Diagnostische Unterbrechungen

Rezension zu All-American-Gothic Girl von Johanna Braun

Die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Johanna Braun widmet ihr Buch der Gerechtigkeit und stellt ihm einen Warnhinweis voran: Dort heißt es emphatisch, „dem Mädchen“ wurde „das Recht auf eine eigene Stimme zugesprochen“ (11) – im Doppelsinn von voice und vote1. Vorausgeschickte Rufe stehen anstelle der konventionellen Vorbemerkung, Befragungen an der Türschwelle markieren die Rahmung des Forschungsinteresses und den methodischen Zugang. In drei Hauptkapiteln wird ein Triptychon zwischen literarischen, filmischen und seriellen Gothic Girls etabliert. Schließlich erfolgt in Home Sweet Home das Fazit, Fußnoten sind als Nachgestellte Einflüsterungen und die Bibliographie als Gespenstische Erbschaften angeführt.

In diesem gewagten Re-naming wissenschaftlicher Parameter erschließt sich die Vorgehensweise der „Heimsuchung als wissenschaftliche wie künstlerische Forschungsmethode“ (17), die Braun gleich zu Beginn ankündigt. Ihre Heimsuchung ist eine, die vermittelt: „das Mädchen [schlüpft] in die Rolle der Kommunikatorin des Justizsystems“ (18) und seiner Lücken. Als im Gesetzestext nicht Repräsentierte erzählt das geisterhafte Mädchen von der Justiz. Das „Close Reading des Beweismaterials“ (17) lässt eine Rhetorik der Dringlichkeit anklingen. Heikle Angelegenheiten, die unsere Aufmerksamkeit einfordern, werden über „performative Abtastungsprozeduren“ (21) untersucht. Auffällig bei der detaillierten Analyse ist der Sprachduktus der freien Nacherzählung einer großen Dichte an Romanen, Filmen und Serien. Dies liegt an der hybriden narrativen Rahmung der Mädchenfigur. Eingebettet in einen der psychoanalytischen Medientheorie entlehnten Begriffshorizont erzählt Braun die heimgesuchte polyphone Migrationsgeschichte der Vereinigten Staaten, indem sie eine historische Genealogie des All-American-Gothic Girl vollzieht. Denn die einst aus Europa kommenden Gothic Girls scheinen besonders explizit Verdrängungen und Enteignungen zu bezeugen. Die daraus folgende Traditionsirritation äußert sich narrativ als Traditionserfindung baulicher, rechtlicher und medialer Architekturen.

Im Modus einer affirmativen Kritik bespricht die Autorin zunächst transatlantische Wechselwirkungen der Gothic,2 die sie in seiner kristallartigen Ausformung entlang von Genre (26), Gender (28), Mode (30) und Law (33) auffächert. Für Braun wird die Idee des All-American Girl (stereotypes Mädchen mit Vorbildfunktion) speziell in „politisch-explosiven Momenten“ aktiviert, „in welchen das nationale Rechtssystem infrage gestellt wird“ (19). Es ist ein besonderer Kniff, in dieses ein Gothic einzuführen; denn wesentlich zur Imagination des All-American Girl trug, ihrer Einschätzung nach, das Gothic-Genre bei, das politisch wie ästhetisch deutlich mit rechtsausübenden Gebäuden verknüpft ist (19). Anhand von Romanen und theoretischen Abhandlungen zeichnet Braun sehr schön die wandelnden Implikationen des „Gotischen“ als englischer „Erbschaftsmythos“ aus der Zeit des Bürgerkriegs in den 1640er Jahren nach, als sich das republikanische Rechtssystem bildete (24). Weiters verweist sie darauf, dass die Gotik ab 1750 in Literatur und Architektur ein politisch aufgeladenes Revival erfuhr (24–25). Sie hebt damit hervor, wie das Haus zum Operator eines heimgesuchten Rechtssystems wurde –nicht bloß als szenischer Ort gotischer (Familien-)Dramen, sondern in seiner Architektur selbst als ein mitstreitender Akteur in juristischer Krisen personifiziert (25).

