Tafelbild trotz allem

Abb. 1: Robert Delaunay, Relief Blanc, 1936, Gips und Kasein auf Metall, 204,00 cm x 109,00 cm, Wien, Museum moderner Kunst.

Eine 193,5 x 96 cm große Metallplatte dient dem Werk als Träger (Abb. 1). Umgeben ist es von einem weißen, abgeschrägten 204,5 x 109 cm großen Rahmen aus Holz. Die drei Zentren der Komposition – welche man auch als Schwingungszentren bezeichnen könnte – bestehen aus Körpern, die sich der Form einer geteilten Halbkugel annähern. Sie sind eingeschrieben in eine hochformatige Ellipse, deren Haupt- und Nebenachse vom rechteckigen Werkformat umfasst werden.

Eines der drei Zentren befindet sich rechts oben, exakt auf der Ellipse gelegen, und wird von dieser zerschnitten. Ein Kugelsegment innerhalb der Ellipse bleibt erhaben, während die Dreidimensionalität jenseits der Ellipsengrenze nur mehr mitgedacht werden kann. Links um dieses Zentrum befinden sich fünf erhabene konzentrische Kreissegmente, die an jener Grenze enden, welche die Halbkugel zerschneidet. Das äußerste dieser Kreissegmente tangiert beinahe den äußersten, ebenfalls fünften, konzentrischen Kreis, welcher um das zweite Zentrum verläuft.

Auch beim zweiten Zentrum ist die linke Hälfte der Halbkugel erhaben. Den Durchschnitt dieser Halbkugel bildet eine schräge Achse, welche oben, ungefähr bei einem Viertel der linken Seite des Werkes beginnt und in der unteren rechten Ecke des Werkes enden könnte, wohin sie aber nicht ganz geführt wird. Sie endet ungefähr auf der Höhe des letzten Viertels der rechten Werkhälfte. Entlang der Achse verdichten sich die Beziehungen der einzelnen Elemente des Werkes, bestehend aus zerschnittener Halbkugel, konzentrischen Kreisen und Ringsegmenten, zueinander.2 An der Achse verschoben, würde das dritte Zentrum das zweite – oder umgekehrt – dahingehend ergänzen, dass es zu einer tatsächlichen Halbkugel würde. Ebenso könnte das Ringsegment rechts der Achse nach unten geklappt werden und so das linke Ringsegment zu einem halben Ring vervollständigen. Es entstünde so ein halber Ring, der sich dann um das dritte Zentrum legen würde. Und so betrachtet findet, im Vergleich zu dem System, das das rechte obere Zentrum umgibt, eine Umkehrung der Verhältnisse statt. Legt sich hier, beim dritten Zentrum also, das grobgekörnte Feld unmittelbar um die zerschnittene Halbkugel, ummantelt es beim ersten Zentrum die konzentrischen Kreise. Diese Schwingungszentren geben radiale Bewegungen von sich; Bewegungen, die miteinander in Kommunikation treten und daher die Zentren nicht als starre, in sich geschlossene Systeme erscheinen lassen. Es ist allerdings die Ellipse – die Assoziationen mit dem Weltenei weckt –, in die sie eingeschrieben sind, die die Expansionsbewegungen über das Bildfeld hinaus zügelt.

Relief Blanc ist eines von insgesamt zweiundzwanzig sogenannten Reliefs, das Robert Delaunay zwischen 1930 und 1936 schuf.3 Es besteht aus Gips und Kasein und ist, wie seinem Titel zu entnehmen ist, weiß. Es wurde 1962 für das Museum des 20. Jahrhunderts, damals unter der Leitung von Werner Hofmann, erworben und befindet sich heute in der Sammlung des Museums moderner Kunst in Wien.

Ein Jahr vor der Entstehung des Reliefs, 1935, fand in Paris der erste Salon de l’art mural statt. Delaunay war Mitglied der Jury.4 Der belgische Künstler Georges Vantongerloo forderte im Katalog zum Salon die Vereinigung von Architektur, Malerei und Skulptur, welche er als „éléments inséparables“ bezeichnete und Amedée Ozenfant proklamierte an selber Stelle, dass die Wände nach den KünstlerInnen riefen.5 Die etablierte Trennung von Malerei, Architektur und Skulptur sollte aufgehoben werden, die Kunst als Teil der Architektur sollte öffentlich werden und nicht mehr nur an Ausstellungsräume gebunden sein. Das Relief konnte an dieser Stelle eine vermittelnde Funktion zwischen Malerei, Skulptur und Architektur einnehmen. Durch seine Gebundenheit an die Fläche war es lange als Architekturornament zum Einsatz gekommen, ein Umstand, der sich im 20. Jahrhundert allerdings ändern sollte. Nicht BildhauerInnen sondern MalerInnen waren es, die zu dieser Neuauffassung wesentlich beitrugen, unter anderem auch wegen der Verwendung von Materialien wie etwa Draht, Kork und anderen, die bislang nicht für Reliefs vorgesehen waren.6

Delaunays Werk entstand zu einem Zeitpunkt, als in Frankreich l’art mural an Bedeutung gewann. Dies ging mit der Krise des Tafelbildes einher. Der französische Kunsthistoriker Pascal Rousseau sieht für diese Krise ökonomische Gründe. Die Weltwirtschaftskrise 1929 soll, so argumentiert er, unmittelbar Einfluss auf die KünstlerInnen und den Kunstmarkt gehabt haben, die sich zusehends von dem traditionellen Tafelbild abwandten und sich einem größeren Format widmeten, das vor allem im art mural wurzelte. Vom Staat finanzierte Auftragsarbeiten – wie jene Delaunays für das Palais du chemin de fer 1937 –, die einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten, sollten so für die Gesellschaft einheitsstiftend wirken. Der Präsident des Salon de l’art mural Reginald Schoedelin verlautbarte 1936: „Le mur est une tribune – la seule d’où il soit possible de parler directement aux masses.“7 Einzig die Wandmalerei könne, seiner Meinung nach, eine ganze Öffentlichkeit ansprechen und so eine Beziehung zwischen KünstlerIn und BetrachterIn herstellen.8

Zugleich sollten solche monumentalen Arbeiten, wie Delaunays Ausstattung für das Palais du chemin de fer (mit 780m2 sein wohl größtes Werk), auch unter den KünstlerInnen eine neue Einheit konstituieren und dadurch die Synthese aus Malerei und Architektur abermals betonen.9 Delaunay selbst hob dies im Rahmen einer von ihm geführten Gesprächsreihe am 16. Februar des Jahres 1939 hervor und sagte: „Vous voyez les possibilités qu’il y a de travail en équipe […]; il y a des possibilités immenses de travail collectif qui peuvent avoir une énorme importance sur le plan social. […] On peut donc arriver à faire de la peinture en fonction de l’architecture et je crois que c’est la vraie place de peinture qui a commencé à être constructive.“10

Auch andere Künstler wie Albert Gleizes und Georges Vantongerloo kommentierten das Ende des Tafelbildes. Gleizes hob hervor, dass das Tafelbild die eigentliche Essenz der Malerei verfehle; insofern nämlich, als es auf ein einzelnes Individuum bezogen bliebe, auf die je einzelnen BetrachterInnen hin ausgerichtet sei und nicht eine große Masse anzusprechen vermöge.11 Vantongerloo bezeichnete das Tafelbild sogar als eine vom bourgeoisen System gehortete „Ausartung“ („dégénerescence“) der Kunst. Als Teil dieses Systems wurde die Kunst, so meinte er, zu einer Ware, deren Wert verhandelbar wurde. Beide betonten außerdem, dass einzig l’art mural fähig sei den Auswirkungen des Tafelbildes entgegenzuwirken.12

Neben dem Stimmengewirr aus dem Frankreich der 1930er Jahre, das das Ende des Tafelbildes ausrief, ertönte im Jänner 1948 die Stimme des amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg.13 In The Situation at the Moment stellt er erstmals das herannahende Ende des Tafelbildes fest, da es von Werken, die sich über die Wand ausbreiten, Werken, deren großes Format eine nicht unwesentliche Rolle spielt, allmählich abgelöst wird. Im April desselben Jahres expliziert er in seinem gleichnamigen Aufsatz die Krise des Staffeleibildes und sieht diese als dem Bild inhärent an. Formale Kriterien sind es, die Greenberg zufolge das Ende des Tafelbildes herbeiführen. Erste Ausformungen der Krise erkennt er schon in der Malerei Édouard Manets, bei Claude Monet und Camille Pissarro kommen sie am deutlichsten zum Ausdruck. Diese Maler betonen, so Greenberg, mit ihrer Malweise als erste die Flachheit des Bildträgers und schaffen Bilder, die keine illusorische Tiefe mehr erzeugen wollen. Und genau das sieht er als (historische und damit überkommene) Hauptaufgabe des Tafelbildes an: An der Wand zu hängen und dadurch dieser Wand etwas zu verleihen was sie nicht hat, nämlich Tiefe. Das Tafelbild löste sich so von der Architektur, die es umgab, los. Das Erbe des Tafelbildes wird von einem Bild angetreten, das Greenberg als „decentralized, polyphonic all-over picture“ bezeichnet, einem Bild, das Flachheit betont und das sich eben nicht von seiner architektonischen Umgebung loslöst, sondern sich gleichermaßen mit dieser verbindet.14

In diesem Kontext betrachtet scheint die vierte Einzelausstellung Delaunays, im März des Jahres 1935, etwas verwunderlich. Unweit dem Louvre, in der Galerie des Magazins Art et Décoration eröffnet, trug sie den Titel Les revêtement muraux en relief et en couleur de Robert Delaunay. Gezeigt wurden jene Werke, die der Künstler selbst als Reliefs bezeichnete.15 Er präsentierte sie – wie Tafelbilder – in einem geschlossenen Raum, in einem institutionellen Rahmen.16 Gips, Kasein, Sägespäne und andere Materialien verarbeitete Delaunay für seine Reliefs. Der Schriftsteller Jean Cassou stellte in seinem in der März-Ausgabe des Magazins Art et Décoration erschienenen Aufsatz, welcher gewissermaßen als Begleittext zur Ausstellung gesehen werden kann, fest, dass diese Materialwahl es Delaunay ermöglichte, die Werke sowohl in einem geschlossenen Raum als auch der Witterung ausgesetzt zu präsentieren. Sie sollten in enger Verbindung mit der Architektur stehen und dieser nicht mehr nur „éléments exteriérieurs, superflus, ornamentaux“ sein, sondern als mit der Wand gleichberechtigt verstanden werden.

Abb. 2: Robert Delaunay, Fenêtres simultanées sur la ville, 1ère partie, 2ème motif, 1ère réplique, 1912, Öl auf Leinwand und Fichtenholz, 46 x 40 cm, Hamburg, Kunsthalle.

