Die Fliege im Bernstein

Alexander Kluge über Rudolf Steiner und Andrei Tarkowski

Teil II[1]

Rudolf Steiner Andrei Tarkovski

Gawan Fagard: Man spürt auch in Ihrem Text Der Brunnen der Götter, dass ein gewisses Missverständnis zwischen Ihnen und Tarkowski im Spiel war.

Alexander Kluge: Aber das hätten wir versucht zu verfilmen. Dieses Missverständnis hätten wir beide nicht unterdrückt. Darüber hatten wir uns in Berlin verständigt. Das ist so ein Dämmerstundengespräch. Das fängt, sagen wir mal so um vier Uhr an, und geht dann so bis neun Uhr etwa, und langsam wird es dunkel. Und Tarkowski hat kein Licht machen lassen. Man kann ja nicht sagen: Schalten Sie mal das Licht ein, sondern das geht wie am Hofe. Wie am Hofe eines Weisen. Und die Frau wartet, bis er sagt: Wir zünden irgendeine Kerze oder Glühbirne an. Hat er aber nicht gemacht. Also es wurde dunkler. Was dem Gedanken gut bekommt. Und wir haben uns über diesen einen Punkt gut verständigt. Keiner von beiden hätte sich verstellt. Natürlich hatten wir verschiedene Einstellungen. Das fing damit an, dass ich weniger reisen wollte als er. Tarkowski wollte ja sofort nach Tibet. Ich dachte, dass wir wenigstens die Passfrage vorher klären sollten.

Gawan Fagard: Sie haben auch erwähnt, dass er dort wie ein Wagner aufgetreten wäre. Sie haben sich gefragt, ob Tarkowskis „Genie ökonomischen Exzess brauche“, um sich abzuheben vom Durchschnitt.

Alexander Kluge: Ja, ja. Zu diesem ökonomischen Exzess wäre es auch in diesem Film gekommen.

Gawan Fagard: Genau. Und dann gibt es auch das fiktionale Element, das Sie eingebracht haben: die Figur des Landvermessers.

Alexander Kluge: Das hat übrigens nichts mit Kafka zu tun, sondern mit Heiner Müller. Heiner Müller bezeichnet sich selbst als Landvermesser.[2] Und ich muss Ihnen sagen, das Landvermessen ist eigentlich die Bruchstelle, wo die Natur auf eine sehr gütige Weise domestiziert wird. Auch Alexander von Humboldt, der den Ural bereist, ist ein Landvermesser.

Gawan Fagard: …und ist auch der Prototyp dieses Charakters.

Alexander Kluge: Der Prototyp, der Charakter. Aber auch Aristoteles habe ich im Auge gehabt, denn hinter den Heeren Alexanders des Großen zogen Landvermesser des Aristoteles und die hatten ein Gerät, mit dem man die Entfernung messen konnte. Am Abend konnte man dann ablesen, wie viele Parasangen gelaufen wurden. So konnten sie Meter für Meter, durch Füße und dieses Gerät, den Weg bis zum Indus markieren. Das ist Landvermessung.

Gawan Fagard: Was passiert dann genau in einer solchen Landvermessung?

Alexander Kluge: Man hat zunächst eine Ahnung oder eine physische Vorstellung von dem Land, aber man hat es noch nicht besetzt.

Gawan Fagard: Man tendiert aber dazu, es sich anzueignen.

Alexander Kluge: Das muss nicht so sein. Die Messung wird zunächst erst mal an die Akademie übergeben, das heißt an die Wissenschaft. Sie haben jetzt nicht mehr eine beliebige, selbst ausgedachte Vorstellung von der Welt. Dem hätte Tarkowski nicht widersprochen. Er hätte wohl lediglich eingewandt, dass man mit dieser Messung des Aristoteles keine Geisteswesen vermessen kann.

Andrei Tarkowski, Geologische Karte des Kurejka-Flusses in Sibirien, 1953 – 1954.