Ihrer Figur zugeneigt entwirft Braun das erstarkende Selbstbewusstsein des All-American-Gothic Girl entlang historischer Eckpunkte der amerikanischen Gesetzgebung. Bevor jedoch Morde an Mädchen und Frauen in den 1980er und 1990er Jahren „eine vehemente Revision des US-amerikanischen Justizsystems“ (124) brachten, bestimmten düstere juristische Realitäten jene der Mädchen. Zentral in der Analyse von Transferprozessen durch vertragliche Regelungen der Familienstruktur ist das Common Law (richterrechtliches englisches Gewohnheitsrecht), das ein breites Auslegungsspektrum zuließ: Während das Mädchen durch Heirat zur feme covert und dadurch entrechtet wurde, unterlag die feme sole dem Dilemma, gar nicht im Gesetzestext vertreten zu sein (35–36). An eben jener rechtlichen Leerstelle macht Braun ihre Mädchenfigur „als eine Ausformung politischer Haltung“ (20) fest. Dieses nicht-vertretene Mädchen nutzt ihre nomadische Position, um als „free agent of justice“ (36) zu agieren und dem Transfer von Besitz im Moment des Eheschlusses zu entgehen. In vielen Erzählungen sind Gothic Girls „unverheiratet, oft kinder-, ja sogar mutterlos, sind noch keinerlei rechtliche Verträge eingegangen und somit eindeutig als feme sole auszumachen“ (39). Hier klingt eine radikal romantische Vorstellung an, die Braun jedoch bricht, indem sie anmerkt, „dass das weiße Mädchen der bürgerlichen Mittelschicht in ihrem Auftreten bis heute vom US-amerikanischen Multikulturalismus nicht viel mitbekommen zu haben scheint“ (20). Sie liest dies als ein Symptom des Horrors der Kolonialisierung (ebd.). In Form eines Exkurses zur „Südstaaten-Gothic“ (60-66) zieht die Autorin einen Vektor zwischen der Enteignung von PlantagenarbeiterInnen, Erbschaftsproblematiken und einer Gegenhegemonie, die sie als „haunt back“ (62) fasst. Diese Ausführungen sowie eine mögliche Nähe von (Black) Gothic und Slave Narratives, im Rahmen der Anti-Sklavereibewegung um die 1830er Jahre, regen interessante Gedanken an, bleiben aber leider nur angedeutet.

Beharrlich fragt die Autorin nach der Gültigkeit bestimmter Motive rund um das Gothic Girl und ihrer Transformation. So erkennt sie beispielsweise „zwei Erzählstränge“ aus dem 17. Jahrhundert, die bis in die Gegenwart wirken: „das besessene Mädchen, das im Namen der Justiz brüllt und ganze Ortschaften heimsucht, und das entführte Mädchen, das durch eine brutale Heimsuchung noch brutaler eine Restitution einfordert“ (47). Weitere geschichtliche Stationen werden angeführt und im Kontext des Mädchens gelesen: Mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 stabilisierten sich sowohl die nationale Identität, als auch baulich die bis dato charakteristische fragile Hütte – Cabin in the Woods – in der die ersten europäischen SiedlerInnen gewohnt hatten (56). Insofern äußere sich die Individualisierung des Rechtssystems im Status des – scheinbar autonomen – US-amerikanischen suburbanen Einfamilienhauses. Als „prototypischer US-amerikanischer Schauplatz juristischer Dramen“ (ebd.) manifestiert sich die Emanzipation der einstigen Kolonie vom gotischen englischen „Muttergenre“ architektonisch: von der aristokratischen Schlossruine hin zum viktorianischen Einfamilienhaus in den nördlichen Bundesstaaten sowie zum Familienanwesen auf den von Rassismus geplagten Südplantagen (ebd.). Auffallend ist hierbei Brauns psychoanalytische Charakterisierung dieser Häusertypen als „disfunktional“ (57), heimgesucht durch den gewaltvollen Umgang mit indigenen Bevölkerungsschichten und animiert durch „mediale Körper“ (55) der Mädchen und Frauen. Eindrucksvoll zieht Braun auch hier wieder den juristischen Bogen, denn heimgesucht werden ebenso die Ehe- und Mietverträge. Sich weiter auf die Gegenwart zubewegend erkennt die Autorin einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum moderner Großstädte und deren zunehmender Konflikte um 1850 auf der einen, sowie einer höheren Empfängnisbereitschaft der Bevölkerung für spirituelle Erklärungsmodelle auf der anderen Seite; Mädchen sind ihrer Argumentation nach auch hier zentrale Akteurinnen in dieser „übersinnlichen Kommunikationsschleife“ (72).

Braun spaltet ihr All-American-Gothic Girl, um es gleich wieder zu synchronisieren. Sie positioniert das ermittelnde Terror Girl genealogisch und zeitlich vor dem gesuchten Horror Girl, meist Mutter oder geschiedene Frau (39); rachsüchtig und medienbewusst hat das Horror Girl in vielen Erzählungen einen Migrationshintergrund (121). Während das Horror Girl anklagt und Beweise gegen den Gothic Villain findet, sorgt das Terror Girl auf Basis dieser Beweise für Recht und Ordnung im Haunted House (40). Die dialektische Wirkung beider Mädchen jedoch mündet in einer Synthese: Das „Gerechtigkeit einfordernde Mädchen“ bekommt in Film und Literatur des 21. Jahrhunderts einen ambivalenten Beigeschmack, denn das Gothic Girl, ein Konglomerat aus Terror und Horror Girl (120), handelt nun im Sinne der Selbstjustiz, mit nebulösem Rechtssinn und wohlwissend über die (gesetzliche) Lage der Republik: es wirft „mit Referenzen und Querverweisen nur so um sich“ (120).