Die Motive der Reliefs sind, so Cassou, schon seit jeher in Delaunays Werk aufzufinden.17 Am deutlichsten wird dies, wenn man die Reliefs mit den Werken der Serie Rythmes sans fin, welche zur gleichen Zeit entstanden sind, vergleicht. Auch die Werke dieser Serie sind bestimmt von Kreisformen, welche an einer Achse angeordnet sind.18 Diese einfachen geometrischen Grundformen würden Cassou zufolge „les grandes figures célestes où s’exprime le cosmos“ evozieren.19 Die hier formulierte Metapher einer Verbindung von Delaunays Motiven mit dem Kosmos trifft wohl auch auf Relief Blanc, das später entstand, zu. Die weißen Schwingungszentren lassen den Eindruck von Planetenkonstellationen entstehen. Dass das Werk rein aus der Farbigkeit der verwendeten Materialien lebt und daher weiß ist, stellt eine Seltenheit nicht nur innerhalb Delaunays gesamten Schaffens, sondern auch innerhalb der Reliefs dar, da nur wenige der Reliefs monochrom sind. Diese maximale Präsenz von Weiß ist in Anbetracht Delaunays Frühwerk ebenso erstaunlich, war doch dieses bestimmt durch die Farbigkeit des prismatisch gebrochenen Sonnenlichts.20 Das Licht ist hier in Relief Blanc in seinem ursprünglichsten Zustand zu sehen: Es ist weiß. Aus dem weißen Licht, aus dem Ursprung, differenzieren sich die Bildobjekte21 heraus. Bildobjekte, die Kreise und Halbkreise sind und von Gilles Deleuze, in seinen knappen Ausführungen zu Delaunay, als „les pures figures de la lumière“ bezeichnet werden.22 Und diese Figuren entstehen, Deleuze zufolge, weil: „[…] la lumière est mouvement, la lumière est production“.23

Relief Blanc ist eines von insgesamt vier Reliefs, die, folgt man dem von Guy Habasque erstellten Werkverzeichnis, schon vom Künstler mit einem Rahmen versehen wurden. Sind die beiden Werke mit dem Titel Rythme en Relief, die im Zeitraum von 1930 bis 1931 entstanden, Habasque zufolge von einem weißen, zwei Zentimeter breiten Rahmen umgeben, ist der Rahmen bei Relief noir avec des cercles de couleur und Relief Blanc einer, der als „cadre biseauté“, also als abgeschrägter Rahmen, bezeichnet wird.24 Einen solchen abgeschrägten Rahmen verwendete Delaunay bereits bei einem wesentlich früheren Gemälde. Schon 1912 kommt er zum Einsatz. Fenêtres simultanées sur la ville, 1ère partie, 2ème motif, 1ère réplique (Abb. 2) wird allgemein als eines der ersten Bilder der Fenster-Serie gesehen.25 Delaunay bezeichnet diese Serie als Wendepunkt in seinem eigenen Œuvre und schreibt von ihr als „[…] une série qui ouvre vraiment ma vie artistique.“26 Sie schließt unmittelbar an die ihr vorangegangenen Serien wie La Tour oder La ville an, ja scheint sie ihre Bildobjekte, wie den Eiffelturm oder die Fenster der Häuser der Stadt, sogar in einer Serie zu fassen.27 Der Rahmen von Fenêtres simultanées sur la ville, 1ère partie, 2ème motif, 1ère réplique ist anders als noch von Werner Hofmann behauptet, nicht flach, sondern auf solche Weise abgeschrägt, dass die Leinwand auf oberster Ebene zu liegen kommt.28 Bildobjekte, wie die Fenster unten in der Mitte, sind auf dem Rahmen platziert. Es ist somit nicht nur die Farbe oder die Malweise – wie es etwa bei den Rahmen Georges Seurats der Fall ist –, die sich auf dem Rahmen befinden, sondern sind es eben auch Bildobjekte. Der Rahmen muss daher schon hier als wesentlicher Teil des Werkes und nicht mehr bloß als Beiwerk begriffen werden.29

Abb. 3: Robert Delaunay, Relief noir avec des cercles de couleur, 1930–1932, Öl, Gips und Sand auf Sperrholz, 46 x 38 cm, Privatsammlung.

Bei Relief noir avec des cercles de couleur (Abb. 3), das mit 46 x 38 cm wesentlich kleiner ist als das Relief Blanc, handelt es sich um eine der frühesten Reliefarbeiten. Auf einer schwarzen Sperrholzplatte sind entlang einer schrägen Achse, die die diagonale Achse des Werkes selbst bildet, insgesamt fünf Kreisformen angeordnet. Dabei handelt es sich um zwei große Kreise, die sich schneiden und in denen sich drei kleinere Kreise befinden. Der große Kreis rechts oben wird von dem rechten Bildrand angeschnitten. Er ist links von der Achse türkis und rechts davon in einem Rosa-Ton gehalten. Um den inneren Bereich des Kreises legt sich, ihn konturierend, ein dünnerer Kreis, der links von der Achse orange und rechts von der Achse rot ist. Der zweite große Kreis ist durchgehend in einem hellen Orange gehalten und wird von dem unteren Bildrand beschnitten. Ein kleiner Kreis ist in die Schnittfläche der zwei großen Kreise eingeschrieben. Er ist links von der Achse gelb und rechts davon blau. Sein Mittelpunkt bildet zugleich die Mitte des Werkes. Ein links hellgrüner und rechts türkisfarbener Kreis befindet sich rechts oberhalb des zentralen kleinen Kreises. Links unterhalb von ihm ein Kreis, der links von der Achse rot und rechts davon gelb ist. Delaunay differenziert zwischen den Schwarztönen innerhalb der kleinen Kreise mittels der Materialwahl. Im rot/gelben und im grün/türkisen Kreis ist jeweils das Kreissegment rechts von der Achse mit schwarzem Sand bestreut, im mittleren gelb/blauen Kreis das Kreissegment links von der Achse. An diesen Stellen bekommt das Schwarz eine andere, fast schon samtige Qualität, wodurch die rhythmische Bewegung der Kreise betont wird. Das Material bekommt dadurch eine darstellende Qualität und Delaunay zeigt so Wechselwirkungen zwischen Bildvehikel und Bildobjekt auf. Diese wiederum sind es, die innerbildlich jene Verbindung und Einheitsbildung zum Ausdruck bringen, welche auch zwischen Wand und Werk bestehen sollte.

Bei allen drei Werken führt die Beschaffenheit des Rahmens dazu, dass der Bildträger – sei es wie bei den Fenêtres die Leinwand oder die Sperrholz- beziehungsweise Metallplatte der Reliefs – an die BetrachterInnen herangerückt wird. Dieses Entgegenkommen des Bildvehikels hin zu den BetrachterInnen wird im Fall des Relief Blanc auch noch durch die Erhebungen und dreidimensionalen Objekte verdeutlicht. Für beide Reliefs bedeutet der Rahmen aber auch eines: Sie nähern sich einerseits, durch die zur Wand hin abgeschrägte Form, an die Wand an, heben sich aber zugleich von ihr, mit der sie doch gleichberechtigt sein sollten, ab. Der Rahmen erfüllt also gewissermaßen eine Scharnierfunktion zwischen Tafelbild und art mural und ermöglicht dem Werk, sich dem fensterartigen Eindruck, den ein klassisches Tafelbild zu suggerieren versucht, zu widersetzen. Das Werk selbst ist nicht eins mit der Wand, die es letztlich trägt, sondern befindet sich vor ihr. Es kann an jeder beliebigen Wand neu aufgehängt werden, es ist beweglich. Der Rahmen unterbindet aber auch die formal in den Werken angedeutete Expansion der Bildobjekte: Er setzt dem Werk seine eigene Grenze. Bedenkt man die Farbe der Wand, an der diese Reliefs hingen und präsentiert wurden – eine Wand, die vermutlich weiß war – so ist das Sich-Absetzen des Werkes von ihr im Fall von Relief noir avec des cercles de couleur ein besonders prägnantes.30 Der Rahmen ist schließlich braun und nicht wie bei Relief Blanc weiß gehalten. Das Werk wird dadurch als autonomes, von der Wand unabhängiges markiert. Die Heteronomie wird negiert. Beide Reliefs scheinen also eine Sonderstellung innerhalb der Konzeption der Werkgruppe der Reliefs einzunehmen. Dieser Umstand wird für Relief Blanc umso deutlicher, wenn man Relief Blanc mit dem zweiten Relief desselben Titels aus dem Jahr 1935 vergleicht. Dieses soll im Folgenden als Grand Relief Blanc (Abb. 4) bezeichnet werden.

Abb. 4: Robert Delaunay, Relief Blanc, 1935, Gips und Kasein auf Metall und Holz, 300 x 180 x 3,5 cm, Centre Pompidou, Paris.

Mit 300 x 180 cm ist dieses Werk die größte der Reliefarbeiten und kann mit Delaunays eigenen Worten aus demselben Jahr tatsächlich als eines der „grand ouvrages muraux“ bezeichnet werden. Es ist nicht gerahmt. Dieselben Materialien wie für sein ein Jahr später datiertes Relief Blanc, Gips und Kasein, hat Delaunay hier verwendet. Materialien, die Delaunay selbst wie folgt bezeichnete: „[…] des matériaux nouveaux qui transforment le mur, non seulement extérieurement mais dans sa substance même.“31 Die Materialwahl ist es, mittels derer Delaunay die Synthese von Werk und (tragender) Wand herstellen wollte. Die grobgekörnten Stellen in beiden Werken sind jene, wo Kasein zum Einsatz kam. Die Verwendung dieses Materials ist es wiederum, die die Verbindung zur Malerei beziehungsweise der Wandmalerei betont. Das aus Milch gewonnene Kasein wurde unter anderem als Bindemittel verwendet und kam in der Wandmalerei, beispielsweise in der Michaeliskirche in Hildesheim, zum Einsatz. Ebenso ist Gips Bestandteil von Wandmalerei und kann als Putz, beispielsweise bei der Leimfarbenmalerei, zum Einsatz kommen.32

Auch wird durch den Vergleich besonders deutlich, dass der Ursprung der Komposition von Relief Blanc im Grand Relief liegt. Die Schwingungszentren sind auch hier in eine Ellipse, in das Weltenei, eingeschrieben.33 Die Ausführung der Ellipse ist aber im Relief Blanc wesentlich subtiler. Jene zwei Zentren, die sich in Relief Blanc in der linken Werkhälfte an einer schrägen Achse entlang befinden, sind im Grand Relief Blanc in der rechten unteren. Jenes Zentrum, welches von der Ellipse geschnitten wird, befindet sich hier links unten und wird ebenso von der Ellipse geteilt. Die Komposition von Grand Relief Blanc wurde doppelt – zunächst horizontal, dann vertikal – gespiegelt, verkleinert, letztlich gerahmt und zu jener von Relief Blanc. Bei Relief Blanc kann also von einer Variation auf Grand Relief Blanc gesprochen werden.

Die Hinwendung der KünstlerInnen zu l’art mural soll ihre Werke als Teil eines großen Ganzen, als Teil der Architektur erscheinen lassen. Es soll eine neue Einheit, in der alle künstlerischen Formen Gleichberechtigung erfahren, entstehen. Der Bezug zur Architektur – sowohl bei Grand Relief Blanc als auch bei Relief Blanc – ist nicht zuletzt durch die Dimensionen gegeben, entsprechen doch die Maße von Relief Blanc ungefähr denen einer Türe. Die Werke implizieren so auf gewisse Weise eine architektonische Umgebung. Dabei handelt es sich wohl um eine Architektur – und das sei an dieser Stelle nur kurz angemerkt –, die selbst, sowohl innen als auch außen, in einer Farbe erstrahlt, nämlich in Weiß. Der Gegensatz zwischen Relief Blanc und der Architektur wird aber nicht aufgehoben. Das Werk arbeitet als Widerstand zwischen Autonomie und Grenzüberschreitung, ist es doch außerdem von einem Rahmen umgeben, der zwischen ihm und der ihn umgebenden Architektur zu vermitteln versucht, aber das Werk zugleich als für sich stehend markiert und gewissermaßen an eine institutionelle Struktur bindet.

