einsatz von „Selbstporträts in Dingen“ auch eine Selbstermächtigung dar. Das Modell verweigert sich insofern, als dass es dem Publikum keine Illusion einer Selbst-Offenbarung zugesteht. Durch den Einsatz von Dingen als stellvertretende Sprecher des Selbst wird das Modell niemals zum vollständig verfügbaren Objekt.


[1] Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007; Andréa Belliger/David J. Krieger, ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; Friedrich Balke/Maria Muhle/Antonia von Schöning (Hg.), Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011.
[2] Mit „Dinge“ meine ich ausdrücklich materielle Alltagsdinge. Der Zusatz „in“ ist in Anlehnung an Materialbezeichnungen wie „in Öl“ etc. gewählt; selbst wenn Materialien im Unterschied zu Dingen keine spezifische Form besitzen, bringen auch sie die ihnen immanenten Eigenschaften in das Kunstwerk ein.
[3] Vgl. Secession Wien (Hg.), Kendell Geers (Kat.), Wien 1999; div. Essays unter: URL: http://www.kendellgeers.com/library/texts/345 [19.2.2015].
[4] Museum der Moderne Salzburg, Zu Erwin Wurms Installation Selbstporträt als Essiggurkerl (Ausstellungsfolder, unveröffentlicht), Salzburg 2010; Museum der Moderne Salzburg, Selbstporträt als Essiggurkerl. Erwin Wurm (Pressetext zur Ausstellung), 2010. URL: http://www.museumdermoderne.at/de/ausstellungen/aktuell/details/mdm/selbstportraet-als-essiggurkerl/ [19.2.2015].
[5] Zum jetzigen Zeitpunkt meiner Recherchen ist es mir in diesem Zusammenhang nur möglich die Arbeiten männlicher Kunstschaffender zu nennen.
[6] Philippe Lejeune, Der autobiografische Pakt, in: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 214 – 257; Alma-Elisa Kittner und Ingrid Hölzl haben das Konzept des autobiografischen Paktes für die Kunstwissenschaften adaptiert: Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009; Ingrid Hölzl, Der autoporträtistische Pakt. Zur Theorie des fotografischen Selbstporträts am Beispiel Samuel Fosso, München 2008.
[7] Vgl. Hölzl 2008, S. 51; Paul de Man, Autobiography as De-Facement, in: Modern Language Notes, Vol. 94, No. 5, 1979, S. 919 – 930.
[8] Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, München 1997, S. 67.
[9] Vgl. Hölzl 2008, S. 78: „Ein Werk als Autobiografie/Selbstporträt zu signieren, heißt, die Identität der dargestellten Person mit der eigenen Person zu postulieren.“
[10] Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001, S. 115: „Die Geschichte des neuzeitlichen Porträts ist meist als Geschichte eines Bildes geschrieben worden, an dem man die Ähnlichkeit mit einem lebenden Modell abgelesen hat.“ Zum Begriff Modell vgl. Lejeune 1989, S. 245: „Unter Modell verstehe ich das Reale, dem ähnlich zu sein das Ausgesagte vorgibt.“ Identität gründet auf einer Aussage, Ähnlichkeit ist eine Beziehung zum außertextuellen Modell.
[11] Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1985, S. 103: „Der Betrachter lässt im Moment des Betrachtens den Blick des Autors wieder ‘auferstehen‘.“
[12] „Das“ Publikum gibt es natürlich ebenso wenig wie „den Betrachter“. In diesem Text gehe ich von Menschen aus, die zumindest in Ansätzen mit dem Kanon europäischer Kunstgeschichte und ihren Wahrnehmungsmaßstäben vertraut sind.
[13] Vgl. Jacob Burckhardt, Die Anfänge der neueren Porträtmalerei, in: Emil Dürr (Hg.), Jacob Burckhardt. Vorträge, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1933, S. 316 – 330.
[14] Vgl. etwa Bruno Reudenbach, Individuum ohne Bildnis? Zum Problem künstlerischer Ausdrucksformen von Individualität im Mittelalter, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin 1996, S. 807 – 819, hier S. 809 – 812.
[15] Vgl. Gottfried Boehm, Der blinde Spiegel. Anmerkungen zum Selbstbildnis im 20. Jahrhundert, in: Herzog Anton Ulrich-Museum (Hg.), Ansichten vom Ich. 100 ausgewählte Blätter der Sammlung. Künstler sehen sich selbst. Graphische Selbstbildnisse des 20. Jahrhunderts (Kat.), Braunschweig 1997, S. 25 – 35, hier S. 27. Eine solche Sichtweise müsse am Ende des 20. Jahrhunderts überdacht werden.
[16] Vgl. James Hall, The self-portrait: A cultural history, London 2014. Allein durch die kurze Auseinandersetzung mit Everyone I Have Ever Slept With 1963 – 1995 (1995) von Tracy Emin ist eine Ausnahme gegeben. Hier handelt es sich meines Erachtens allerdings eher um eine Arbeit, die der von Alma-Elisa Kittner eingeführten und ausführlich erörterten Kategorie der „visuellen Autobiographie“ zufällt; vgl. Kittner 2009.
[17] Boehm 1997, S. 27; Boehm geht allerdings nicht weiter auf diese Fragestellung ein, weil der Ausstellungskatalog, in dem sich der Text befindet, keine Selbstporträts solcher Art beinhaltet.
[18] Wie etwa bei den Selbstporträts des englischen Künstlers Tony Cragg.
[19] Das gilt etwa auch für Self-portrait as Rubbish Bin (2012) von Michael Landy.
[20] Vgl. Charles S. Peirce, Semiotische Schriften. Bd. III. 1906 – 1911, Frankfurt a. M. 1993, S. 137 – 154; hier nach Hölzl 2008, S. 94; vgl. auch Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum: Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, S. 45 – 48: Im Gegensatz zum ritrare dal naturale beruhe die Ähnlichkeit zwischen Porträt und Modell immer auf einer höheren Abstraktionsleistung.
[21] Museum der Moderne Salzburg 2010 (Pressetext).
[22] Ähnlich beschreibt es Kittner für die Rezeption von Sophie Calles Autobiographical Stories (1988 – 89): das Publikum bilde hier eigene rhizomartige Erinnerungsstrukturen; vgl. Kittner 2009, S. 182.
[23] Vgl. Karin Krauthausen, Von Dingen, Resten und Findekünsten bei Paul Valéry, in: Balke/Muhle/von Schöning 2011, S. 151 – 174.
[24] Derrida spricht vornehmlich über das Auge, das nicht erblickt werden kann; vgl. Derrida 1997, etwa S. 64.