Andrei Tarkowski, Geologische Karte des Kurejka-Flusses in Sibirien, 1953 – 1954.

Gawan Fagard: Genau. Und da ist die Schnittstelle zum Problem Tarkowskis, dass er sehr problematisch mit der Technologie umgegangen ist. Die Technologie ist zwar Voraussetzung für das Kino, aber gleichzeitig hat nach Tarkowski mit der Renaissance die Entfremdung der Spiritualität durch die technologische Perspektive ihren Ursprung. Das impliziert, dass wir überhaupt keinen unvermittelten Kontakt mit der Welt haben können. Dass wir also Messgeräte immer brauchen…

Alexander Kluge: Das Instrument stellt sich zwischen den Menschen und die Dinge. Was ich ja nicht besonders fürchte, weil in dem Instrument die Lebenszeit von Menschen enthalten ist. Alle Dinge sind verzauberte Menschen. Denn diese Dinge haben immer Menschen gemacht. Und insofern würde ich leicht glauben, dass sich ein direkter Kontakt auch wiederherstellt; dass sich die Art, wie ein Arbeiter eine Schraube befestigt – sitzt, passt, wackelt und hat Luft – zwischen einem deutschen Arbeiter und einem chinesischen ohne Sprachkenntnisse vermitteln lässt. Trotzdem ist die Schraube technisch.

Gawan Fagard: Das ist auch die Kunst.

Alexander Kluge: Ja, das ist wirklich Kunst. Beim Arzt ist es noch mehr Kunst. Der arbeitet nicht mit einer Schraube sondern mit einem Körper. Und von daher hat die Renaissance uns eigentlich kein Leid getan. Also dieses bisschen, was man mit einem Instrument machen kann (zum Beispiel mit einer Kanone schießen) ist sehr endlich. Napoleons Kanonen kommen 1812 nach Moskau und schmelzen entweder in einem Brand oder wurden stehen gelassen.

Gawan Fagard: Die Kanone ist ein Instrument, aber als Waffe zeigt sie ihre gefährliche Seite.

Alexander Kluge: Ja, aber in diesem Sinne sind auch Hammer und Sichel gefährlich. Für die Dinge, worauf sie einhauen, ist der Hammer vielleicht kein Griff, kein Feininstrument. Die Fingerspitze ist Feinsteuerung. Wenn die Hebamme ein Kind in einem Mutterleib umdreht, das in der falschen Lage da sitzt, ist das auch Feinsteuerung. Ich glaube, dass ich mich mit Tarkowski da sehr schnell verständigt hätte.

Es gibt aber einen grundsätzlichen Temperamentsunterschied zwischen uns beiden. Das war in diesem Gespräch sehr schnell zu bemerken. Er hätte auf der einen Seite schärfer zugepackt. Er nimmt stärker Besitz von etwas, gleichzeitig ist er schneller verzweifelt und negativ eingestellt und sagt, die Welt geht herunter. Sein Pessimismus ist ausgeprägt.

Gawan Fagard: Sie haben den Gott Kairos ins Spiel gebracht, ein Gott des glücklichen Augenblicks, der mitmachen muss, um solche Filme zu gestalten.

Alexander Kluge: Das ist der Name meiner Firma, Kairos. Aber das ist ein sehr eigenartiger Gott, eigentlich sollten wir sagen ein Glücksgott, oder Gott der Zeit. Aber beide Ausdrücke passen nicht zu ihm, weil er ist nicht ein Gott der Zeit, so wie Kronos ein Gott der Zeit ist. Es sind einfach ganz verschiedene Wirklichkeiten von Zeit. Der Kairos kommt nur in Form von Unterströmungen vor. Sie können ihn nicht fassen.

Gawan Fagard: Anscheinend hat er dann auch nicht mitgewirkt – Tarkowski ist zu früh verstorben.