Auch auf der formalen Ebene wird das Spannungsverhältnis zwischen in sich geschlossenem Werk und Orientierung auf die Umgebung hin gehalten. So wird ein Hinausstrahlen des zweiten Zentrums über den Bildrand hinaus angedeutet und ermöglicht dem Werk außerhalb des Bildträgers gleichsam weitergedacht zu werden. Die Bewegungen und Beziehungen, die zwischen den Schwingungszentren existieren, deuten ebenso auf eine Expansion hin und lassen den Eindruck entstehen, dass es unendlich erweitert werden könnte. Das Werk soll als großes Ganzes aufgefasst werden, was nicht zuletzt auch auf Grund seiner Maße verdeutlicht wird. Zugleich versucht es auch keinesfalls mehr eine illusorische Tiefe zu erzeugen. Ganz im Gegenteil wird es Teil des Betrachterraumes. Das Relief nähert sich so dem an, was auch für Greenberg die Nachfolge des Tafelbildes ausmacht. Doch geschieht diese Annäherung nur in kleinen Schritten, denn die Ellipse, welche die Komposition bestimmt, macht das Werk zu einem in sich abgeschlossenen Ganzen. Waren es formale Kriterien, die für Greenberg ausschlaggebend waren um das Ende des Tafelbildes definieren zu können, so sind es formale Kriterien, die Relief Blanc weiterhin als ein solches bestimmen lassen. Das Relief ist eben nicht „decentralized“ wie das Greenberg’sche Nicht-mehr-Tafelbild. Die Bewegungen können nicht aus der Ellipse ausbrechen. Die Wiederholungen und Rhythmisierungen sind auf Ewigkeit auf der Bildfläche gefangen. Man könnte meinen, sie wären zu Stein erstarrt. Delaunays Malerei hat sich in Relief Blanc einem Fossil anverwandelt, das als Tafelbild verweilt, ein Tafelbild ist, trotz allem.


1 Mein herzlicher Dank für zahlreiche Gespräche und wertvolle Hinweise gilt Wolfram Pichler. Christoph Chwatal, Franziska Figerl, Wenzel Kersten und Iris Kiesenhofer danke ich für die kritische Lektüre und zahlreiche Anmerkungen zum Text.
2 Die Verdichtung gestaltet sich folgendermaßen: Die fünf, ebenso erhabenen, konzentrischen Kreise um das zweite Zentrum, werden mehrfach unterbrochen: Links von der Achse von dem linken Bildrand, an dem sie nicht abschließen, und unten ebenfalls links von der Achse, von fünf konzentrischen Viertelkreisen, welche von der Achse weggehend sie überlagern. Diesen antwortet rechts der Achse ein grobgekörntes Feld in Form eines Viertelringsegmentes, welches die Kreise ebenso bedeckt. Unterhalb der fünf konzentrischen Viertelkreise befindet sich ein viertelringsegmentförmiges Feld, das in seiner Oberflächenbeschaffenheit sowie seiner Form gleich ist wie jenes Feld rechts von der Achse, welches die konzentrischen Kreise des zweiten Zentrums bedeckt. Links an die fünf Viertelkreise angrenzend schließt dieses Feld rechts an den Beginn der dritten Halbkugel an, mit der zugleich die schräge Achse endet. Diesmal ist, an der Achse entlang versetzt, die rechte Hälfte der Halbkugel erhaben. Diese ist aber, anders als die zwei anderen im Bild vorhandenen Körper, nicht von konzentrischen Kreisen umgeben.
3 Vgl. Guy Habasque, Catalogue de l’œuvre de Robert Delaunay, in: Pierre Francastel, Du cubisme à l’art abstrait, Paris 1957, S. 294 – 303.
4 Vgl. Annegret Hoberg, Schwarzes Relief mit farbigen Kreisen, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.), Robert Delaunay und Deutschland (Kat.), Köln 1985, S. 382.
5 Vgl. Georges Vantongerloo, Le groupement abstraction et l’art mural, in: Edition catalogue critique du Salon de l’art mural, Juni 1935, n.p. sowie Amédée Ozenfant, Mur d’abord, in: Edition catalogue critique du Salon de l’art mural, Juni 1935, n.p. Beides abgedruckt in: Angela Lampe (Hg.), Robert Delaunay, rythmes sans fin (Kat.), Paris 2014, S. 51.
6 Vgl. Sabine Kricke-Güse/Ernst-Gerhard Güse, Einleitung, in: Ernst-Gerhard Güse (Hg.), Reliefs, Formprobleme zwischen Malerei und Skulptur im 20. Jahrhundert (Kat.), Bern 1980, S. 14.
7 Réginald Schoedelin, Responsabilité de l’artiste [Vortragstext], in: Europe, n°166, 15. Oktober 1936, S. 282 – 283. Abgedruckt in: Lampe 2014, S. 51.
8 Etwa zeitgleich wie in Frankreich gewinnt ‚l’art mural‘ auch in den USA und in Mexiko große Bedeutung. Besonders in New York wird die Wandmalerei durch das Federal Art Project, dessen Bestreben es war, die hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren, gefördert. Die in Mexiko aktiven Muralisten wurden ebenfalls staatlich gefördert: Ihre Werke sollten einheits- und identitätsstiftend wirkend. Siehe dazu u.a. Romy Golan, Muralnomad. The paradox of wall painting. Europe 1927 – 1957, New Haven/London 2009, sowie Antonio Rodriguez, A history of Mexican mural painting, London 1969.
9 Vgl. Pascal Rousseau, ‚Je fais la révolution dans les murs‘, l’abstraction monumentale de Robert Delaunay, in: Angela Lampe 2014, S.107 – 108.
10 Pierre Francastel, Robert Delaunay. Du Cubisme à l’art abstrait, Paris 1957, S. 233 – 234.
11 Vgl. Walter Grasskamp, Die weiße Ausstellungswand, in: Wolfgang Ullrich/Juliane Vogel, Weiß, Frankfurt am Main 2003, S. 35.
12 Vgl. Albert Gleizes, Art mural, in: Edition catalogue critique du Salon de l’art mural, Juni 1935, n.p. sowie Vantongerloo 1935, n.p. Beides abgedruckt in: Lampe 2014, S. 51.
13 Schon ein Jahr vorher thematisiert Jackson Pollock die Problematik, die dem Tafelbild innewohnt. In seiner Application for Guggenheim Fellowship schreibt er, er wolle ein Werk malen, das groß und zugleich beweglich sei und das sich zwischen ‚art mural‘ und Tafelbild ansiedeln ließe. Vgl. Jackson Pollock, Application for Guggenheim Fellowship, in: Pepe Karmel, Jackson Pollock. Interviews, Articles, and Reviews, New York 1999, S. 17.
14 Vgl. Clement Greenberg, The Situation at the Moment, in: John O’Brian (Hg.), Clement Greenberg. The collected essays and criticism. Volume 2 Arrogant Purpose 1945–1949, Chicago/ London 1986, S. 192 – 196 sowie Clement Greenberg, The Crisis of the Easle Picture, in: O’Brian 1986, S. 221 – 225.
15 Vgl. Habasque 1957, S. 366.
16 Über die Hängung der Werke in der Ausstellung ist im Spezifischen nichts bekannt. Der Titel der Ausstellung selbst betont aber den Bezug zu ‚l’art mural’, was wiederum, neben der Materialwahl selbst, expliziert, dass die Werke für eine Öffentlichkeit – und eben nicht nur für einen geschlossenen Raum – bestimmt seien.
17 Jean Cassou, R. Delaunay et la plastique murale en couleur, in: Art et décoration, revue mensuelle d’art moderne, März 1935, S. 98.
18 Siehe dazu auch Marie Merio, Relief Blanc, in: Lampe 2014, S. 36.
Domitille d’Orgeval-Azzi schreibt zu den Rythmes sans fin, dass Mittels der Wiederholung des Motivs Delaunay die Grenze der Leinwand zu überwinden versucht. Selbiges lässt sich eben auch für Relief Blanc feststellen. Vgl. Domitille d’Orgeval-Azzi, La posterité de Robert Delaunay, in: Lampe 2014, S. 128.
19 Cassou 1935, S. 98.
20 Zur Bedeutung von Licht und Farbe siehe u.a. Max Imdahl, Zu Delaunays historischer Stellung, in: Max Imdahl/Gustav Vriesen, Robert Delaunay, Licht und Farbe, Köln 1967, S. 71 – 74.
21 Die hier und in weiterer Folge verwendete bildtheoretische Terminologie ist jene von Wolfram Pichler und Ralph Ubl vorgeschlagene, die mit „Bildobjekt“ das bezeichnet, was das Bild zu sehen gibt, im Gegensatz zum „Bildvehikel“, der materiellen Struktur auf der die Bildobjekte erscheinen. Vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014.
22 Gilles Deleuze, Foucault, les formations historiques. Vorlesung vom 12. November 1985, 2. Teil der Transkription von Annabelle Dufourcq. URL: http://www2.univ-paris8.fr/deleuze/article.php3?id_article=415 [12.06.2017].
23 Deleuze 1985.
24 Vgl. Habasque 1957, S. 295 und 301.
25 Zu dieser Einordnung innerhalb der Serie siehe unter anderem: Johannes Langner, Zu den Fenster-Bildern von Robert Delaunay, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 7, 1962, S. 67 – 82. Es war Langner, der, sich auf eine Notiz Delaunays berufend, erstmals die Platzierung des Werkes an erster Stelle der Serie argumentiert hat.
26 Francastel 1957, S. 87.
27 Zum Verhältnis der Fensterserie zu jenen die vor ihr entstanden, siehe unter anderem Langner 1962.
28 Werner Hofmann, Zu einem Bild Robert Delaunays, in: Ders., Bruchlinien, Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S. 98.
29 Nähere Ausführungen zur Bedeutung des Rahmens bei Delaunays Fenêtres simultanées sind (im Rahmen einer Masterarbeit) in Vorbereitung.
30 Zur Entwicklung der weißen Wandfarbe im Ausstellungskontext siehe u.a. Grasskamp 2003. Grasskamp (S. 52) zufolge steht diese Entwicklung mit der Hängung von rahmenlosen Bildern in Beziehung.
31 Robert Delaunay, Réponse à l’enquête ‚Où va la peinture?‘, in: Commune, n°21–22, Mai und Juni 1935, n.p. Abgedruckt in: Lampe 2014, S. 135.
32 Vgl. Kurt Wehlte, Werkstoffe und Techniken der Malerei, Ravensburg 2000, S. 271, S. 422 und S. 429.
33 Insgesamt ist zu beobachten, dass das Motiv des Welteneis ein wiederkehrendes in Delaunays Reliefs ist. Siehe dazu die Abbildungen der Werke in Cassou 1935.