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Klappe auf für das A – Z der kinematografischen Objekte

Wörterbuch kinematografischer Objekte, August Verlag, Berlin 2014
Marius Böttcher, Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg, Linda Waack, Regina Wuzella (Hg.)
190 S., Paperback

„Alles beginnt mit einem Knall – zumindest im Tonfilm. […] Die vor der Kamera zusammengeschlagene Klappe und der entstehende Knall bilden zwei sehr kurze Ereignisse, die gleichzeitig sicht- bzw. hörbar sind und zusammen eine Synchronmarke bilden, an der die Tonspur nachträglich mit den Bildern verknüpft werden kann.“[1] Der Knall, Thema und Hauptakteur eines Objekteintrags im Wörterbuch kinematografischer Objekte, Konsequenz des Schließens der Klappe und konstitutiv für die Entstehung des Films selbst, ist mediale Markierung und Schwelle zwischen Vorfilm und Film.

Doch was ist ein kinematografisches Objekt? Welche Rolle spielen die Dinge im Film? In welchem Verhältnis stehen sie zur Außenwelt, zu anderen Dingen im Film oder zum Publikum?

Die Autorenschaft des jüngst im August Verlag erschienenen Handbuchs kinematografischer Objekte stellt sich diesen Fragen, ohne sich eines restriktiven Bestimmungsapparats zu bedienen. Im Hintergrund wirkt die Akteur-Netzwerk-Theorie mit ihrem Begriff des offenen Objekts. „Eine äußerst ökonomische Metonymie erlaubt es, in der Wissenschaft wie in der Politik, mittels eines winzigen Teils das unermessliche Ganze zu fassen.“[2] Latour spricht hier vom Objekt als Glied wissenschaftlicher Datengewinnungssysteme. Nach erfolgten Feldforschungen, Analysen, Kartierungen, et cetera werden die gewonnenen Fakten zu komprimierter Erkenntnis, zum wissenschaftlichen Symbol wie beispielsweise der Tabelle. „Indem man den Urwald verliert, gewinnt man das Wissen über ihn.“[3] So wie anhand einer Selektion von Pflanzen die Wissenschaft ökonomisch den Urwald darzustellen versucht, so spielen die Filmemacher und letzten Endes der Requisiteur mithilfe des Objekts im Film auf die mit ihm assoziierten und verbundenen Abläufe und Welten an. „Und mit Latour können wir sagen, dass ,das neue Objekt zu Beginn noch undefiniert ist. […] Zum Zeitpunkt seines Auftauchens kann man es nur dadurch beschreiben, dass man eine Liste seiner Aktivitäten und Eigenschaften erstellt‘“.[4] Im Agenten-Thriller James Bond jagt Dr. No wurde beispielsweise als Blickfang der Sammlung des Bösewichts eine Kopie eines damals erst kürzlich gestohlenen Gemäldes von Goya eingebaut und somit auf den viel diskutierten Kunstraub verwiesen. Die 007-Setdesigns von Ken Adams sind ihrerseits mittlerweile so berühmt, dass Produktionsskizzen in Galerien und Museen bewundert werden können. So erschließt sich ein kinematografischer Objektbegriff, der sich verflochtenen Einwirkungen und Ausgängen zuwendet und beweglich ist: „Jeder Schritt ist Materie für den, der folgt, und Form für den, der voraufgeht“.[5] Das kinematografische Objekt ist ein vermengtes Gebilde: Das Ding im Film, die objekthafte Festhaltung des Bilds auf Zelluloid sowie zahlreiche apparative Abläufe stellen das komplexe Objekt her/dar. Seine Funktion als Dreh- und Angelpunkt ist zentrale Ausgangslage dieser Taxonomie der Dinge und Undinge im Film, die anders als gängige Klassifikationen über benachbarte Dinge und über Abläufe das kinematografische Objekt als Zwischen-Sein, Transformation und verzahntes Ding entschlüsselt.

Das aus dem Junior-Fellow-Programm des Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar hervorgegangene Wörterbuch kinematografischer Objekte versammelt rund 100 Einträge von 62 AutorInnen. Die kurzen, alphabetisch geordneten Einträge ergeben eine bunte Auswahl von Objekten, die bei näherer Betrachtung in Überkategorien eingeteilt werden können: filmgeschichtlich populäre Szenerien sowie ihre Bestandteile (Monument Valley, Empire State Building, Fenster, Tonbandgerät, Flipper) stehen neben filmtechnischen und ästhetischen Manövern und dem dazu verwendeten Material (Close-Up, Zeitlupe, Zoom, Kamera, Leinwand, Split-Field Diopter, Lichtdouble), atmosphärischen Elementen (Licht, Ton, Farbe, Regen, Nebel) und schließlich den Einzelteilen des Akteurs (Haut, Haar, Hand, Auge, Narbe, Blut) und seinen Gadgets (Zigarette, Kaugummi, Revolver, Koffer). Einige Objekteinträge sind spartenübergreifend, dazu gibt es nicht weiter zu kategorisierende Einzelgänger (Unding, Tesla-Transformator, Atombombe). So ergibt sich über das Alphabet hinaus keine strengere Systematik.

Das Wörterbuch der versammelten Filmobjekte bewegt sich durch viele Schichten vorwärts, seine Intentionen sind eindeutig extrapolierend. Der kürzeste Eintrag ist ein reiner Zitatdialog: „BlutCahiers: ‚Man sieht viel Blut in Pierrot le fou.‘ – Jean-Luc Godard: ‚Kein Blut, rot.‘ (↑Filmblut)“.[6] Blut wird somit losgelöst von seiner ursprünglichen Identität und Filmumgebung neu erfahrbar. Der Eintrag Filmblut eröffnet mit der filmhistorischen Bedeutung von Blut, um von seinen verschiedenartigen Inszenierungen (tropfen, pladdern, fontänen- oder duschartiges spritzen, gerinnen, erstarren) über seine Beschaffenheit als „Realitätsmaschine“ zu seinen vielfältigen Erscheinungsformen in der Filmindustrie zu gelangen (Theater-, Zauber- und Filmblut, Blutkissen, -paste, -puder, Wundenfüller).[7] Abschließend werden in einer längeren „Phänomenologie des Bluts“ im bewegten Bild seine stereotypen Erscheinungsformen angesichts von Filmverweisen betrachtet (z.B. Blutsbruderschaft und artifizielle Familiarität, Winnetou, 1963).[8] Zahlreiche Verweise führen zu verschiedensten Ebenen in realem und gedachtem Raum und Sinn. Der Eintrag Leinwand von Dennis Göttel wird selbst zur reinen Projektionsfläche und bietet Raum für eine Sammlung von Zitaten und Metaphern zum Thema. Fäden weiterspinnend und verbindend wird durch Querverweise auf andere Einträge, auf Filme und auf Literatur verwiesen. Diese kommunikative Verflechtung durchdringt die panoramenartige Breite des Objektspektrums. Das Kino als philosophisch fassbare Einheit findet sich facettenhaft aufgeteilt in vielen ausladenden metaphorischen Exkursen kinematografischer Objekte. Bereits das Vorwort eröffnet das Hintersinnen kinematografischer Objekte mit dem Fenster, dem Ding der Selbstreflexion des Kinos par excellence. Manchmal schlüpft Text äußerst reizvoll direkt ins Bildliche. Wenn zum Beispiel Linda Waack einleitet mit: „Die Geschichte des Nylonstrumpfs als kinematografisches Objekt lässt sich am Bein aufrollen“ oder Ute Holl den Eintrag über das Telefon abschließt mit: „Das muss doch einleuchten. Da muss doch was klingeln!“[9]