Alexander Kluge: Er war krank, ja. Er hat mir noch einmal eine Nachricht geschickt, dass wir demnächst anfangen sollten. Und ich habe auch tatsächlich auf Schloss Elmau mal gesagt, dass wir die Räume bräuchten. Tarkowski hatte vor, dass wir nach Süditalien fahren. Das war der letzte große Plan. Für eine Reise in den Hindukusch hätten wir russische Pässe und Visa gebraucht. Wo sollten wir einreisen? Welche Schutzimpfung macht man? Da bin ich von meiner Mutter her zu praktisch geprägt, um zu sagen, das machen wir jetzt so wie Werner Herzog. Abgesehen davon, dass mir Tarkowski gar nicht robust genug schien für das Reisen.

Gawan Fagard: Also für Sie ist die imaginäre Geographie irgendwie wichtiger als die konkrete. Die Reise führt sozusagen ins „innere Atlantis“[3].

Alexander Kluge: Ja. Also, entweder haben wir das in uns und es gibt alles, oder wir werden es nicht finden.

Gawan Fagard: Aber Tarkowski braucht schon das Wirkliche.

Alexander Kluge: Ja, und das achte ich auch. Wir hätten zuerst mit den Gegenden in der Nähe des Vesuvs, unterhalb der Lava und oberhalb der Siedlung, anfangen können. Es ist tatsächlich verbürgt, dass dort bei einem Brunnen ein Zugang zur Unterwelt sein müsste. Da gibt es verlässliche Quellen und Sie dürfen ja nicht denken, dass ich das für etwas Fremdes halte, was man esoterisch nennt. Sondern das ist etwas Wirkliches. Das sind sozusagen Reste eines atlantischen Leibes, den wir noch in uns tragen.

Joseph Mallord William Turner, The Bay of Baiae with Apollo and the Sybill at the Entrance of the Underworld, 1823.

Joseph Mallord William Turner, The Bay of Baiae with Apollo and the Sybill at the Entrance of the Underworld, 1823.

Gawan Fagard: An diesem Ort gäbe es dann einen Untergrund, vielleicht sogar eine Unterwelt, und doch gibt es auch Berge. Die Berge weisen nach Steiner auf ein Geheimnis hin.[4]

Alexander Kluge: Ja, die Berge bewegen sich und sie leben. Darüber haben wir auch gesprochen – dass der Pazifik wahrscheinlich ein Lebewesen ist, dass auch er auf andere Gestirne reagiert und sich bewegt. Aber die Berge des Himalaya bewegen sich auch – nur sehr viel langsamer.

So ein Bild fesselt mich sehr, dass sozusagen ein Gesandter, ein Botschafter des Präsidenten Obama, Richard Holbrooke, in Afghanistan umherfährt und sich unter ihm drei große Bewegungen vollziehen. Diese Bewegungen habe ich mit Tarkowski besprochen. Die Belutschistanplatte kommt vom Süden und drängt seit zehntausend Jahren sehr energisch gegen die Pamirplatte und dann wiederum gegen die Hindukuschplatte. Und diese drei Bewegungen pressen und schaffen eigentlich in der Gegend von Afghanistan ein permanentes, leichtes Erdbeben. Und oben haben Sie jetzt unsere kleinen krisseligen Menschen, und die machen Bürgerkrieg – und darüber existiert eine Superstruktur der amerikanischen Versuche, mit so etwas umzugehen. Und darüber im Orbit nun ein Späher und unten wieder Drohnen. Das sind sehr eigenartige, gegenläufige Wirklichkeiten. Die kann man als Chor beschreiben. Eine Oper des 21. Jahrhunderts müsste so was zeigen und zum Summen bringen.

Ich glaube, dass Tarkowski mir für so etwas zehn Minuten zugestanden hätte, wenn ich wiederum ganz tolerant gewesen wäre für das, was er machen wollte, einschließlich dem Reisen.