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The shadow from above

Technology didn’t come from outer space. We humans invented it, and thus our relationship with is inevitably tautological. Technology can only ever allow us to access and experience new sides of humanity that lay dormant or untapped. Nothing human is alien. The radio gave us both Hitler and the Beach Boys. The Internet gave us Mentos, Diet Coke and kittens. Drones give us a new dimension of pubescent snoopiness, but they’re also giving us massively asymmetrical warfare… and hideous unmerited death.1

Dass die kulturphilosophische Diskussion um Fragen der Un-/Sichtbarkeit im Zeitalter des Digitalen vor ganz neuen Herausforderungen steht, ist offensichtlich. Ein Blick in die westliche Kulturgeschichte verrät indes ihren kontroversen Ursprung: von Platons Gyges-Mythos über H.G. Wells‘ Roman The Invisible Man bis hin zu J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings und J. K. Rowlings Harry Potter. Haben die HeldInnen einmal die übermenschliche Gabe erlangt, unsichtbar zu sein, werden sie mit ihrer eigenen Machtversessenheit konfrontiert und missbrauchen sie häufig. Der Unsichtbarkeits-Mythos enthält gleichsam eine warnende Parabel für die moralische Schwäche und das Böse im Menschen und lässt historisch gewachsene Vorstellungen eines ethisch gleichberechtigten Blickverhältnisses evident werden. So bemerkt die Kulturwissenschaftlerin Clare Birchall in Bezug auf Wells’ Roman The Invisible Man: „In the novel, as in other fictional accounts – filmic, televisual and literary – invisibility raises moral and ethical questions. Griffin abuses his visibility because he can. Unobservable violence proves too tempting.”2 Birchall überführt den Unsichtbarkeits-Mythos in die Gegenwart und bringt ihn mit einer neuen, neoliberalen „Politik der Geheimhaltung und (vermeintlichen) Transparenz“ im digitalen Zeitalter in Verbindung. Überwachung und Kontrolle stehen demnach in einem unmittelbaren Verhältnis mit Formen manipulierter (Un-)Sichtbarkeit und Verschleierung. Mit Birchall möchte ich im Folgenden die dringende Frage stellen, welche Aspekte politischer, militärischer und ökonomischer Entscheidungen verborgen beziehungsweise unsichtbar bleiben und wie neue, durch die Ereignisse des 11. Septembers legitimierte Bildtechnologien dazu beitragen, politische Machtgefüge aufrecht zu erhalten.

In der militärisch motivierten und durch George Bush und Barack Obama als Reaktion auf den 11. September perfektionierten Drohnentechnologie erlangt die Debatte um Aspekte der (Un-)Sichtbarkeit besondere Virulenz. Indem Drohnen die Möglichkeit einer totalen Archivierung von Bild und Raum sowie die zweifelhafte Möglichkeit einer einseitigen Kriegsführung ohne (sichtbaren) Körper liefern, ergeben sich neue visuelle Regime und Ungleichgewichte, die einen direkten Einfluss auf die (Un-)Sichtbarkeit von Gesicht und Körper haben und somit grundlegende Fragen einer neuen Ethik des Sehens stellen. Kritische Stimmen, vor allem von PhilosophInnen und KulturwissenschaftlerInnen wie Grégoire Chamayou, Nicholas Mirzoeff und Byung-Chul Han warnen deshalb davor, dass die Nutzung von Drohnen-Technologie untrennbar mit neuen, fragwürdigen Ethiken der Kriegsführung und Überwachung verbunden sei. Mein Essay widmet sich dem militärischen Einsatz von Drohnen und sucht nach Möglichkeiten einer Konfrontation mit und Emanzipation aus den ungleichen Blickverhältnissen aus der Perspektive der Bildwissenschaft. Welche Strategien lassen sich in der zeitgenössischen Kunst finden, die das asymmetrische Verhältnis von Drohneneinsätzen thematisieren? Und wie problematisieren sie das ihnen zugrunde liegende Verhältnis von (Un-)Sichtbarkeit, Bild, Macht und Körper? Die besprochenen Werke legen verschiedene Strukturen visueller Macht offen und durchbrechen Formen der Geheimhaltung beziehungsweise überführen sie in die Sichtbarkeit.

Die wohl wichtigste und grundlegendste Eigenschaft der Drohne gründet sich auf der physischen Trennung von Flugobjekt/Kamera und PilotIn: Ein Ort und seine BewohnerInnen können aus einer oft tausende Kilometer großen Distanz observiert und bombardiert werden. Statt von einer Drohne spricht man beim Militär deshalb auch von einem unbemannten Luftfahrzeug, abgekürzt „UAV“ (Unmanned Aerial Vehicle). Da die Steuerung einer Drohne entweder vom Boden oder von einem Bordcomputer aus erfolgt, bleibt der oder die BesitzerIn der Drohne selbst bei ihrem Fang anonym.3 In seiner Publikation A Drone Theory beschreibt der Philosoph Grégoire Chamayou die Geschichte der Drohne als die eines Auges, das in eine Waffe verwandelt wurde. Nach Chamayou beruhe die Drohnen-Technologie vornehmlich auf folgenden Faktoren: „(1) The principle of persistent surveillance or permanent watch; (2) The principle of a totalization of perspectives or synoptic viewing; (3) The principle of creating an archive or film everyone’s life; (4) The principle of data fusion; (5) The principle of the detection of anomalies and preemptive anticipation“. All dies führt nach Chamayou zu einer Revolution der Blickverhältnisse.4 Der technische Aufbau gängiger Kampfdrohnen liefert die Fakten für diese Thesen: Die mit neun Kameras ausgestattete Reaper-Drohne kann während ihres Einsatzes ein Gebiet von 26 Quadratkilometern aus verschiedenen Blickwinkeln erfassen. Dabei entstehen dreidimensionale Bilder, welche es ermöglichen, mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen und zu bombardieren. Entsprechend dem auf heroische Terminologien versessenen Militärjargon wurde das Beobachtungssystem der Reaper-Drohnen nach dem mythologischen hundertäugigen Riesen Argus (ARGUS-IS) benannt. Das ARGUS-IS der Reaper-Drohne verfügt über ein komplexes Kamerasystem, das ein 15 Zentimeter kleines Objekt aus sechs Kilometern Höhe identifizieren und unabhängig voneinander 368 verschiedene Ziele verfolgen und filmisch aufzeichnen kann. So lassen sich auf den Bildern mit niedriger Bildrate keine individuellen Gesichtszüge, wohl aber die Kleidungsfarbe eines Menschen oder etwa die Bewegung eines Vogels erkennen. Angesichts der technischen Omnipräsenz des Blicks vergleicht Chamayou die Konzeption der Drohnenkamera auch mit dem „Auge Gottes“.5 Dieses „Auge Gottes“ zeigt die Erdoberfläche im Sinne eines Computerspiels als grafisch entrücktes, beherrschbares Schemenbild. Der Akt des Tötens wird per Joystick so zum distanzierten, entkörperlichten Erlebnis. Durch die visuelle Distanz und die (einseitige) Anonymität ergibt sich ein asymmetrisches Blickverhältnis, das, wie der Kulturphilosoph Byung-Chul Han anmerkt, ein herkömmliches Kriegsverständnis auflöst: „Beim Drohneneinsatz ist die Asymmetrie total. Sie ist auch in dem Sinne total, dass es nicht möglich ist, den Angreifer zu töten. Er ist eben nicht dort, wo die Tötung geschieht. Allein diese totale Ungleichheit macht den Kriegsbegriff selbst obsolet.“6 Das Wegfallen einer menschlichen Begegnung stellt einen der grundlegendsten Aspekte der militärischen Gewaltausübung dar. Indem Philosophen wie Emmanuel Lévinas in der facialen Begegnung von Angesicht zu Angesicht noch die Grundvoraussetzung gesellschaftlichen und ethischen Handels ausmachen,7 ergibt sich im unscharfen, entkörperlichten Bild der Drohne ein offenkundiges Missverhältnis von Sehen und Gesehen-Werden sowie von Zeigen und Verbergen. Es fällt leichter das verpixelte, überindividuelle Bild eines oder einer vermeintlich terroristischen Angreifers oder Angreiferin auszulöschen als ein menschliches Gegenüber.

Abb. 1: Anonymes Künstler_innenkollektiv aus Pakistan/US und JR., Not a Bug Splat, Khyber Pakhtunkhwa/ Pakistan, 2014.

Beispielhaft für eine künstlerische Reaktion auf die neue Vertikalisierung der Blickverhältnisse wurde eine aktionistisch motivierte Kunstaktion, die vom französischen Foto-Streetartist JR angeregt wurde und viel mediale Aufmerksamkeit erhielt.8 In Zusammenarbeit mit einem anonymen amerikanisch-pakistanischen Künstler_innenkollektiv9 entstand unter dem Hashtag #NotABugSplat (2014) eine auf Drohnenkameras und Satellitenbilder ausgerichtete Fotoaktion im öffentlichen Raum. Die Gruppe installierte ein vielfach vergrößertes Halbporträt eines kleinen pakistanischen Mädchens auf einem Feld in der pakistanischen Region Khyber Pukhtoonkhwa, nahe der afghanischen Grenze – ein Gebiet, das für den regelmäßigen Beschuss durch US-amerikanische Drohnen bekannt ist. Im Umgang mit einer fotografischen Bildtradition funktioniert die #NotABugSplat-Aktion eher konventionell und muss in eine bestimmte Linie journalistisch-humanistischer Fotografie gesetzt werden, die von Susan Sontag als „moralisch-gefühlsmäßig“ kritisiert wurde.10 Das stark vergrößerte Porträtfoto zeigt ein Mädchen, das seine Eltern bei einem US-amerikanischen Drohneneinsatz in Nord Wasiristan, einer Bergregion im nordwestlichen Pakistan, verlor. Das Bild wurde vom Fotojournalisten Noor Behram aufgenommen und von dem im Drohnen-Rechtsstreit engagierten Menschenrechtanwalt Shahzad Akbar an das Künstlerkollektiv weitergeleitet.11 Der Titel #NotABugSplat verweist auf die zynische Tatsache, dass DrohnenpilotInnen beim Akt des Tötens oftmals von „Käfer zerquetschen“ („bug splat“) sprechen, da die Menschen auf den verpixelten Computerscreens wie kleine, insektenartige Punkte aussehen.12 (Abb. 1) Die nur für kurze Zeit installierte Foto-Aktion zielt auf eine Umkehrung der asymmetrischen Blickverhältnisse und versucht, die Unsichtbarkeit menschlicher Individuen ins Gegenteil zu verkehren beziehungsweise ihr „wahres“ Gesicht ins Blickfeld der AngreiferInnen zu rücken. Dabei appelliert die emotionalisierte Aufnahme des „unschuldigen Kindes als Opfer“ sowohl an den menschlichen Blick der DrohnenpilotInnen als auch an eine größere Öffentlichkeit zur Aufklärung menschlicher Zivilopfer bei Drohneneinsätzen. So sind geschätzt mehrere tausend Zivilisten bei US-amerikanischen Drohnen-Einsätzen in Pakistan, Somalia, Jemen, Afghanistan und im Irak umgekommen. Viele von ihnen bleiben unidentifiziert.

Abb. 2: Anonymes Künstler_innenkollektiv aus Pakistan/US und JR., Not a Bug Splat, Khyber Pakhtunkhwa/ Pakistan, 2014.