Das Wörterbuch kinematografischer Objekte liest sich lustvoll und unangestrengt: Es bietet Einblick in unbekanntes Gedankengut, die Heterogenität der verschiedenen Schreibstile bildet ein reizvolles Nebeneinander und die kurz gefassten Einträge laden zum Weiterdenken und Ausführen ein. Dieser Charakter einer Momentaufnahme, die keine Abgeschlossenheit anstrebt, wird dem unerschöpflichen Kosmos des Films gerecht.

Trotz aller angelegten Offenheit bewegt sich das Verweissystem als Ganzes in mancherlei Hinsicht in engem Rahmen. Unter der großen Fülle der zitierten Filme, die, zwischen 1896 und 2013 angesiedelt, zeitlich die komplette Filmgeschichte abdecken, finden sich zwar neben dem klassischen Filmformat auch Kurzfilme, Trilogien, Serien und Musikvideos, der geografische Radius der ausgewählten Werke ist jedoch deutlich begrenzter. Das US-amerikanische Kino ist stark vertreten. Aus europäischen Filmproduktionen werden vorwiegend deutsche, italienische und französische Werke zitiert. Es findet sich russisches Kino und einige chinesische und japanische Filme; indisches Filmschaffen oder Spuren eines Dritten Kinos findet man im Buch aber kaum. Wie die Filmauswahl den impliziten Kanon der Autorenschaft spiegelt, so verraten auch die Literaturhinweise einiges über die gemeinsame Heimat der meisten AutorInnen an film- und medien-wissenschaftlichen Institutionen im deutschsprachigen Raum.

Wenn das Objekt mit Latour als Glied einer reversiblen Referenzkette, als Übergang und Verweis konstituiert wird, so lässt sich fragen, weshalb zur Erfassung ebendieser das geschlossenste aller Medien – das gute alte Buch – gewählt wurde. Wäre ein ständig erweiterbarer Onlinekatalog, in den immer wieder neue Objekte und neue Referenzen eingefügt werden können, einem solchen Projekt der Form nach nicht gerechter geworden? Andererseits ist die buchspezifische Leseweise durch das Lexikonformat ja bereits aufgehoben. Durch die kurzen, abgeschlossenen Einträge mit zahlreichen Verweisen liest man sprunghaft kreuz und quer. Der Eindruck, fertig gelesen zu haben, entsteht somit nie. Der suchende, sich orientierende Blick erfasst aufmerksam und intuitiv adaptierend seine Umwelt. Friederike Horstmann schreibt in ihrem Eintrag Leuchtturm vom tollwütigen Turmwärter in Gardiens de Phare: „Sein Leuchtturmlicht gibt keine Orientierung, kennt keine kontinuierlich kreisenden Kegel mehr, sondern wirft irrlichternd flackernde Licht- und Schattenspiele an die Wände, wölbt klaustrophobisch die kreisförmigen Innenräume und verzerrt Gesichter“.[10] Da das Wesen des Filmobjekts bereits zergliedert ist, erstaunt es nicht, dass sich auch die vorliegende Publikation einer eindeutigen Klassifizierung widersetzt: Das Wörterbuch kinematographischer Objekte ist eine Art unabgeschlossenes, filmisches Alphabet, das sich als Verbindung auswärts orientiert und unendlich neu gedacht werden kann.


[1] Axel Volmar, Knall, in: Marius Böttcher, Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg, Linda Waack, Regina Wuzella (Hg.), Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin 2014, S. 77.
[2] Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 202.
[3] Latour 1996, S. 205.
[4] Jan Philip Müller, Liste, in: Böttcher et al. 2014, S. 93 – 94.
[5] Latour 1996, S. 244.
[6] Böttcher et al. 2014, S. 26; das Zitat stammt aus: Jean-Louis Comolli, Michel Delahaye, Jean-André Fieschi und Gérard Guégan, Parlons de ,Pierrot‘. Nouvel entretien avec Jean-Luc Godard, in: Cahiers du cinéma, Vol. 171, Oktober 1965, S. 18 – 35.
[7] Julia Barbara Köhne, Filmblut, in: Böttcher et al. 2014, S. 48.
[8] Köhne 2014, S. 49.
[9] Linda Waack, Nylonstrumpf, in: Böttcher et al. 2014, S. 107 und Ute Holl, Telefon, in: Böttcher et al. 2014, S. 150.
[10] Friederike Horstmann, Leuchtturm, in: Böttcher et al. 2014, S. 87.

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Ausgabe #8

Wissenschaftliche Arbeit funktioniert wesentlich als Textarbeit. Die Textproduktion im Kunstfeld erfüllt verschiedenste Zwecke, von denen die theoretische Auseinandersetzung nur eine Ebene einnimmt. Die programmatische Offenheit von all-over betraf bislang das thematische Spektrum der wissenschaftlichen Beiträge im Diskursfeld von Kunst und Ästhetik. Die Form der Textproduktion ist dabei an ein wissenschaftliches Regulativ gebunden. Einer Reflexion und Sichtbarmachung dieser tradierten Textkonvention möchten wir nun Raum geben: Ab Ausgabe #8 werden den wissenschaftlichen Textbeiträgen künstlerische beiseite gestellt, die Potenziale der Textform ausloten und die Funktion von Text im Kunstbetrieb reflektieren.

Delphine Chapuis Schmitz’ Beitrag Conversations basiert auf einem bereits vorhandenen digitalen Text – dem Online-Archiv eines Zürcher Offspaces –, aus dem sie einzelne Begriffe ausgewählt und entsprechend ihrer ursprünglichen Konstellation in all-over eingefügt hat.

Die mediale Transformation prähistorischer Felsritzungen im Rahmen wissenschaftlicher Dokumentationsverfahren ist Gegenstand der Überlegungen von Alisa Becks Beitrag über die Felsgravierungen von Valcamonica. Nicht zuletzt der ambivalente Status der Aufzeichnungsprozesse zwischen kreativer und dokumentierender Arbeit führt die Autorin zu methodischen Grundfragen der Kunstgeschichte.