Die Möglichkeit einer autobiografischen Rezeption ist in den Befragungen an der Türschwelle angelegt. Die Autorin, selbst heimgesucht von American Dreams, macht sich transdisziplinär (33) und dissoziativ (32) fotografisch auf die Spuren des mit eben jenen Zügen charakterisierten Mädchens. Die sich durch den Band ziehende Fotostrecke zeigt zum einen Collagen des untersuchten Bildmaterials, zum anderen die Autorin im Nachthemd die Türschwellen von Einfamilienhäusern, die Prunksäle von Luxushotels und Orte der Filmindustrie betretend. Durch das Fehlen von Bildunterschriften bleibt bewusst unklar, um welche konkreten Orte es sich handelt. Braun bezieht die heikle Position einer migrantisch durch die anglo-amerikanischen Kulturwissenschaften geisternde Ermittlerin, die narrative Spuren filmischer und literarischer Materialien hinsichtlich der Mädchenfigur einer „symptomatischen Lektüre“3 unterzieht. Trotz vielfältiger zeitlicher Verweise geht Braun sparsam mit historischen Quellen um, als wäre die US-Geschichte aus einem medial-politischen Unbewussten gespeist. Die Heimsuchung des Mädchens bringt es dazu, zu „ermitteln“: Die einst kleine Magd, die in der Etymologie des Mädchens steckt und sich zwischenzeitlich in die freche Göre, das Girl, verwandelt hat, befindet sich nun in der Hauptrolle (18) und erahnt Ereignisse. Welche Art des Detektivischen beschwört die Autorin hier? Scheinbar weniger jene der rein rationalen Analyse, als jene der hysterischen Eingebung, des halluzinatorischen Orakels, in dem sich Affektives und Argumentatives mischt.

Methodisch vermengt sich an mancher Stelle die beschriebene Vorgehensweise der realen und fiktiven Mädchen als Agentinnen des Justizsystems mit der Vorgehensweise der Autorin, die als Interessenvertreterin die Praktiken der „heimsuchenden und heimgesuchten Mädchen“ (ihrer „Kolleginnen“) durch „das dekonstruktive Lesen des Gesetzestextes“ (126) zu unterstützen gedenkt. Wesentlich, um den Stil des hier besprochenen All-American-Gothic Girl zu beleuchten, sind auch die von der Autorin gewählten Präsentationsformate: Braun machte ihre Dissertation erstmals in Buchform im Rahmen einer gespenstischen Lesung im Depot in Wien im Juni 2017 publik. Seither wurde ihre Monografie auf der Frankfurter Buchmesse sowie der Kunsthalle Wien im Format der „Störung“ vorgestellt, indem sich Braun medial aus Los Angeles dazu schaltete. Diese performativen Aktivierungen zeichnen das Werk in seiner interdisziplinären Dimension besonders aus; zudem steckt in diesem ein Plädoyer für den stärkeren Einbezug juristischer Fragestellungen in medientheoretisch-kulturwissenschaftliche Ansätze zur Spektralität.4 Nicht zuletzt unternimmt Braun eine positive Umkehrung der Freud‘schen Konnotation der Hysterikerin; das Mädchen wird zur äußerst begehrenswerten Subjektivierungsform: Es ist wandlungsfähig, unberechenbar und bewegt sich auf Augenhöhe mit dem Gesetz, das es gegenwartsdiagnostisch durch interruptions beeinflusst.


Johanna Braun
All-American-Gothic Girl
Wien: Passagen Verlag 2017
216 Seiten, zahlreiche Abbildungen

1 Dies ist der Festtagung Stimme als Voice & Vote zu Ehren des 60. Geburtstages von Diedrich Diederichsen im November 2017 an der Akademie der bildenden Künste Wien entlehnt.

2 Während aus einer mitteleuropäischen Sicht „Gothic“ konventionell eine Stil-Epoche der Architektur bezeichnet, zeigt Braun, dass der Begriff in einem US-amerikanischen Kontext historisch und juristisch umfangreich beladen wurde und noch immer ein produktiver Begriff ist. Die erwähnte Mehrbödigkeit von Genre (26), Gender (28), Mode (30) und Law (33) ist ein wesentlicher Ankerpunkt Brauns Arbeit.

3 Diese Methode geht auf Louis Althusser und sein Werk Das Kapital lesen aus 1972 zurück.

4 Der Begriff der „Spektralität“ folgt der Verwendung in der Publikation Maria del Pilar Blanco/Esther Peeren (eds.), The Spectralities Reader. Ghosts and Haunting in Contemporary Cultural Theory, Bloomsbury 2013. Die kritische Figuration der „Hauntology“ – zwischen haunting und ontology – zur Beschreibung einer Dimension jenseits der Pole ab- und anwesend geht zurück auf Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 2003.

Lisa Stuckey studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und am Royal Institute of Art, Stockholm. Derzeit promoviert sie zu den künstlerisch-filmischen Forschungen von Constanze Ruhm und den Investigationen von Forensic Architecture.
Dieser Artikel erscheint in der Kategorie Ausgabe 14, Buchrezensionen und ist verschlagwortet mit , , , , , , , , , . Permalink.