Er erwartete von mir wohl, dass ich das Geld besorge. Das hätte ich dann auch gemacht. Sodass wir, so ähnlich wie eine Sibirische Eisenbahn, die Arbeit in Wegstrecken aufgeteilt hätten, das heißt zweitausend Meter macht Firma A, zweitausend Meter macht eine französische Firma, dann kommt eine britische Firma für eine Brücke; und so wird diese Riesenstrecke verteilt in Abschnitte, die hinterher zueinander passen, gebaut. So ähnlich kann man Filme machen und so etwas hätten wir vorgehabt. Das wären nicht neunzig Minuten geworden, sondern deutlich mehr.

Gawan Fagard: Anders als Tarkowskis eigenes Kino wäre dieser Film dann nicht ästhetisch kohärent gewesen.

Alexander Kluge: Ich bin ganz sicher, dass er seine Stücke kohärent gemacht hätte, aber ich hätte ihn allerdings versucht aufzuwiegeln, dabei gewissermaßen nicht wagnerianisch zu sein (oder zu studieren wie Wagner als Kammermusiker eigentlich arbeitet). Das heißt, diese Vielfalt ist eine andere Seite vom Monumentalbau des Kinos: der Mut zum Fragment. Der Mut, sich etwas vorstellen zu können, wie es aussähe in fünftausend Jahren. Dann wird es ja eine Ruine. Ich finde, das gehört zum Film dazu – also lieber nicht pessimistisch über die Welt denken, aber dennoch zugestehen, dass die Filmgeschichte einmal vorüber und vertan ist und nur noch in Filmmuseen und Festivals eine Zeitlang vorkommt, festen Glaubens, dass sie woanders wiederkehrt – so zum Beispiel auf YouTube.

Gawan Fagard: Und dazu hätten Sie Tarkowski sozusagen herausgefordert?

Alexander Kluge: Das wäre die Verführungskunst von meiner Seite gewesen.

Gawan Fagard: Das hätte er aber nicht in seiner Natur gehabt.

Alexander Kluge: Nein, nein. Aber er kann es; Fragmente eines Genies sind manchmal das Schönste was es gibt. Bei Leonardo sind ja auch die Skizzen das Beste und nicht die fertigen Gemälde.

Gawan Fagard: Das hätte Tarkowski auch geschätzt.

Alexander Kluge: Nehmen wir Adorno und dessen Kunstverstand. Er sammelt ja wie ein Brennglas das, was Schönberg kann, was Webern kann, was Stockhausen weiß und was die Musik weiß. Nun ist Tarkowski unendlich musikalisch, aber er hat nur eine musikalische Vorstellung bis Mussorgski. Er ist musikalisch nicht modern. Die Moderne ist aber die Emanzipation der Form und das hätte ihm gefallen.

Tarkowski liest den Film von der Musik ab. Der Film kommt nicht von der Fotografie. Der kommt als Bewegbild aus der Musik. Tarkowski ist demnach ein bisschen akademisch gebildet und hat auch eine akademische Vorstellung von Film: Er muss neunzig Minuten lang sein, er muss auf einem Festival spielbar sein, es muss eine Eintrittskasse geben und so weiter. Das ist ja alles nicht gegeben – der Film ist ja absolut.

Gawan Fagard: Er hat dann aber 1985 in Schweden Das Opfer gedreht.

Alexander Kluge: Genau. Es wäre mein großer Wunsch gewesen, ihn noch ein ganz kleines bisschen für diese offene Form zu begeistern. Seine Krankheit hätte an und für sich dem sogar zugearbeitet. Denn wenn man müder wird, muss man Fragmente machen. Das kann sehr schöne, große Kunstwerke hervorbringen. Die Fliege im Bernstein fängt dort an zu leben.

[Schweigen]

Ich vermisse ihn, das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Wir haben nicht so ganz viele wie Tarkowski.

Gawan Fagard: Wie änderte sich dann nach Tarkowskis Tod das Nachleben seines Werkes?