Christian Scherrer verfolgt die Bestimmung der abstrakten Malerei bei Albert Oehlen jenseits der strengen Entgegensetzung von Abstraktion und Figuration in Hinblick auf Oehlens eigene Begrifflichkeit der postungegenständlichen Malerei.

ALLES SCHWARZ von Ariane Koch und Sarina Scheidegger thematisiert in Form eines Gesprächs gegenwärtige Lohn- und Arbeitsbedingungen im Kunstbereich.

Den prekären Zusammenhalt des Künstlersubjekts sieht Evelyn Klammer in „Selbstporträts in Dingen“ veranschaulicht, was sie anhand von Erwin Wurm und Kendell Geers ausführt.

Die Handlungsfähigkeit von Objekten innerhalb und außerhalb des Films erkennt Matthias Egger als durchgehendes Thema in seiner Rezension des sich durch eine große Bandbreite an Zugängen auszeichnenden Wörterbuchs kinematografischer Objekte.

Vom Ausgangspunkt der einsamen Insel eröffnet Philippe Zourgane anhand vegetationspolitischer Überlegungen Wege, die architektonische Form zu einer neuen Freiheit zu führen.

Ulrich Nausners Bildstrecke basiert auf dem digitalisierten Katalog der Ausstellung January 5 – 31, 1969 von Seth Siegelaub. Als Rest der Übertragung ins Digitale bleibt eine Formatveränderung: Das amerikanische Papierformat des Buchs wird für all-over #8 übernommen.

Wir freuen uns über einen Neuzugang und heißen Stefanie Reisinger in unserer Wiener Redaktion herzlich willkommen.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Barbara Reisinger | Stefanie Reisinger

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Die Felsgravierungen in Valcamonica

In Anbetracht prähistorischen Bildmaterials sehen wir uns mit einer großen zeitlichen Differenz konfrontiert, die historische Maßstäbe unter Spannung setzt, Sehgewohnheiten und grafisch-künstlerische Auffassungen infrage stellt. Christopher Chippindale und Frederick Baker umreißen in ihrer Publikation Pitoti. Digital rock-art from prehistoric Europe: heritage, film, archaeology von 2012 die als faszinierend bis fremdartig wahrgenommene Position als Rezipierende vor, zwischen und inmitten der noch heute begehbaren Areale prähistorischer Felsgravierungen im norditalienischen Tal Valcamonica wie folgt: „ […] since we cannot become prehistoric people, everything we try to find in them is a metaphor, an analogy with what we ourselves experience.“[1]

Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen betreffen eben solche Strukturen in der Rezeption dieser Vorkommen von Felsgravierungen. Sie befassen sich dabei explizit mit den Aufnahmetechniken und visuellen Produkten in der Forschungspraxis des 20. Jahrhunderts in Valcamonica und untersuchen diesen inhärente Momente medialer Aneignung. Im Fokus steht grafisches und fotografisches Material, das 1936 und 1937 während zwei ethnologischen Forschungsreisen des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie unter der Leitung von Leo Frobenius vor Ort angefertigt wurde.[2] Ich beziehe mich auf diesen Bestand im Sinne einer „informellen Struktur […], mit der die ganze Vielfalt der aus der Praxis geborenen Tricks und Besonderheiten festgehalten wird“[3] und untersuche das Verhältnis von Forschungsgegenstand, Mittel der Aufzeichnung und angefertigtem Bildmaterial. Von besonderem Interesse sind hierbei die spezifische Beschaffenheit der Felsgravierungen und ihre Übersetzbarkeit in abbildende Medien. Anhand der Wechselwirkungen von dokumentarischen und künstlerischen Techniken im wissenschaftlichen Bearbeitungskontext können die Charakteristika der Vieldeutigkeit in der wissenschaftlichen Bildproduktion aufgezeigt und die Potenzialität der technischen „Verarbeitungsketten“[4] verdeutlicht werden.

Erika Trautmann, Val Camonica. Naquane. Untersuchung der Felsbilder (Weyersberg, Guiseppe, Kerenyi.), 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 1: Erika Trautmann, Val Camonica. Naquane. Untersuchung der Felsbilder (Weyersberg, Guiseppe, Kerenyi.), 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

I.

Wo befinden wir uns? Die Schwarz-Weiß-Fotografie (Abb. 1) von 1936 dokumentiert diese Frage im Rahmen einer Forschungsszene vor Ort. Sie zeigt in Position und Gestus der drei auf dem Felskörper liegenden Personen[5] Möglichkeiten der Vergegenwärtigung der Felsgravierungen durch die Forschenden: unmittelbar physische Annäherung an die Gravierung und klare Hervorhebung derselben mittels manueller und technischer Verfahren. Der im Rahmen der Exkursion von mitreisenden Zeichnerinnen angefertigte und heute im Frobenius-Institut in Frankfurt am Main archivierte Korpus an grafischen Blättern und Schwarz-Weiß-Fotografien zeichnet sich durch den ästhetischen Eigenwert und durch die Vielfalt der verwendeten Techniken und Bildformate aus.[6]

Welche Funktion erfüllt dieses wissenschaftliche Bildmaterial hinsichtlich einer in Forschung und Archivierung forcierten Form des Registrierens und Abbildens von etwas da draußen?[7] Inwiefern wird dabei Bezug auf die folgenden Charakteristika der prähistorischen Vorkommen von Felsgravierungen genommen? Es lassen sich drei Problembereiche skizzieren, mit denen die Forschenden in Anbetracht der Erschließung dieser Vorkommen konfrontiert sind: Dimension, Materialität und Lesbarkeit.

Im Fall von Valcamonica zeugen weder in Ausgrabungen zutage geförderte Artefakte noch gemalte Bildprogramme von der menschlichen Präsenz und sozialen Aktivität der einst Ansässigen. Vielmehr handelt es sich um direkt in die Steinoberflächen eingetragene Markierungen, die über eine lange Zeitspanne zwischen dem Ende der Eiszeit und der Ankunft der Römer im 1. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind und sich als zusammenhängende Bildareale in die Landschaft einfügen. Im Unterschied zu frontalen, umlaufenden und geschützten Wandflächen in den dunklen, abgeschlossenen Innenräumen von Chauvet und Lascaux oder zu Felsvorsprüngen im Außenraum befinden sich diese Gravierungen auf begehbaren und der Witterung ausgesetzten Felsmassiven. In den auf natürliche Weise abgeschliffenen Grund aus Sandstein und Schiefer wurden die Motive anhand von Klopflinien und Klopfflächen mit taktiler, unebener Oberflächenstruktur eingraviert. Ihre (Un-)Sichtbarkeit wird nicht zuletzt von den ständig wechselnden Lichtverhältnissen bestimmt, welche die Wahrnehmung durch Effekte des Erscheinens und des Verschwindens maßgeblich mitbestimmen. Die Vorkommen von Felsgravierungen lassen sich explizit durch ein Changieren zwischen Makro-Ebene und Micro-Ebene erschließen – vom einzelnen Einschlag zum landschaftlichen Panorama.[8]

II.