Als eine der Hauptursachen hierfür gilt das vom U.S. Militär genannte Argument, dass es sich bei den Einsätzen um die Suche nach Terroristen des Islamischen Staats handle, weshalb der CIA mit einem eigenen Drohnenprogramm einbezogen wurde, was die Aufklärung der Drohnen-Toten schwierig bis unmöglich macht.13 Die UN-Sonderbeauftragten für den Schutz der Menschenrechte beklagen vor allem die „fehlende Transparenz“ bei der Nutzung von Drohnen und verweisen auf die ungeklärte (Menschen-)Rechtslage von Drohneneinsätzen in Kriegsgebieten.14 (Abb. 2) Die künstlerische Aktion zielt auf die Sichtbarmachung der zivilen Opfer und versucht das Image einer ‚sauberen’ Kriegstechnologie ohne ‚Kollateralschäden’ zu widerlegen. Auch wenn es nur schwer vorstellbar ist, dass eine solche Foto-Aktion im öffentlichen Raum wirklich von DrohnenpilotInnen beachtet wird, so kann das mediale Echo, welches sie in den westlichen Medien erzielte, doch als wichtiger Beitrag zur Diskussion um eine veränderte Kriegspolitik gewertet werden.

Abb. 3: James Bridle, Drone Shadow 002, Istanbul, 2012.

Eine ebenfalls für den öffentlichen Raum konzipierte Aktion ist die Serie Drone Shadow (2012–2014) des britischen Künstlers James Bridle, die er – im Gegensatz zur Not a Bug Splat-Fotoaktion – vornehmlich im öffentlichen Raum westlicher Länder realisiert hat. Drone Shadow wurde als fortlaufendes Kommissions-Kunstprojekt im Rahmen von Ausstellungen und Festivals initiiert und besteht aus dem immer gleichen, im Verhältnis 1:1 übertragenen Original-Schatten einer MQ-9-Reaper-Drohne, den Bridle in hellen Umrisszügen auf den Boden an öffentlichen Orten übertragen lässt15 – so etwa neben einer griechisch-orthodoxen Kirche in Istanbul (Drone Shadow 002), vor einer Kirche in Washington (Drone Shadow 004), in Brighton an der Strandpromenade (Drone Shadow 003) oder auf einem öffentlichen Platz in London (Drone Shadow 006).16 (Abb. 3) Ein wichtiger Aspekt der Aktion ist die Idee der offenen Struktur sowie der Co-Autorschaft. So stellt der Künstler die Maße und Anleitung für die Umsetzung des Drohnenschattens frei als Download zur Verfügung und unterstützt damit eine Verbreitung des Motivs.17 Bridle verfolgt mit seiner Intervention – wie auch das Kollektiv der Not a Bug Splat-Aktion – einen veränderten Umgang beziehungsweise ein wachsendes Bewusstsein für den Einsatz tödlicher Drohnen. Das Bild einer über dem vermeintlich sicheren städtischen Raum schwebenden Drohne überführt die ständige Bedrohung, in welcher sich die Zivilgesellschaft in Kriegsgebieten befindet, in das westliche „Heimatland“. Gleichzeitig visualisiert der körperlose Schatten von Bridles Drohnen-Serie die permanente aeriale Überwachung des öffentlichen Raums in Krisengebieten und führt das dort herrschende Diktat der Sichtbarkeit vor.

In seiner Publikation The Right To Look spricht der Bildwissenschaftler Nicholas Mirzoeff im Zusammenhang mit virtueller Kriegsführung und visueller Kontrolle von einer „post-panoptischen“ Perspektive auf die Welt, welche den ehemals architektonisch fest definierten Ort und die menschlichen BeobachterInnen nicht nur unsichtbar, sondern vor allem auch anonym mache. Das Postpanoptikum zeichnet sich durch seinen interaktiven, dezentralen, unübersichtlichen und opaken Charakter aus. Während das traditionelle Panoptikum von Jeremy Bentham noch als Architektur angelegt war und eine sichtbare Trennung von ÜberwacherInnen und Überwachten vollzog, ergibt sich bei dem Einsatz von Drohnen-Technologien ein asymmetrisches Sichtverhältnis: Der Überwachende ist ein Algorithmus oder bleibt durch die Distanz zum Einsatzort unsichtbar. Hierdurch ist eine totale Kontrolle möglich, die zudem keine geografischen (Staats-)Grenzen mehr berücksichtigen muss.18 Für die Analyse digital erzeugter, vertikaler Bilder stellen sich deshalb zwei grundlegende Fragen: Welche Vorstellung von Wirklichkeit liefern Drohnen- und Satellitenbilder, die für Angriffs- und Überwachungszwecke entwickelt worden sind? Und wie ändern diese neuen Technologien das Verhältnis von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit des digital erfassten Körpers?

Abb. 4: Tomas Van Houtryve, Blue Sky Days, 2013.

Auch das auf Drohnenbildern basierende Fotoprojekt Blue Sky Days setzt in diesem Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Überwachung an. Der durch seine Fotoreportagen in Nepal, Nord Korea, Vietnam und China bekannt gewordene,19 US-amerikanische Fotograf und Künstler Tomas Van Houtryve produzierte die Schwarz-Weiß-Fotoserie 2013 als Auftragsarbeit für eine Sonderausgabe des Harper’s Magazine, in der sie 16 Seiten einnahm.20 Blue Sky Days wurde mit einer auf Amazon erworbenen Amateurdrohne aufgenommen, an der Van Houtryve eine Kamera mit einem Bildübermittlungssystem befestigt hatte. Die Technik seiner Amateurdrohne ist dementsprechend mit der simplifizierten Version einer Predator oder Reaper UVA vergleichbar. Blue Sky Days beruht – wie auch die #NotABugSplat-Aktion – auf dem tragischen Schicksal eines Drohnenopfers, das den Künstler nach eigener Aussage nicht mehr losgelassen habe. Demnach hörte Van Houtryve die Geschichte des 13-jährigen Pakistaners Zubair Rehman, dessen Großmutter bei einem Drohneneinsatz der US-amerikanischen Luftwaffe beim Sammeln von Okraschoten vor ihrem Haus getötet wurde. Rehman, der selbst bei dem Angriff verletzt wurde, sprach 2013 vor einem Rechtsausschuss in Washington DC, wo er aussagte: “I no longer love blue skies, in fact, I now prefer grey skies. The drones do not fly when the skies are grey.”21 Van Houtryve nahm dieses emotionale Statement als titelgebenden Anlass für das Blue Sky Days-Projekt, um mit seiner Drohne in den USA zu bestimmten Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen, an denen sich Menschengruppen versammeln, zu reisen. (Abb. 4) Solche Menschenansammlungen sind beliebte Angriffsziele bei Drohneneinsätzen im US-amerikanischen „War Against Terror” geworden, da hier terroristische Verstecke vermutet werden. Außerdem suchte sich Van Houtryve Orte für seine Aufnahmen aus, die potenzielle Überwachungsziele der US Airforce und des CIA sind, wie etwa Gefängnisse, Ölfelder und die Grenzgebiete der USA-Mexiko-Grenze. Bemerkenswerterweise zeigen die nachbearbeiteten, digitalen Fotografien Van Houtryves jedoch nicht die grob verpixelte, verschwommene Perspektive gängiger Drohnenbilder, sondern verwenden eine kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bildgestaltung. Hierdurch werden Umrisslinien, Schatten und Formen besonders betont, was zu teilweise abstrakten Kompositionen in der Landschaft führt. Sie zeigen Ansichten der Erdoberfläche aus der Luft, welche den menschlichen Körper nur mehr als Silhouette oder als Schatten in der Landschaft abbilden und die auf Überwachung und Kontrolle bedachte Drohnentechnologie in eine neue Sichtbarkeit überführen.

Abb. 5: Laszlo Moholy-Nagy, Sicht vom Berliner Funkturm im Winter, 1928, 38.4 x 28.6 cm,
Silbergelatine-Print.

Verfolgte man eine Verortung in einem spezifischen kunsthistorischen Kanon, so ließe sich in Van Houtryves kompositorisch durchgearbeitetem Bildaufbau eine formale Referenz zur avantgardistischen Fotografie des Neuen Sehens von László Moholy-Nagy feststellen. Die fotografische Schule des Neuen Sehens wird gemeinhin als „Sehschule“ bezeichnet, welche die BetrachterInnen auf die neuen Bedingungen und die Veränderungen der Wahrnehmung des modernen Alltags- sowie vor allem des Großstadtlebens vorbereitete.22 Dabei wird der Fotoapparat zu einem „neuen Instrument des Sehens“, welcher die menschliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt und „überkommene ästhetische-philosophisch-metaphysische Traditionen zu überwinden hat“.23 Symptomatisch hierfür fällt Moholy-Nagys fotografische Praxis in die Zeit erster theoretisch fundierter, historischer Auseinandersetzungen mit der Fotografie. Sein Werk ist von einem großen Interesse an den Innovationen und technischen Möglichkeiten der Fotografie geprägt. Um diese auszuloten, entwickelte Moholy-Nagy extremste Perspektiven, vor allem Schräg-, Unter- und Aufsichten architektonischer Stadtbauten. In seiner einflussreichen Schrift Das Neue Sehen (1932) proklamierte er darauf Bezug nehmend: „the most essential for us is the airplane view, the complete space experience“.24 Besonders beispielhaft lässt sich dies auf seinen in die Fotografiegeschichte eingegangenen Aufnahmen des Berliner Funkturms erkennen.25 Ausschlaggebend ist hierbei nicht zuletzt auch, dass die Luftaufnahmen Moholy-Nagys zeitlich mit dem verstärkten kartographischen Interesse der Zwischenkriegszeit zusammenfallen. Sie können deshalb – über die wahrnehmungstheoretische Auseinandersetzung mit der Fotografie hinaus – als Reaktion auf die Entwicklung der Luftfotografie und das Fortschreiten einer „vertikalen“ Sicht auf die Welt gesehen werden. Letztere steht – wie die Drohnenfotografie – in enger Verbindung mit der propagandistischen Forderung nach Erweiterung, Beherrschung und Kontrolle des menschlichen Lebensraums sowie der Erdoberfläche.26 (Abb. 5) (Abb. 6)

Abb. 6: Tomas Van Houtryve, Blue Sky Days, 2013.