Alexander Kluge: Die ihn mögen, kennen ihn. Mit Fassbinder hatte ich eine Verabredung getroffen, als er noch lebte, 1971. Wenn ich früher sterbe, macht er ein paar Filme – Fakes von mir. Und wenn er früher stirbt, mache ich dasselbe bei ihm. Und das mache ich auch. Das könnte ich bei Tarkowski nicht. Bei Tarkowski hätte ich ja eine heilige Achtung vor dem was er tut. Insofern ist er sozusagen bis zum Bauch ein Filmemacher und darüber hinaus ist er noch was anderes. Es gibt am Schwarzen Meer in Kolchis diese Verteidiger Medeas. Das sind gepanzerte Wesen, keine Menschen, die sind bis zum Bauch in der Erde und darüber hinaus Verteidiger des Landes. So kommt mir Tarkowski vor. Er ist amphibisch.

Gawan Fagard: Was wäre er gewesen, wenn es kein Kino gegeben hätte?

Alexander Kluge: Dann hätte er Bilder gemalt. Für Musik ist er zu ungeduldig.

Gawan Fagard: Zwischen der Persönlichkeit Tarkowskis und dem Bild der Ruine gibt es eine Verbindung, die, wie Sie sagten, in einer pessimistischen oder melancholischen Sphäre gehalten wird. Tarkowski war sehr von den Ruinen fasziniert – das verdeutlichen nicht zuletzt die Polaroids. Im Brunnen der Götter wird die Ruine auch als Sinnbild abgebildet.

Alexander Kluge: Tarkowski hatte ja davon gesprochen, dass ihn das interessiert. Wenn man in Ruinen sucht und dort in einer sehr tiefen Schicht den Brunnen findet, dann kommt man dort in eine andere Welt.

Friedrich Gilly, Tempel der Einsamkeit, 1799 – 1800.

Friedrich Gilly, Tempel der Einsamkeit, 1799 – 1800.

Gawan Fagard: Die Ruine ist sozusagen der Weg.

Alexander Kluge: Der Weg. Es ist also ein Zeitbild, das er da im Auge hat. Das heißt, Sie können nicht von einer Gegenwart direkt in eine andere Welt. Wir leben nicht Wand an Wand mit der Parallelwelt, sondern man muss Glück haben und gewissermaßen über eine andere Zeit eindringen – und andere Zeit heißt Tiefe bei ihm.

Gawan Fagard: Das Bild der Ruine erinnert an eine Zeit, die nicht zu behalten war, aber kündigt auch eine neue Zeit an, die ein Gegenbild produziert.

Alexander Kluge: Das ist das eine, andererseits gibt es alle Zeiten, auch in unserer Gegenwart. Die sehen wir bloß nicht. Wir illusionieren, dass es den Moment gibt. Dieser besteht aber aus allen Elementen anderer Zeiten, übrigens auch der Zukunft. Das heißt, das Bild von Benjamin ist nicht nur, dass aus der Vergangenheit ein Sturm weht, sondern auch aus der Zukunft weht dieser Sturm. Was immer dieser Sturm anrichtet, er ist ja kein Wetter. In der Generosität der Zeiten existiert etwas Vergangenes und Unerlöstes: Da liegen die Eingänge. Es ist nicht gesagt, dass diese Eingänge nicht auch in der Jetztzeit gefunden werden könnten; dass ich bei Neapel also, in den Brunnen hinabsteigend, einfach durch eine Tür gehe oder durch ein Glas gehe oder durch einen Spiegel gehe – und so in die Parallelwelt käme.

Gawan Fagard: Anlässlich Ihres Gesprächs mit Tarkowski hatten Sie Bilder der Kunstgeschichte gewählt, von Jean-Jacques Lequeu (einem ganz sonderbaren, klassischen Phantasie-Architekten) und dann von Friedrich Gilly, einem romantischen Vorgänger Schinkels.

Jean-Jacques Lequeu, Le Phare, 1777 – 1814.