Die zwei kleinformatigen Blätter (Abb. 2 und Abb. 3) aus dem Felsbildarchiv zeigen eine vergleichbare Figur mit verdicktem, oberen Ende, länglicher, leicht gebogener Form und einer abschließenden Verjüngung. Im ersten Fall wird sie zentral und gerade auf das Blatt gesetzt, im zweiten Fall erfolgt die Positionierung diagonal. Das erste Blatt (Abb. 2) ist in der linken unteren Ecke mit Angaben zum Standort beschriftet, sodass die Ausrichtung des Einzelblattes vorgegeben ist. Beide Darstellungen reproduzieren die ursprüngliche Größe der archäologischen Funde. In dem manuellen Übertragungsprozess kommen Abreibung und Aquarell zum Einsatz. Was erzeugen die angewendeten Verfahren mit ihren unterschiedlichen Qualitäten des direkten und indirekten Abnehmens? Von welchen Parametern sind Interpretation und Kontextualisierung der Vorkommen abhängig?

Elisabeth Charlotte Pauli, Derselbe wie 121. Dolch. Gravierung., Norditalien Valcamonica, 1936, Abreibung, 9x26 cm, n. Gr., Frankfurt am Main, Felsbild-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 2: Elisabeth Charlotte Pauli, Derselbe wie 121. Dolch. Gravierung., Norditalien Valcamonica, 1936, Abreibung, 9×26 cm, n. Gr., Frankfurt am Main, Felsbild-Archiv Frobenius-Institut.

Elisabeth Charlotte Pauli, Dolch. Mittelgrob gepunzt. Gravierung., Norditalien Valcamonica, 1936, Aquarell, 19x26 cm, n. Gr., Frankfurt am Main, Felsbild-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 3: Elisabeth Charlotte Pauli, Dolch. Mittelgrob gepunzt. Gravierung., Norditalien Valcamonica, 1936, Aquarell, 19×26 cm, n. Gr., Frankfurt am Main, Felsbild-Archiv Frobenius-Institut.

Durch direktes Auflegen des Papiers auf den Stein wird auf dem ersten Blatt (Abb. 2) die Struktur so übertragen, dass eine Negativform entsteht: Die dunkle, knapp um das Motiv geführte Farbe gibt den erhabeneren Fels wieder, während die weiße, leicht brüchige Spur die vertiefte Gravierung angibt. Auf diese Weise wird die Materialität des Umfeldes aufgenommen, jedoch nicht die bearbeitete Struktur der Gravierung selbst. Der untere Teil der Figur wird nicht zu Ende geführt und bleibt undeutlich. Im Falle des Aquarells (Abb. 3) zeichnet der Pinsel die gravierte Spur nach. Es entsteht eine flüssige, bruchlose Linie in dunkler Farbe und eine geschlossene, herausgelöste Form, die nicht auf eine körnige Materialität schließen lässt. Das Aquarell wird in Abstand zur originalen Form ausgeführt. Die körnige Textur auf dem Papier entsteht dabei durch Aufrauen und Verwischen der Farbe. Auch hier bleiben einige Stellen der Darstellung offen. Zum einen zwei dünne, verwischte Linien, die an die Form angesetzt sind, zum anderen die untere rechte Ecke, die farblich und durch einen Knick im Papier abgetrennt erscheint. Mit welchem Motiv haben wir es zu tun?

Val Camonica. Fundplätze oberhalb Naquane. Felsgravierung: Umrisse von Messern oder Dolchen (?), 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Val Camonica. Fundplätze oberhalb Naquane. Felsgravierung: Umrisse von Messern oder Dolchen (?), 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Die frontal aufgenommene Fotografie (Abb. 4) zeigt weiß umrandete Gravierungen, die als Dolchformen interpretiert werden: von links nach rechts mit Knauf, Griff, Schneide. Bei der Aufnahme des rechten Felsabschnitts handelt es sich um dieselbe Gravierung wie bei der auf den beiden archivierten Papierarbeiten angeführten Form (Abb. 2 und Abb. 3) – nur wird anhand der Fotografie die vorgeschlagene Lesart deutlicher nachvollziehbar. Die offenen Stellen auf dem Papier stellen sich als Spalten und Risse auf dem Felsgrund und nicht als Gravierung heraus. Aus der Zeichnung wird dies allerdings nicht ersichtlich, sie suggeriert eine Gleichwertigkeit von gravierter und natürlicher Spur im Fels. So entfernen sich die grafischen Aufnahmen entscheidend von der Vorlage und verunklären für eine Analyse entscheidende Informationen. Einzelne Elemente des zugrunde liegenden Materials werden nicht einfach 1:1 übertragen, sondern mithilfe der zur Verfügung stehenden Darstellungsmittel – mit der Wahl des Papiers, der Farbe, der Rahmung und der Komposition – übersetzt. Durch die Verschiebung des Fokus und durch eine künstlerische Offenheit, die dem im Prozess des Abzeichnens inhärent ist, entsteht ein zweites, anderes visuelles Produkt.

An dieser Stelle schließen sich kritische Fragestellungen und Überlegungen zu Aufzeichnungssystemen in den Wissenschaften an, die Inskriptionen in einem breiten Diskurs zum einen in ihrer Beschaffenheit als aufgezeichnete Dinge fassen, zum anderen von Seiten ihres Herstellungsprozesses her denken.[9] In diesem Rahmen befassen sich die WissenschaftlerInnen der langjährigen Forschungsinitiative Wissen im Entwurf[10] des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte grundlegend mit der Instabilität der Trennung von Wissenschaft und Künsten.[11] So verdeutlicht Barbara Wittmann in ihrem Beitrag die „medienspezifische Verschränkung von dokumentarischem und subjektivem Zugriff auf die beobachteten Phänomene“[12] in der typologischen Zeichnung. Der Dialog zwischen WissenschaftlerIn und ZeichnerIn wird hierbei durch die „Asymmetrie der Wahrnehmungen“[13] bestimmt und zu einer produktiven Verfremdung hin erweitert. Christoph Hoffmann bezeichnet in seiner Einführung jede Form des Aufzeichnens als aktives Verfahren einer Befragung und im Sinne wissenschaftlicher Prozesshaftigkeit: „So zeigt sich […], dass der Akt der primären Aufzeichnung nicht nur in der Weise an der Entstehung von Wissen teilhat, wie er seine Objekte am Ende exteriorisiert, figuriert und redimensionalisiert zurücklässt. Dass vielmehr durch das Schreiben und Zeichnen vorhergehend eine Begegnung  mit dem Objekt statt hat, die zu seiner vertieften Kenntnis führen kann.“[14]

In diesem Sinne eröffnen die beiden Blätter (Abb. 2 und Abb. 3) gerade in ihrer ästhetischen Eigenständigkeit Variationen grafischer Darstellung und Wahrnehmung zwischen hervortretender Linearität und materieller Spur, die bestimmte Beschaffenheiten der Felsgravierungen selbst zu extrahieren scheinen. Entlang des angestellten Vergleichs lässt sich zudem der Stellenwert des gewählten Ausschnitts und die Setzung von Format und Rahmen exemplifizieren, die als solche die Gerichtetheit der Betrachtung und Interpretation in der wissenschaftlichen Praxis bestimmen. Es kommt die Bedeutung des medialen Abgleichs zum Tragen, der eine Kontextualisierung der Aufnahmen ermöglicht und den Forschenden Besonderheiten und Qualitäten jedes Aufnahmeverfahrens zu eröffnen vermag.