Zieht man eine Verbindung von Van Houtryves Drohnen-Bildern der US-amerikanischen Erdoberfläche zur Avantgarde-Fotografie Moholy-Nagys, lässt sich zunächst eine kompositorische Ähnlichkeit feststellen. Nach genauerer Betrachtung unterscheiden sich die visuellen Strategien der beiden Fotografen jedoch in einem wichtigen Punkt: Die visionären und vor allem äußerst technophilen FotografInnen des Neuen Sehens versuchten, die menschliche Perspektive zu überwinden und den Fotoapparat zugunsten eines objektiven Erkenntnisgewinns einzusetzen. Deshalb experimentierte Moholy-Nagy mit zunächst verwirrenden und – vermeintlich – vom menschlichen Körper entkoppelten Perspektiven. Van Houtryves Luftaufnahmen der US-amerikanischen Landschaft widersprechen dagegen diesem wahrnehmungspsychologischen Technikoptimismus Moholy-Nagys und konzentrieren sich ganz auf den Aspekt einer neuen Ethik des Sehens. So folgen die Blue Sky Days-Fotografien einem gleichbleibend „statischen“ Blick von oben auf die Erdoberfläche, der im Zeitalter von Google Earth Satellitenbildern und Amateurdrohnen bereits in den Bildkanon integriert ist – ganz im Gegensatz zu den Aufsehen erregenden Aufnahmen des Berliner Funkturms von Moholy-Nagy. Hierdurch wird in Van Houtryves Amateurdrohnenbildern ein veränderter Umgang mit neuesten, asymmetrischen Blicktechniken des post-panoptischen Zeitalters sichtbar. Während Moholy-Nagy die Kamera als Erweiterung und Optimierung des Körpers beziehungsweise des menschlichen Auges feierte und die Möglichkeit eines neuen Erkenntnisgewinns in der fotografischen Praxis sah, ist von diesem technophilen avantgardistischen Selbstverständnis in den Drohnen-Fotografien Van Houtryves – zumindest in einem technischen Sinn – nicht viel übrig geblieben. Die „post-fotografische”27 Praxis der Drohnenbilder basiert auf einer Trennung von Körper und Kameralinse. Sie ermöglicht folglich keine sensorische Erweiterung des Körpers (im Sinne eines aufklärerischen Sehens der Schule des Neuen Sehens). Das künstlerische Interesse von Van Houtryves Blue Sky Days-Serie verlagert den Fokus von der Erarbeitung eines „Neuen Sehens“ und den Effekten extremer Kameraperspektive auf ein Spiel mit der Erwartungshaltung der BetrachterInnen. Indem Van Houtryve durch seinen Umgang mit Perspektive und Motiv danach fragt, wie sich ein Drohnenangriff im vermeintlich sicheren westlichen Heimatland ereignen könnte, rückt er seine künstlerische Praxis in den Bereich des „kritischen Dokumentarismus“.28 Dabei scheint es ihm vor allem auf die Sichtbarmachung „post-panoptischer“ Kontrolle sowie auf eine Visualisierung der nicht-eindeutigen Erkennbarkeit von Menschen auf Drohnenbildern anzukommen, welche auf einer vermeintlichen Objektivitäts- beziehungsweise Transparenzbehauptung basieren. Wichtig hierfür ist zudem auch die Einbettung der Blue Sky Days-Bilder in einen journalistischen Kontext, da die Produktionszusammenhänge der Fotoserie und ihre Motivation offengelegt werden. Indem der Fotograf die Perspektive seiner Drohnenkamera auf das eigene, westliche Heimatland lenkt, entwirft er im Sinne Nicholas Mirzoeffs eine Strategie der „counter visuality”, welche das Verhältnis von Beobachtenden und Beobachteten, beziehungsweise Angreifenden und Angegriffenen, umkehrt.29 (Abb. 7)

Abb. 7: Tomas van Houtryve, Blue Sky Days, 2013. Silbergelatine-Print.

Die BetrachterInnen von Van Houtryves Fotografien bekommen die Willkürlichkeit und Entkörperlichung des Drohnenauges vorgeführt. Sie sind dazu angehalten, den zweifelhaften Blick militärischer Luftbilder, der vornehmlich auf der Deutung verpixelter Oberflächen beruht, zu hinterfragen. Wie auch die aktionistisch motivierten Interventionen Not A Bug Splat und Drone Shadow, ist die Fotoserie an einer Ethik gleichberechtigter Blickverhältnisse interessiert: Sie konzentrieren sich auf die Offenlegung „asymmetrischer“ Bildtechnologien und decken in ihren Bildfindungen Lücken und Manipulationen neuester Medienberichterstattungen auf, welche den Drohnenkrieg als „sauberes“ Unterfangen ohne sichtbare verwundete Körper verkaufen wollen. Indem sie sich auf die Sichtbarmachung digitaler Kontrolle und Aspekte technischer Manipulation von Drohnentechnologie konzentrieren, liefern sie einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Geheimhaltung und (Un-)Sichtbarkeit.


1 Douglas Coupland, Creep. URL: http://dismagazine.com/dystopia/76408/creep-douglas-coupland/ [26.7.2017].

2 Clare Birchall, Introduction, in: Clare Birchall (Ed.): The In/Visible, Living Books About Live, 2012. URL: http://www.livingbooksaboutlife.org/books/The_in/visible/introduction [26.7.2017].

3 Dan Gettinger, The Drone Primer. A Compendium Of The Key Issues, Center for Study of the Drone, New York 2014, S. 3.

4 Grégoire Chamayou, Théorie du drone, Paris 2013; hier zitiert nach: Grégoire Chamayou, A Drone Theory, London 2015, S. 38ff.

5 Chamayou 2015, S. 37.

6 Byung-Chul Han, Die Ethik des Drohnenkriegs, 12.02.2013. URL: http://www.matthes-seitz-berlin.de/artikel/byung-chul-han-die-ethik-des-drohnenkriegs.html [26.7.2017].

7 Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien 1996.

8 In diversen, internationalen Medien (CNN, The Guardian, et cetera) wurde über die Aktion berichtet, zudem existiert eine eigene Website zur Aktion. URL: https://www.theguardian.com/world/shortcuts/2014/apr/07/artists-give-human-face-drones-bug-splat-pakistan [26.7.2017].

9 URL: https://notabugsplat.com/about/ [26.7.2017].

10 So kritisierte Sontag in ihrem einflussreichen Essay „On Photography“ (1977) am Beispiel der Fotografien von Diane Arbus den „Glamour-versessenen“ Charakter ihrer pseudo-dokumentarischen „Opfer“-Fotografie auf das Schärfste: „Arbus’ Werk ist ein gutes Beispiel für eine Haupttendenz der anspruchsvollen Kunst in kapitalistischen Ländern: der Tendenz, moralisches und gefühlsmässig bedingtes Unbehagen zu unterdrücken, mindestens aber zu reduzieren. Ein grosser Teil der modernen Kunst zielt darauf ab, die Reizschwelle dessen, was entsetzlich ist, herabzudrücken.“ Vgl.: Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 2006, S. 44.

11 URL: http://edition.cnn.com/2014/04/09/world/asia/pakistan-drones-not-a-bug-splat/index.html [26.7.2017]; URL: https://www.theguardian.com/profile/mirza-shahzad-akbar [26.7.2017].

12 URL: https://news.vice.com/article/giant-art-installation-in-pakistan-tells-us-drone-operators-people-arent-bug-splat [26.7.2017].

13 Jan Boone, Pakistan court says former CIA station chief will face charges over drone strike, the guardian, 7.4.2014. URL: https://www.theguardian.com/world/2015/apr/07/former-cia-station-chief-pakistan-murder-charges-drone-strike [3.10.2017].

Greg Miller, U.S. launches secret drone campaign to hunt Islamic State leaders in Syria, The Washington Post, 1.9.2015. URL: https://www.washingtonpost.com/world/national-security/us-launches-secret-drone-campaign-to-hunt-islamic-state-leaders-in-syria/2015/09/01/723b3e04-5033-11e5-933e-7d06c647a395_story.html [15.10.2017]; sowie URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/drohnenkrieg-whistleblower-veroeffentlicht-geheime-dokumente-a-1058043.html [3.10.2017].

14 Han merkt hierzu passend an: „Der Drohnenkrieg wirft sowohl juristische als auch ethische Fragen auf. Die Kritiker erheben den Vorwurf außergerichtlicher Hinrichtung. Menschen werden hier oft nach sehr fragwürdigen Kriterien hingerichtet, ohne dass ihre Schuld bewiesen wäre. Der Verdacht genügt für die Tötung. Sie werden also umgebracht. Die gezielte Tötung durch Drohnen verletzt das Prinzip des Rechtsstaates. Die Befürworter weisen auf ihr Recht der Selbstverteidigung hin. Der Artikel 51 der UN-Charta lautet: ‚Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung.‘ Aber die präventive Tötung auf Verdacht hat insofern keine Legitimation, als sie ohne jede unmittelbare Bedrohung erfolgt. Getötet werden dabei auch ganz unschuldige Zivilisten.“ Vgl.: Byung-Chul Han, Die Ethik des Drohnenkriegs, 12.02.2013. URL: http://www.matthes-seitz-berlin.de/artikel/byung-chul-han-die-ethik-des-drohnenkriegs.html [26.7.2017].

15 URL: http://www.newyorker.com/tech/elements/the-drone-shadow-catcher [26.7.2017].

16 URL: https://www.dezeen.com/2014/04/29/drone-shadows-graphics-james-bridle-designs-of-the-year-2014/ [26.7.2017].

17 Man kann sich auf Flickr ein Handbuch mit Anleitung und Maßangaben herunterladen. URL: https://www.flickr.com/photos/stml/sets/72157638510036333/[26.7.2017].

18 Nicholas Mirzoeff, The Right to Look, London 2011, S. 279.

19 Vgl.: Tomas Van Houtryve/Tzvetan Todorov, Geschlossene Gesellschaften: eine fotografische Reise durch kommunistische Länder, Bern 2012.

20 Thomas Van Houtryve, Blue Sky Days, in: Harper’s Magazine, April 2014 Issue. Ein Jahr später gewann Van Houtryve mit dieser Fotoserie den zweiten Preis beim “World Press Photo Award 2015” in der Kategorie “Contemporary Issues”. URL: http://animalnewyork.com/2014/america-drone-tomas-van-houtryves-blue-sky-days/ [26.7.2017], sowie URL: http://www.worldpressphoto.org/collection/photo/2015 [26.7.2017].

21. Vgl.: URL: http://tomasvh.com/works/blue-sky-days/#4 [26.7.2017]. Zur Motivation im Umgang mit dem Medium sagte Van Houtryve in einem Interview: „How can America be involved in a decade-long war where the sky is buzzing with cameras, and yet the public remains totally in the dark? As drones fill the skies above America, how is the public likely to react? Will the sight of them eventually be as ordinary as seeing an airplane or bird, or will people start wishing for gray skies like the traumatized young Zubair Rehman?” Vgl.: Thomas Van Houtryve, A Sky Full of Cameras, in: National Geographic, 15. August 2014. URL: http://proof.nationalgeographic.com/2014/08/15/tomas-van-houtryve-a-sky-full-of-cameras/ [26.7.2017].

22 Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 196.

23 Stiegler 2006, S. 197f.

24 László Moholy-Nagy, The New Vision: From Material to Architecture, New York 1932, S. 178.

25 Wie der Fototheoretiker Bernd Stiegler betont, geht es Moholy-Nagy in seiner fotografischen Praxis vor allem um die Betonung der „apparativen Seite des photographischen Prozesses“ sowie um die „Souveränität der Photographie gegenüber der Wahrnehmung“. Für Moholy-Nagy liefert der Fotoapparat rein objektive Bilder, während das menschliche Auge das Gesehene immer an eine subjektive Assoziation und Ergänzung bindet. Vgl.: Stiegler 2006, S. 198.

26 Maria Engelskirchen, Zwischen Imagination und Geopolitik. Max Ernsts Europa nach dem Regen, in: all-over, Magazin für Kunst und Ästhetik, Nr. 4, Frühjahr 2013. URL: http://allover-magazin.com/?p=1702 [14.9.2016].

