Editorial

1948 hatte Clement Greenberg – als Begriffserfinder gewissermaßen der Namensgeber unseres Magazins – das All-over-Bild als “ein dicht bedecktes, gleichmäßig und intensiv texturiertes Farbrechteck” beschrieben.[1] Bei näherer Betrachtung erscheint jede Malerei zumindest auch als texturierte Oberfläche, die jedoch oft hinter dem Bildsujet verschwindet. Droht die Farbtextur die Integrität des Bildes aufzulösen – wie David Misteli in seinem Beitrag über Vincent van Goghs letzte Bilder ausführt –, nimmt die taktile Struktur eine neue Rolle gegenüber den vermeintlich bloß visuellen Qualitäten des Bildes ein. Das Taktile behauptet sich gegen das traditionell höher gestellte Optische als eigene sinnbildende Instanz und verunmöglicht die Vorstellung einer reinen, beruhigten und distanzierten Visualität.

Dies scheint auch das plötzliche Auftauchen einer Gämse in jenem Alpenpanorama zu bestätigen, das Alois Riegl als Metapher für seinen Begriff der Fernsicht einsetzt. Katharina Brandl argumentiert mit George Bataille, dass auch Riegls Konzept des Optischen an die Dimension des Körperlichen, des Horizontalen und des Taktilen gebunden bleibt.

Wie die Form – ob widerständige, texturierte Oberfläche oder durchsichtiger Behälter – auch selbst zum Inhalt werden kann, zeigt sich im Beitrag von Birke Gorm: Ihre Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis von Content und Container in Ausstellungstexten resultiert in einem Format, das selbst zwischen lesbarem Text und visueller Gestalt oszilliert.

Die Lesbarkeit des Bildes tritt auch in Adolf Menzels Zeichnungen aus der Berliner Garnisongruft in Konflikt mit der grafischen Textur, wie Clara Wörsdörfer darlegt. Gegen die Konventionen der realistischen Darstellung führt Menzel eine neue Spielart des Realismus zwischen gestischem Strich und präziser Oberflächenstudie in die Zeichnung ein.

Der Aktualisierung ikonografischer Konventionen durch zeitgenössische Lebensumstände widmet sich Petra Schmid. Anhand der Tugendallegorien Francesco da Barberinos in seinen Documenti d’Amore expliziert sie die Veränderung tradierter Darstellungsformen durch lebensweltliche Einflüsse.

Die offene Form unseres Magazins bringt nicht nur diese wie gewohnt sehr breit gefächerten Themen zusammen, sondern integriert auch verschiedene Beitragsformate. Im zweiten Teil des Interviews von Gawan Fagard mit Alexander Kluge setzen die beiden ihre in Ausgabe #6 begonnene Reise zu jenen ungewöhnlichen Orten fort, denen Kluge im Rahmen eines geplanten gemeinsamen Filmprojekts mit Andrei Tarkovski begegnete. Auf die Spuren der Narratologie in den darstellenden Künsten begibt sich die Rezension von Miriam Drewes zu Nina Tecklenburgs neu erschienenem Buch Performing Stories.
In ihrer zweiteiligen Bildstrecke setzt Clare Kenny ihre Hinterfragung von fotografischen und materiellen Oberflächen fort. Sowohl Dash and a Dot als auch White Noise sind installative Arbeiten, die auf Fotografien beruhen, und für all-over nun in einen vermeintlich “flachen” Zustand überführt werden.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Barbara Reisinger


[1] Clement Greenberg, Die Essenz der Moderne, Amsterdam/Dresden 1997, S. 150.

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