III.

Hinsichtlich des Widerstands zwischen Produkt und Aktivität der Aufzeichnung merkt Christoph Hoffmann an: „Auf dem Papier überliefert sind nur solche Aspekte des Verfahrens, die sich in der graphischen Spur abzeichnen, während andere Aspekte des Verfahrens, die in den Rahmenbedingungen des Aufzeichnens begründet sind, im besten Fall indirekt erschlossen werden können.“[15] Wie kann dies auf die Bedeutsamkeit der zu übertragenden Rahmenbedingungen im Fall der mehrdimensional erschließbaren Areale in Valcamonica bezogen werden? Welche Aspekte verschieben sich, wenn Papier und Spur in anderer medialer Verfasstheit, nämlich in der Fotografie, zum Tragen kommen?

Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung., 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 5: Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung., 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung., 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 6: Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung., 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung, 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Abb. 7: Val Camonica. Sasiner. Felsgravierung, 1936, SW-Negativ, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Während der zwei Exkursionen 1936 und 1937 entsteht neben dem grafischen Material eine große Anzahl an Schwarz-Weiß-Fotografien, die zum einen die landschaftliche Umgebung und die Forschenden bei der Arbeit zeigen, zum anderen aber auch dezidiert die Felsbildareale in den Blick nehmen. Ausgewählte Fotografien wurden anschließend im Archiv in Frankfurt am Main in heute wieder rekonstruierten Alben zusammengestellt.[16] Das erste fotografische Beispiel (Abb. 5) zeigt einen Ausschnitt des als Bedolina-Map bekannten Bedolina Rock 1. Wie der Name bereits sagt, werden vor allem kartografische Lesarten vorgeschlagen, welche die Gravierungen als besetzte, angereicherte und vernetzte Behausungen, Felder und Wege auf dem markanten und leicht abfallenden Felsmassiv interpretieren. Die Aufnahme zeigt zudem eine manuelle Technik der Sichtbarmachung durch die WissenschaftlerInnen: Das Umreißen einzelner Figuren mit weißer Kreide, welches die Gravierungen als dunkle Flächen erfasst. Dieses grafische Verfahren führt zu Linearisierung und Vereinfachung auf eine Dimension. Es steht dabei der Materialität der Gravierungen und der Bedeutung von abweichenden Einschlägen entgegen. Die Bezeichnung als sich ausbreitende Karte baut dabei auf einen gewissen Grad von Flächigkeit. Dieser Grad ist allerdings nicht zuletzt eine Frage der Perspektive und des Standpunkts, wobei eben diese Komponenten Variablen bleiben. In der Aufnahme (Abb. 5) fällt die Ansicht möglichst gerade und unverzerrt aus, sie nimmt die körperhaften Formungen und Ausbuchtungen des Felsens zurück. Die gewählte Perspektive verstärkt den Eindruck von Flächigkeit, Klarheit und Einheitlichkeit der Darstellung und scheint damit auch einer Bezeichnung als „Bildplatte“[17], wie es Maria Weyersberg formuliert, oder als „Bildfeld“[18] im Sinne Meyer Schapiros zuträglich.

Einen maßgeblichen Faktor stellt in der Fotografie der aufgenommene Lichteinfall dar. Die einzelnen Lichtflecken auf der Felsoberfläche der Gravierungen weisen auf einen entscheidenden Moment der Seherfahrung vor Ort: das Auftreten blinder Flecken und der Wechsel von Sichtbarkeit zu Unsichtbarkeit. Im gleißenden Licht des zweiten Beispiels (Abb. 6) lassen sich undeutlich natürlich gelassene Gravierungen ohne Nachzeichnung sowie dunkle Schatten erkennen, die von Vegetation zeugen. Zum einen verdecken und verunklären diese Elemente und können als Störfaktoren oder Zäsuren gesehen werden, die quer über die Bildfläche führen. Zum anderen bilden sie selbst Formen auf der Felsoberfläche, die als wichtige Bestandteile, als Verweise auf Funktion und Kontext der in die Umgebung eingebetteten Felsbildareale gelten können. Der veränderte Fokus dieser Aufnahme nimmt zudem das Felsmassiv mit seinen Niveauunterschieden, Unebenheiten und Brüchen in den Blick und gibt durch den Schattenwurf auch die Umgebung wieder. Im Vergleich dazu steigert das dritte Beispiel (Abb. 7) in Bezug auf Perspektive und Verortung der Darstellung die Verunklärung, da Niveauunterschiede und Ausrichtung nicht mehr klar auszumachen sind. Erst durch mehrfache Vergleiche und umfassende Kenntnis der Formensprache dieses Areals wird ersichtlich, dass die Ansicht im Vergleich zu den vorherigen Aufnahmen um 180 Grad gedreht wurde und der Standpunkt der Fotografin oder des Fotografen am oberen Rand des Massivs liegt. Die aus dieser Warte wie amorphe Gebilde und Figuren zu deutenden Gravierungen stellen sich als die von unten grafisch gelesenen Felder und Wege heraus. Die Positionsveränderung der fotografierenden Person macht somit auf die Frage aufmerksam, inwieweit sich ein fester Standpunkt der Rezeption bestimmen lässt und inwiefern wir in der Interpretation durch ausgewähltes und sich wiederholendes Bildmaterial in wissenschaftlichen Publikationen einer im Voraus bestimmten Perspektive aufsitzen.

Die Abweichungen in der Darstellung und die Ästhetik der Unschärfe beziehen sich nicht auf die „exakte Wiedergabe des Wahrgenommenen, sondern auf die Wiedergabe der Wahrnehmung selbst“[19]. In der dokumentarischen Absicht der hier gezeigten Fotografien lässt sich somit ein Spiel im Umgang mit Effekten der Wahrnehmung sowie mit Positiv-Negativformen als Umrissmaterial wissenschaftlicher Analyse ausmachen, die für ein in archäologischer Forschung geschultes Auge omnipräsent sind.[20]

IV.