Jean-Jacques Lequeu, Le Phare, 1777 – 1814.

Alexander Kluge: Die habe ich gewählt, weil Lequeu zum Beispiel einen Leuchtturm entworfen hat, der den Wanderer in der Wüste retten kann und als Leuchtfeuer dient. Stellen Sie sich ein Leuchtfeuer in der Wüste vor. Das war in Paris produziert und sollte in der Wüste aufgestellt werden. Ein hoffnungsloses Unternehmen, denn es gibt zu viel Wüste und zu viel Möglichkeiten sich zu verirren, sodass die Chance, dass irgendeiner auf dieses Unikat da stößt, ganz gering ist. Trotzdem – die Idee hat mir so gefallen.

Gawan Fagard: Das Potenzial der Architektur.

Alexander Kluge: Das Potenzial des Rettens. Das Potenzial, dass man Orientierung selbst am unmöglichen Ort hat – in der Erwartung, dass vielleicht noch einer gerettet wird. Vielleicht ist es aber auch nur ein Denkmal.

Gawan Fagard: Und in der Zeichnung gibt es eine Tür, ein Tor der Eremitage als Zugang zum Garten. Also eine Öffnung sozusagen in den geschlossenen Garten, den hortus conclusus, über den wir zuvor sprachen.

Jean-Jacques Lequeu, Porte de l’eremitage, 1777 – 1814.

Jean-Jacques Lequeu, Porte de l’eremitage, 1777 – 1814.

Alexander Kluge: Ja. Und jetzt kann ein Liebespaar im Bett liegen und die Laken sind richtig verschwitzt. Da kann die Tür auch verschwinden. Wie etwas aussieht, was zu einem Garten führt, das würde Tarkowski niemals vorschreiben.

Gawan Fagard: Er hätte aber Bilder gehabt, so wie das Einhorn oder die durch Lysimachus gepflanzten Baumalleen.

Alexander Kluge: Diese Bilder wären nicht Gegenstand von Kompromissen geworden, sondern Tarkowski hätte sie auf das Intensivste eingebracht. Und ich hätte meine Bilder und auch meine Nicht-Bilder. Ich würde auf Bilder auch oft verzichten, also sie bekämpfen.

Gawan Fagard: Mit Wörtern?

Alexander Kluge: Wie auch immer. Sie können mit Pausen kämpfen, Sie können mit Musik ein Bild ersetzen und Sie können ein Bild durch ein Bild vernichten. Sie können also Ikonoklasmus betreiben. Und ich bin starker Ikonoklast vom Temperament her.

Gawan Fagard: Das steht auch Tarkowski gegenüber.

Alexander Kluge: Tarkowski ist ein Ikonodul. In Byzanz waren diese beiden Parteien tätig. Ich bin nicht gegen Bürgerkriege, das heißt, ich bin dafür, beide umso intensiver Bilder erzeugen zu lassen, weil sie letztlich doch nicht bloß im Film stecken, sondern in den Köpfen der Menschen. Das heißt, wir sind beide Archäologen, die Bilder ausgraben – Bilder und Nicht-Bilder.

Gawan Fagard: Sie würden sich eher für die Nicht-Bilder interessieren?

Alexander Kluge: Das können Sie nicht so generell sagen, man kann die Nicht-Bilder nicht herstellen, ohne Bilder zu haben. Aber Bilder erlauben, dass man durch sie hindurchblickt: Epiphanie. Wenn wir über das Licht nachdenken, dann können Sie nicht zweifelsfrei sagen, dass es sich um ein Bild handelt.

Gawan Fagard: Genau. Das Licht wäre ein Ursprung des Bildes.

Alexander Kluge: Der Ursprung des Bildes als Weg aller Bilder und gleichzeitig sieht es so aus wie durchsichtig, diaphan. Wenn Sie einen Sonnenstrahl sehen, dann ist er sehr hell, sehr klar und dem, was er abbildet, überlegen. Das würde Tarkowski übrigens keine Sekunde bezweifeln.