27 Einer der wichtigsten und ausschlaggebenden Faktoren für ein verändertes Fotografie- und Wirklichkeitsverständnis seit den 1990er Jahren ist fraglos im digitalen Wandel zu finden, der das Zeitalter der so genannten „Post-Fotografie“ einleitet. Mit Ersetzung des analogen Fotofilms durch einen Chip ändert sich die fotografische Information vom Indexikalischen ins Diskontinuierliche. Hierdurch besteht keine Kausalität mehr zwischen Referent und Fotografie, da das aus Algorithmen bestehende Bildprodukt viele, nicht mehr nachweisbare Veränderungen durchlaufen kann. Vgl.: William James Mitchell, The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge MA 1992.

28 Der Begriff des „kritischen Dokumentarismus” ist unter anderem auf Hito Steyerl zurückzuführen und thematisiert sowie problematisiert die vermeintliche Objektivität dokumentarischer Bilder, welche bestimmten ästhetischen und diskursiven Kriterien folgen. Vgl. Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit – Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008.

29 Nicholas Mirzoeff, The Right To Look: A Counterhistory of Visuality, London 2011.

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Im Überfluss die Orientierung finden

Zur Eröffnung der ersten Einzelausstellung von Laura Hinrichsmeyer (*1986, Sindelfingen) mit dem Titel Kennen Sie diese Frau [sic] im Wiener Artist Run Space Gärtnergasse grillten die Künstlerin und ihr Kollege Philipp Grünewald Hühnerherzen in einem schmalen, hochformatigen Metallofen im Garten.1 Anschließend verteilten sie diese auf Spießchen ans Publikum. Der vordere Bereich der Gärtnergasse blieb dadurch reine Ausstellungsfläche, während der dahinterliegende Garten eine Sogwirkung für das soziale „Gathering“ erzeugte und so die räumliche Trennung von „Opening” und „Ausstellung” deutlich machte. Darin äußert sich bereits das Ausstellungssetting, denn Artist Run Spaces bieten im Vergleich zu institutionellen Rahmen eine freiere Möglichkeit des Experimentierens an: nicht nur für das vorsichtige Zeigen der eigenen künstlerischen Produktion, sondern auch für die weitere Einordnung der künstlerischen Persönlichkeit in soziale Netzwerke und historische Kontexte. Gewissermaßen ist nicht nur wichtig, dass man in einem Raum gezeigt wird, sondern auch in welchem, welches Publikum erscheint und wer darüber redet. Diese karrierefördernde Zuordnung in ein künstlerisches Umfeld geschieht vielfach weniger zufällig als gezielt strategisch.

Abb. 1: Laura Hinrichsmeyer, Kennen Sie diese Frau, Mindmap, Text und Bild in Kollaboration mit Stine Olgod, Gärtnergasse, Wien 2017. Foto: Philipp Friedrich.

Kehrt man zum Hauptraum der Gärtnergasse zurück, findet man einen Stapel illustrierter „Mind Maps” statt klassischer Pressetexte vor (Abb. 1). Sie bieten den Einstieg zur Ausstellung, die die Verdoppelung und Überschneidung der faktischen und medialisierten Realität zum Thema hat. Die „Map” im A3-Format referenziert auf die sichtbarsten Elemente der ausgestellten Leinwände: Wie auf einem Brettspiel versuchen sich anonymisierte Figuren zwischen Pop-Zitaten, Sprechblasen mit Sätzen wie „Illusions are her Game” oder „Millenials Plaque” und klassischen feministischen Avantgarde-Künstlerinnen wie Eva Hesse oder Lee Lozano zurecht zu finden. Diese entwurfsartigen Orientierungshilfen ähneln dabei auffällig den alten Zines der Künstlerin Jutta Koether aus den 1980er Jahren.2 Die Maps legen die persönliche Ausrichtung Hinrichmeyers und ihr feministisches Selbstverständnis von vornherein fest, um die Ausstellung wie eine Hintergrundfolie zu begleiten: sowohl auf formalästhetischer und stilistischer Ebene als auch durch die Annäherung der eigenen Position an die Geschichte bekannter, weiblicher „Rollenbilder“.

Die fünf Gemälde an den Wänden sind in ihrem Format ähnlich groß und hoch wie der Ofen im Garten und geben eine Fülle an Symbolen, Zitaten und Portraits wieder (Abb. 2). Diese sind eingeteilt in einzelne Bildfelder, die mit einer versierten Pinselführung gemalt und untereinander verbunden wurden. Dabei folgt die Technik des Farbauftrags mehr der Linie als der groben farbigen Fläche. Die Farbpalette reicht überwiegend von schlammigen gelben, grünen, roten und braunen Tönen hin zu schwarz, wodurch die Bilder eine düstere, tragische Atmosphäre entwickeln (Abb. 3). Ein flackender und unruhiger Effekt wird durch die Beimengung von unterschiedlichen eisblauen, pinken und orangen Farbnuancen erzeugt. Ohne jeglichen malerischen Gestus – wie etwa ein affektreiches, dickaufgetragenes Klatschen von Farbe auf Leinwand – zu exponieren, zielen die Bilder also geschickt darauf ab, in einer übertrieben „phantasievollen“ Art Bildüberlagerungen zu transportieren: etwa wenn die Darstellungen ihrer Freundinnen in den Bildern Anleihen an Sci-Fi Stereotypen nehmen. Dasselbe gilt auch für die gemalten Schlangen und Augen, die aus den Bildern heraus der Betrachterin entgegenblicken und dadurch den narzisstischen Impetus einer jeden Solo-Show und des paradigmatischen Selfies der zeitgenössischen Bildkultur demonstrieren.

Abb. 2: Laura Hinrichsmeyer, Kennen Sie diese Frau, Ausstellungsansicht, Gärtnergasse, Wien 2017. Foto: Philipp Friedrich.

In einer weiteren Kontextualisierung wird neben dem eigenen Netzwerk auch der Artist Run Space selbst angesprochen. Weil die Gärtnergasse im Zeitraum der Ausstellungskonzeption umgezogen ist, dienen die Türen des alten und neuen Raumes der Gärtnergasse den einzelnen Bildfeldern als motivischer Malgrund. Durch das mimetische Abmalen realer Räume transferieren die Bilder den alten Raum ins Hier und Jetzt des neuen. Symbolisch entsteht durch diesen angedeuteten Trompe-l’Œil-Effekt ein fiktiver Zugang zu Orten und Zeitpunkten, der „Eintritt“ in eine erweiterte Realität verschafft. Diese Erweiterung dehnt sich in den virtuellen Raum aus und wird anhand von Play-, Pause-, Forward-Buttons und anderen bekannten Icons sowie dem Kopf von Donald Trump als Symbol des „Post-Faktischen“ und der „Alternative Facts“ verstärkt. Zusätzlich wird den Bildern die eigene Online-Erscheinung vorweggenommen, indem sie einen Hinweis zur Persönlichkeitsdarstellung im Netz legen. Denn in ihren schmalen Formaten und gereihten Bildfeldern erinnern sie an endlose Instagram- und Newsfeeds, die in ihrer rhizomatischen, verlinkenden Anordnung, Informationen und Verbindungen durch wiederkehrende Motive darstellen. Daraus ergibt sich eine Malerei, die versucht, unterschiedlichste Formen zirkulierender Bilder und deren Überlagerung von Zeitebenen, Räumen und dem Eigenen zu vereinen. Genau in diesem Netzwerk findet die Rezeption der künstlerischen Person und ihrer künstlerischen Produktion statt, die von der Künstlerin in den Bildern aufgegriffen dann zu deren Strategie wird. Der Verweis zum ständigen Begleitgedanken der Onlinerezeption wird somit zur imaginären Selbstbeschreibung, in welcher der Blick von außen zum bestimmenden Moment der eigenen Darstellung wird.

Abb. 3: Laura Hinrichsmeyer, Kennen Sie diese Frau, Ausstellungsansicht, Gärtnergasse, Wien 2017. Foto: Philipp Friedrich.

Der Wendepunkt der Ausstellung manifestiert sich jedoch draußen, an der gefühlten „Peripherie” des Ortes, nämlich bei der Einfahrt zum Parkplatz der Gärtnergasse. Hier befindet sich ein Gatter mit Sperrmüll und – ganz unscheinbar – ein riesiger Stuhl aus Pappmaché, der in der Ecke lehnt (Abb. 4). Er gehört zur Möbelgruppe zweier fragiler, grauer Tischchen mit bronzenen Schlangen am Boden, die sich im Ausstellungsraum befindet. Auf den ersten Blick scheint dieser Stuhl, der beinahe übersehen wird, als einsamer Thron (abseits des Ausstellungsgeschehens) achtlos in die Ecke gestellt worden zu sein – noch dazu an einem Ort, der von den Besucherinnen nicht wirklich begangen wird. Es ist eine alberne aber umso „aufgeblasenere“ Geste, die unvermeidlich an eine Kölner Tradition von Martin Kippenberger erinnert, in der die Arbeit einen absurden, langsam entfaltenden Witz formuliert, der keine eigentliche Pointe besitzt.3 Oder warum sollte ein riesiger, unpraktischer Stuhl an diesem Unort platziert werden, der dadurch erst tragisch-melancholisch und komisch wird und in seiner Außenseiterposition innerhalb der Ausstellung umso „liebenswerter“ erscheint?

Abb. 4: Laura Hinrichsmeyer, Kennen Sie diese Frau, Ausstellungsansicht Außenbereich, Gärtnergasse, Wien 2017. Foto: Philipp Friedrich.

Geht man in den Garten zurück, findet man zwei grün-glasierte, spitzförmige Tonreliefs, die – vom Boden aus nach oben – auf alten niedrigen Stellwänden befestigt wurden. Sie zeigen figurative Formen von Gras und gezeichneten Frauenköpfen (Abb. 5). In diesen „Wiesenfortsätzen“ kriecht der Grasboden wieder in das Format des Bildes hinein, um gleichzeitig den belasteten Umweg über das skulpturale Relief zu machen. Damit wird nicht nur das ambivalente Verhältnis von Malerei und Skulptur angesprochen, sondern auch eine rein medienspezifische Ausstellung zu einer transgressiven Malerei hin geöffnet.4 Umso mehr spiegelt sich in Bildern und Skulpturen der Aufgriff einer revidierten Malereidebatte wider, die trotz angereicherter Formate wie Performance, Installation und Musik immer Malerei bleiben will, die ihren Rahmen dehnt, diesen aber nicht verlässt.

In letzter Konsequenz wurde die Toilette der Ausstellung mit einer kleinen Collage über dem Spülkasten bespielt, die Bildausschnitte verschiedener neuzeitlicher Malereien und die anonymisierte Spielfigur aus der Mindmap zeigt. Wie das Ziel auf einem Spielbrett findet hier der Ausstellungsrundgang sein Ende. Dieser führte vom zentralen und konkreten Ausstellungsraum hinaus in jeden räumlichen Winkel, steckte dabei Malerei und Material ab, um im Finale mit einer frechen aber vielleicht überflüssigen Erklärung am intimsten Ort eines Ausstellungsbesuches aufzuwarten. Umso ausgereizter wird diese Erfahrung als da auf einem USB-Stick zur Ausstellung noch ein 5:12-minütiges Musikstück mit dem Titel Profiling hinzukommt. Der Dialog, der zwischen zwei Personen mehr oder weniger hin und her läuft, wurde von Hinrichsmeyer eingesprochen und lässt die Frage des anderen jeweils unbeantwortet. Allgemeinplätze wie „Why people feel so less?”, „Do you read a book, everyday?” oder „Can you give me a feedback?” verlaufen ins Leere und klingen mit Elektro-Sounds und Sci-Fi Klängen aus. Es ist ein Brückenschlag zum Anfang der Ausstellung der zugleich konkret nach der eigenen Position und dem „Profiling“ in einem sozialen Netzwerk fragt ohne je beantwortet zu werden – und trotzdem ganz existentiell für den Beginn einer künstlerischen Karriere ist.