Technische Figur. Gravierung, Val Fontanalba. Orco über Feligno, 1937, Aquarell, 55x200cm, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Technische Figur. Gravierung, Val Fontanalba. Orco über Feligno, 1937, Aquarell, 55x200cm, Frankfurt am Main, Foto-Archiv Frobenius-Institut.

Das angeführte Bildmaterial zeugt davon, wie spezifische Qualitäten verschiedener Verfahren genutzt werden können, um jeweils einen anderen Blick auf Form, Funktion und Kontext der Gravierungen zu generieren. Dieses polymediale Vorgehen der Frobenius-Exkursionen erweist sich gerade am Beispiel der schwer fassbaren Gravierungen mit ihrer mehrdimensional anmutenden Struktur zwischen grafischem und plastischem Charakter als interessant. Im wissenschaftlichen Kontext steht das angewandte Verfahren in Kontrast zu den in der Forschungsliteratur meist angeführten Tracings, die in ihrer einfachen Darstellbarkeit vor allem den Zeichencharakter des Ausgangsmaterials herausstreichen. In diesem Sinne erfüllen die unterschiedlich ausgelegten Blätter und Fotografien der Frobenius-Exkursionen nicht einfach die Funktion der möglichst klaren Abbildung des anvisierten Forschungsgegenstands, sondern transportieren und produzieren ein Mehr an Information[21] – gerade durch die übertragenen Techniken, den abweichenden Fokus und die sich letztlich ablösenden Motive. Sie scheinen sich auf spezifische Elemente menschlicher Seherfahrungen zu richten und etwas über die umfassende Wahrnehmung dieser Gravierungen zu verraten: Mehrdimensionalität der Sichtweisen, Potenzial der ständigen Verwandlung und unumgängliche Uneindeutigkeiten. Der auf dem Weg des medialen Transfers entstehende Grad der Verfremdung kann dann produktiv genutzt werden, wenn er von Seiten der Forschenden als Hinweis auf die Variabilität des point of view bezogen wird. Es gilt zu überlegen, ob es gerade die offenen Stellen, die ästhetische Eigenständigkeit und die spürbare Differenz sind, die diese visuellen Produkte der wissenschaftlichen Praxis zu Anknüpfungspunkten für neue künstlerische Positionen machen.[22]

Alexander Kulik/Bernd Fröhlich/Felix Trojan/Marcel Karnapke, Visualisierungen von Close-ups und 3D-Scans der Felsgravierungen in Valcamonica, Forschungsprojekt Pitoti, Cambridge University/FH St. Pölten/Bauhaus Universität Weimar.

Alexander Kulik/Bernd Fröhlich/Felix Trojan/Marcel Karnapke, Visualisierungen von Close-ups und 3D-Scans der Felsgravierungen in Valcamonica, Forschungsprojekt Pitoti, Cambridge University/FH St. Pölten/Bauhaus Universität Weimar.

Aus diesen Ausführungen lässt sich schließen, dass die Wahl des Aufzeichnungsmittels maßgeblich von den Absichten der AkteurInnen und den weiteren Verwendungszwecken abhängt.[23] Wie schon das Spannungsverhältnis von manuellen Zeichnungstechniken und neuen, mechanischen Reproduktionsmethoden im Laufe des 19. Jahrhundert deutlich macht, kann eine größere Bandbreite an Medien der Aufnahme zu „einer Schärfung ihrer Verwendungsmöglichkeiten“[24] und zu einer ergänzenden Verwendungspraxis führen.[25] Ein abschließendes Vergleichsbeispiel aus dem Felsbild-Archiv (Abb. 8) und dem jüngsten Forschungsprojekt (Abb. 9) soll hier als Anknüpfungspunkt für weitere Überlegungen dienen. Auf der planen Papieroberfläche (Abb. 8) wirkt das Motiv durch die Verwendung von Mischtechniken, die direkt in das Papier eingedrückte Konturlinien, aufgeraute Pinseltupfen, verlaufende Farboberflächen und modellierende Schattensetzungen kombinieren, wie eine simulierte Textur – ein auf dem Felsträger schwebendes und abgelöstes Etwas. Diese Darstellung kommt dabei nicht nur einem bestimmten Seheindruck vor Ort erstaunlich nahe, sondern lässt in unseren Augen auch Analogien zu digitalen Techniken der Visualisierung von aufgezeichneten Daten zu. Im Rahmen des Forschungsprojekts Pitoti und in Zusammenarbeit mit der Bauhaus Universität Weimar entstehen ab 2009 Close-ups und 3D-Aufnahmen der Felsgravierungen von Valcamonica mit einem speziellen Laser-Scanner, die sich in verschiedene Darstellungsformen (Abb. 9) übersetzen lassen.[26] Die Sensoren des Gerätes tasten sukzessive die materielle Struktur der Gravierungen ab, sodass die späteren Visualisierungen der gesammelten Daten gerade an der diffizilen Stelle visueller Darstellbarkeit gleichzeitig formgebend und variabel werden – an der mehrdimensional wahrnehmbaren, für die Berührung offenen Oberfläche der Gravierungen.[27] In beiden Beispielen kreist das Interesse also um die (nicht) wahrnehmbare Struktur des Forschungsgegenstandes –  die spezifische Art und Weise des Verfahrens aber ist es, die im Prozess unterschiedliche, im Original unter Umständen nur potenziell enthaltene Elemente bestimmt und der Interpretation öffnet. In der Reflexion über wissenschaftliche Praxen scheint nicht nur ein Nebeneinanderstellen der finalen Produkte produktiv, sondern vielmehr ein Verfolgen der Analogien zwischen den Reproduktionsverfahren selbst.[28]