Wir würden wie zwei Rabbis dasitzen. Voraussetzung ist, dass jeder sein Thema hat. Es hat keinen Sinn, Kompromisse zu machen. Wenn man ganze Sequenzen montiert ist es eine stärkere Form als wenn man nur mit Einstellungen montiert. Das ist eigentlich die Art von Film, an die ich innerlich glaube. So wie Deutschland im Herbst: Dadurch, dass mehrere Regisseure an etwas arbeiten, wird der Film reicher als ein Film, der von einem Autor gemacht ist. Bei Tarkowski ging es allerdings nur mit zwei Regisseuren und das wäre eine sehr intime Tätigkeit mit ihm gewesen: Ich kann meine Ich-Schranke und er kann seine nur senken, wenn man alleine ist…

Ich bin schon traurig, dass er tot ist.

[Stille]

Gawan Fagard: Wäre für Sie zusammenfassend also die Gegenüberstellung des Ikonoklasten Kluge und des Ikonodulen Tarkowski der Kern des gemeinsamen Projekts gewesen?

Alexander Kluge: Ja absolut, und wir hätten beide Einstellungen nacheinander gemacht. Selbstverständlich wäre das beides auf Zelluloid gebannt gewesen. Und es ist ja nicht so, dass ich Schwarzfilm sende. Sie können sogar behaupten, dass es für den Zuschauer sogar einen Genuss enthält, die Abwechslung zu sehen.

So was kann sich übrigens drehen. Tarkowski ist zwar sehr willensstark und idiosynkratisch, aber auch unglaublich neugierig und er ist auch ein Schauspieler seiner besten Ideen. Sie können ja Solaris nicht wirklich gleichsetzen mit den anderen Filmen. Das bewegt sich ganz eigen. Und warum sollte er sich nicht verführen lassen?

Umgekehrt ist es schwerer, weil ich eine bestimmte Kraft, die er hat, gar nicht aufbringen kann. Er ist Barbar, also im positiven Sinne.

Gawan Fagard: Aber ein sehr kultivierter Barbar…

Alexander Kluge: Ja. Er ist Thoras, und ich bin sozusagen der Bruder von Iphigenie.


[1] Der erste Teil des vorliegenden Gesprächs erschien in der Ausgabe Nummer 6 von all-over im Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1704

[2] Alexander Kluge verweist hier auf seine Gespräche mit Heiner Müller, vgl. Alexander Kluge und Heiner Müller, Ich bin ein Landvermesser. Gespräche, neue Folge. Hamburg 1996. Es ist wahrscheinlich, dass Heiner Müller sich seinerseits auf die Figur des Landvermessers in Kafkas Das Schloss bezieht.

[3] Die Formulierung eines „inneren Atlantis“ bezieht sich auf einen Aufsatz des deutschen Autors und Filmemachers Rüdiger Sünner, der auf sehr aufschlussreiche Weise das gemeinsame Interesse von Tarkowski und Kluge an Steiner gedeutet hat. Vgl. Rüdiger Sünner, Das innere Atlantis. Zum Akasha-Projekt von Alexander Kluge und Andrej Tarkowski, in: Info3, Juli/August 2008, S. 45 – 49.

[4] Vgl. „Der Berg als solcher bedeutet immer, wenn es sich um eine okkulte Sache handelt, dass diejenigen, die den Berg hinaufgeführt werden, zu gewissen Geheimnissen des Daseins hingeführt werden.” Rudolf Steiner, Das Markus-Evangelium, GA 139, 4. Aufl. 2010, 8. Vortrag, Basel, 22. September 1912, S. 149.

Gawan Fagard studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Vrije Universiteit Brüssel und der Freien Universität Berlin. Derzeit promoviert er an der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema Sakralität und Film, mit einem Schwerpunkt auf Andrei Tarkowskis Werk. Er arbeitet freiberuflich als Filmkurator und Kritiker.
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