[1] Christopher Chippindale und Frederick Baker, Pitoti. Digital rock-art from prehistoric Europe: heritage, film, archaeology, Mailand 2012, S. 22.
[2] Die Forschungsgeschichte in Valcamonica umfasst zeithistorisch, technologisch und nicht zuletzt ideologisch verschiedene Phasen wissenschaftlicher Praxis, vgl. Emmanuel Anati, Valcamonica rock art. A new history for Europe, Capo di Ponte 1994, S. 23 – 46. Die Aktivitäten des bereits 1898 gegründeten und auf materielle Kulturgüter des afrikanischen Kontinents fokussierten Forschungsinstituts für Kulturmorphologie mit einem Stab an assoziierten Wissenschaftlern und MitarbeiterInnen steht im Fall von Valcamonica in einem dezidiert europäischen Kontext. Die Forschungsreisen müssen in den gesellschaftlichen, nationalistisch, nationalsozialistisch und kolonial geprägten Strukturen und Interessen der Wissensproduktion verortet werden. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Leo Frobenius und sein Frankfurter Institut, in: Karl-Heinz Kohl und Editha Platte (Hg.), Gestalter und Gestalten. 100 Jahre Ethnologie in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2006, S. 395.
[3] Christoph Hoffmann, Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung, in: Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich 2008, S. 8.
[4] Hoffmann 2008, S. 17.
[5] Den Angaben des Online-Archivs des Frobenius-Instituts zufolge handelt es sich um Maria Weyersberg, Karl Kerenyi und Giuseppe. URL: http://bildarchiv.frobenius-katalog.de/hzeig.FAU?sid=70A60BA1104&dm=1&ind=1&zeig=FoA+18-KB02-17 [19.03.2015].
[6] Zur genderspezifischen Organisation des Instituts und der Rolle der Forscherinnen, vgl. Bettina Beer, Ein kleiner Amazonenstaat. Frühe Ethnologinnen und Ethnographinnen am Institut für Kulturmorphologie (Frobenius-Institut), in: Kohl/Platte 2006.
[7] Hoffmann 2008, S. 7 – 20. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 18 – 34, 76 – 87, 109 – 121. Vgl. Peter Geimer, Einführung, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 7 – 25. Zu den sogenannten Felsbildkopien im Archiv des Frobenius-Instituts, vgl. Kohl 2006, S. 391 – 396. Vgl. Richard Kuba, Frobenius in New York. Felsbilder im Museum of Modern Art, in: Volker Gottowik, Holger Jebens und Editha Platte (Hg.), Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen, Frankfurt am Main 2008, S. 139 – 155. Der Begriff der Kopie wird problematisch in der Verkürzung auf eine binäre Struktur zwischen Original und Kopie sowie in Bezug auf Aspekte der Vervielfältigung und der Ähnlichkeit. Der Fokus auf den Prozess der Übersetzung scheint mir hier produktiv zu sein.
[8] Chippindale/Baker 2012, S. 16 – 28. Vgl. Anati 1994. Mein Interesse an den Felsgravierungen von Valcamonica und ihrer Rezeption speist sich aus Momenten der Differenz zu jenem Forschungsmaterial und zu jenen Diskursen, die sich in Überschneidung der disziplinären Felder von Ethnologie, Archäologie, Frühgeschichte und Ästhetik in erster Linie mit Zeugnissen prähistorischer Malerei und Imaginationen zu den Anfängen der Kunst auseinandersetzen.
[9] Hoffmann 2008, S. 10.
[10] Jutta Voorhoeve (Hg.), Welten schaffen: Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion, Zürich 2011. Karin Krauthausen (Hg.), Notieren, skizzieren: Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, Zürich 2010. Barbara Wittmann (Hg.), Spuren erzeugen: Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich 2009 sowie Hoffmann 2008.
[11] Hoffmann 2008, S. 8. Zudem verweisen die bisherigen Beobachtungen auf Produktions- und Wahrnehmungskonventionen von Bildmaterial im wissenschaftlichen Diskurs, die in der Regel durch Imaginationen von Objektivität bestimmt werden. Die umfassenden Publikationen von Lorraine Daston und Peter Galison zu Paradigmen der Objektivität in der Wissensproduktion sind hier grundlegend: Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity, New York 2010. Lorraine Daston und Peter Galison, Das Bild der Objektivität, in: Geimer 2002.
[12] Barbara Wittmann, Porträt der Spezies, in: Hoffmann 2008, S. 54.
[13] Wittmann 2008, S. 57.
[14] Hoffmann 2008, S. 20. Vgl. Rheinberger 2001, S. 114.
[15] Hoffmann 2008, S. 13.
[16] Ich danke an dieser Stelle Peter Steigerwald und Richard Kuba für die freundliche Betreuung und Bereitstellung des Materials im Foto-Archiv und Felsbild-Archiv des Frobenius-Instituts in Frankfurt am Main.
[17] Maria Weyersberg, Reisetagebuch aus dem Archiv des Frobenius-Institut Frankfurt am Main, August 1937, o.S., unveröffentlicht.
[18] Meyer Schapiro, Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 2001, S. 253 – 254.
[19] Geimer 2002, S. 24.
[20] In Hinblick auf Beobachtungen, die eine Nähe zu ästhetischen Verfahren und Ästhetiken zeitgenössischer Fotografie unterstreichen, kann mit Peter Geimer zum einen auf die vakante Trennung von künstlerischer und wissenschaftlicher Fotografie, zum anderen aber auch auf die Problematik einer retrospektiven Vereinnahmung in das System Kunst verwiesen werden. Vgl. Geimer 2002, S. 10 – 11.
[21] Geimer 2002, S. 7.
[22] Ein wichtiger Bereich der Rezeptionsgeschichte lässt sich an den zwischen 1929 und 1937 in europäischen Städten sowie in Johannesburg und New York organisierten Ausstellungen mit den Beständen des Felsbild-Archivs festmachen, vgl. Kuba 2008 sowie Julia Voss, Leo Frobenius. Der Moderne wider Willen, in: FAZ, 25.11.2011. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/leo-frobenius-der-moderne-wider-willen-11541082.html [19.03.2015].
[23] Hoffmann 2008, S. 9.
[24] Hoffmann 2008, S. 9.
[25] Hoffmann 2008, S. 9.
[26] Von Seiten des Instituts für Mediengestaltung der Bauhaus Universität Weimar: Alexander Kulik, Bernd Fröhlich, Felix Trojan, Marcel Karnapke. URL: http://www.pitoti.org/index.php/en/ [31.03.2015].
[27] Chippindale/Baker 2012, S. 52 – 53.
[28] Hoffmann 2008, S. 14.

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Ausgabe #7

Editorial

David Misteli
Gegen den Zerfall arbeiten
Taktile Realität in einem Spätwerk Vincent van Goghs

Katharina Brandl
Vertikale Horizontale
Zur impliziten Horizontalität in Alois Riegls Grundbegrifflichkeiten

Clare Kenny
Dash and Dot

Birke Gorm
Of being content or container

Gawan Fagard
Die Fliege im Bernstein
Alexander Kluge über Rudolf Steiner und Andrei Tarkowski, Teil II

Clare Kenny
White Noise

Petra Schmid
I Documenti d’Amore von Francesco da Barberino
Trecenteske Bildfindungen zwischen politischen und ästhetischen Tugenddiskursen

Clara Wörsdörfer
Präsenz der Toten und Prozessualität der Zeichnung
Menzels Zeichnungen aus der Berliner Garnisongruft

Miriam Drewes
Erzählen, zeigen
Rezension: Nina Tecklenburg, Performing Stories. Erzählen und Narration in Theater und Performance

Die vollständige Ausgabe von all-over #7 gibt es hier als PDF zum Download.

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