Abb. 5: Laura Hinrichsmeyer, Kennen Sie diese Frau, Ausstellungsansicht Außenbereich, Gärtnergasse, Wien 2017. Foto: Philipp Friedrich.

Schlussendlich bleibt das Gefühl einer Übersättigung übrig, das thematisch auch in den Bildern wiederkehrt und sich in allen Ebenen der auditiven, haptischen, visuellen und geschmacklichen Wahrnehmung der Besucherin eingeschlichen hat. Auffallend bleibt mit welcher Aufdringlichkeit die Themenbearbeitung und Informiertheit, auch über die zeitgenössische Debatte einer erweiterten Malerei oder der feministischen Positionierung als Künstlerin, in der Ausstellungsanordnung auftritt: Zu viele Codes, zu viele Bilder, zu viele Symbole und eigentlich auch zu viele Kunstwerke. An jedem Ende des Ausstellungsraums befindet sich ein kleines Objekt, ein Hinweis auf der programmatischen Mindmap, die strategisch versucht, die Eindringlichkeit der komplexen Überfluss-Thematik zu verdeutlichen. Gleichzeitig kann aber der Vorwurf gebracht werden, dass es sich hierbei um eine Ausstellung handelt, die abbildet und bisweilen selbst affirmativ am Überflussprozess teilnimmt. Hinrichsmeyers düster angehauchte Arbeiten dienen dann dem Abstecken der sozialen, digitalen und räumlichen Grenzen, innerhalb derer es sich zu orientieren gilt – doch vermeiden sie es, eine Alternative für die augenscheinliche Verzweiflung anzubieten. Sie arbeiten mit dem, was an dystopischer und bedrängender Überflutung vorhanden ist, und zielen darauf ab, im undefinierbaren Simulacrum auf Grund zu stoßen, sich neu zu positionieren und den eigenen Weg darin zu finden. Die Ausstellung funktioniert daher als gesamtes Konzept und durch die Stärke der Malereien, in der die einzelnen strukturellen Elemente oder Objekte auf allen Ebenen immer aufeinander Bezug nehmen und dadurch eine Dichte und Fülle an Information generieren. Sie geben im Spiel mit Symbolik und Referenzmittel die deutliche Auseinandersetzung einer zeitgenössischen Malerei- und Technologiedebatte wieder. Man kann aber auch vorsichtig fragen, ob die Bestätigung und Abbildung der aktuellen melancholischen und furchteinflößenden Realität allein zielführend ist, oder ob nicht vielmehr das Aufzeigen möglicher Gegenentwürfe produktiv auf die Realität rückwirken kann.

Laura Hinrichsmeyer: Kennen Sie diese Frau, 4.–21.5.2017, Gärtnergasse, Wien


1 Laura Hinrichsmeyer ist genau wie Philipp Grünewald Teil des 8-köpfigen KünstlerInnenkollektivs XACTO Bar, einer klar formulierten Koch- und Dinnerperformance.

2 Vgl. Jutta Koether, massen – malerei und versammlung, Vienna 1991.

3 Vgl. Gregory H. Williams, Permission to Laugh. Humor and Politics in Contemporary German Art, Chicago 2012, S. 125 und Stefanie Lieb, Tierisch Komisch. „Hühnerdisco“, „Bärensocke“ und „Fred the Frog“, in: Roland Kanz (Hg.), Das Komische in der Kunst, Köln 2007, S. 299-304. Ich denke hier assoziativ an Martin Kippenbergers „Betrunkene Laterne“ (Köln 1988), oder gar an seine U-Bahnschächte „Metro-Net. Subway around the World“ (seit 1993), die er irgendwo in der Welt aufstellen ließ.

4 Vgl. David Joselit, Painting besides itself, in: October, 130, 2009, S. 125-134.

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Cut the cords

Mute existence, uncommunicable and exempt from any possibility of equality or commensurability (lacking any considerable middle ground with the social body) – an impossible proposition to uphold. It is an existence embedded only with a private sense, a sort of sensus privatus that even for Kant results only in madness. And what is madness, for instance in the context of the psychoanalytic situation, if not putting into speech the unspeakable, the transition of an a-communicable neurotic into the communicability of analysis? The reading, the mapping, and the speaking. The path from sensus privatus to sensus communis. Even as Kant’s certainty of common sense (the cognitive base of communality and sociality and the implicit presupposition of a naturally present and correct thought that finds its critique not only in Nietzsche but following his lead also in Deleuze) gives way to a sort of common non-sense the assertion of communality seems to persist.

The assertion of which could also serve as a cynical ‘good riddance’ to the exhibition Next of skin that finds itself even more communicable in its attempt of a-communicability. The neatly coded context of an exhibition space, an exhibiting event where the artworks form snares and obstacles for the viewer’s comprehension, fuel only the most frivolous conversational giggling from the young cultural intellectuals in attendance.

The exhibition presents four Slovene artists: Andrej Škufca, Živa Božičnik Rebec, and the duo Kladnik&Neon. It is curated by Tjaša Pogačar in collaboration with Marko Bauer, and consists of five artworks.

Cynical formulas scratch the surface that their artworks dexterously avoid. Not with profound depth or an elusive essence that art has woven through the many decades into its blanket of mystique, but with a surface that constitutes a completely different field than that of art.

There is no more beauty behind the unrepeatability of everyday banality, no more profundity in the surface of contingency, no more sense-less romanticism of Bas Jan Ader or the cynical ‘a-cynicism’ of NSK. There is even no more blatant transparency of critique. Instead, the works exhibit the banal banality. A vast surface or, rather, a stain-resistant plastic dish purchased on one of those infomercial-filled late nights of the past, where the stain is the beaten spirit behind the mysteries of life.

The surface does not emanate a communicable a-communicability. No sublime nor sublimation. It is cleansed of its authentic core, although cleanliness may not be the most suitable reference. It lies a-communicable through and through, a semblance of sense or meaning that is not decipherable by the spectator, nor able to be psychoanalytically analyzed. It is political, but only as long as it severs the Aristotelian tie between speaking and political being.

So what is exhibited? The exhibition layout in its clean and minimalistic design has a rather stacked effect: the artworks in a narrow exhibition space all face the entrance, making the usual walk around the exhibition space almost, if not completely, redundant. ‘Move along… nothing to see here folks’ could as well be the curatorial voice that my imagination (references to Kant’s economy of senses seem persistently to stalk me) insists on pinning to the curator.

Fig. 1: Andrej Škufca, sk234, 2017, PLA, 3D print, 23 x 11.5 x 11.5 cm. Photo: Lara Žitko.

The artwork in the foreground, the smallest, the starting point, is an object by Andrej Škufca, entitled sk234 (Fig. 1). The object evades recognition and identification as it consists of almost nothing else but recognizable elements of design. The object is therefore without an apparent or intended function, as much as without any particular art related a-functionality or disinterestedness so prominent in the classic lingo of aesthetics. It is neither an everyday object nor art, nor a provocation of anything but taste in general. It is simply lame; no extensive interpretation needed. It resists anthropomorphization to the extent that it would be inappropriate to say it does not intend to be anything more than it is since saying that would already ascribe it agency. sk234 is not indifferent, nor does it induce indifference in the spectator, but it is itself indifference that could point toward the implicit banality of consumer logic behind design, if that would not already imply a certain interest and purpose on its behalf.

Fig. 2: Živa Božičnik Rebec, TOWEL 1, 2017, latex towel collection, cromed steal, latex, 160 x 100 cm. Photo: Lara Žitko.

Close to sk234 is TOWEL 1 (Fig. 2) by Živa Božičnik Rebec, a ‘latex towel collection’. It consists of a chrome-like stand and a hanging fold of latex that, according to the title, may resemble a towel with its hygienic intimacy of caressing one’s skin. The latex inscribes an association of caressed skin onto the towel itself through its pink/coral tone and wrinkly structure (inscribing the relation of caress-ness into the object’s own becoming). As the pattern of the latex differs on each side, and as these organic structures are disturbed by an inorganic straight line that resembles a manufacturing seam, the associated intimacy and its organicity fall apart in an indecipherable drama of inorganic surface structures.

Spirit Level (Fig. 3), a piece by the same artist, consists of a hefty florescent object lying on a soft blue foam surface, resembling a yoga-mat. A similar referential dynamic as in TOWEL 1 takes place here. This presentation differs from the work’s previous presentation at the Academy of Fine Arts in Ljubljana, where the object was placed on an upward-elevating foam with greenish surface structures looking like fungi-scales and accompanied by a photograph of a man with long ruffled hair, dressed in white, presenting the object on his palms with a meditative gaze. The reference to ‘spirit’ was a bit clearer and direct in this past presentation, whereas now it verges on disappearing as the ground placement, lacking the previously present topology of ascent, refers only vaguely to yoga. However, the structure of the work remains similar. The classic ascent to a desired spirit level (leaving the banal and pain-ridden earthly sphere behind) gives way to an expansion of a flattened or leveled sphere where the earthly and ideal collide and merge. It replaces the value of height with the level of balance where a completely technical approach is taken (thus the water-ruler). Spirituality here is an immanent and highly technical endeavor: in the flattened world truth, god and the afterlife become things of measure and proportion. It coincides with the expansion of the egocentric subject through its attempt to better him/herself by constantly tweaking his or her everyday routines (be it dietary, fitness, etc.). A balancing act of tweaks and tricks that brings the spiritual down to the level of personal wellness.

Fig. 3: Živa Božičnik Rebec, Spirit Level, 2017, glass, colouring, water, foam, 130 x 80 cm. Photo: Lara Žitko.

This leads us to the last two works by Kladnik&Neon, where the previously mentioned tweak in the presentation (the reduction to a yoga mat) gets its glorified exposition. Safe space, a CGI animation, and Quia ego sum tanti (‘Because I’m worth it’), a print on tarp (Fig. 4), both address fitness as a process of degradation of the Latin saying ‘mens sana in corpore sano’ (‘a healthy mind in a healthy body’). Here, mind and health get lost in the inflation of the body: its endless growth of muscle that moves toward a point where expansion surpasses the question of taste and human form. Something that is also reflected in the re-envisioned classicism of the artists’ design that is polished to the point of surpassing any notions of kitsch, while still remaining firmly rooted in the this-worldliness of its own neoliberal logic.

Fig. 4: Kladnik&Neon, Quia ego sum tanti, 2016, print on tarp, 150 x 250 cm; Kladnik&Neon, Safe space, 2016, 3D motion graphics, 6’8”, loop. Photo: Lara Žitko.

What binds the totality of the exhibition together is a tendency to reach, if not actually realize, a surface where there is no depth of essence nor height of truth. No dark mysteries of art nor gleaming light of science. A surface that radically avoids meaning although it constantly creates a semblance of it. It speaks, but only as long as we are the ones putting speech onto it. By itself it is a-communicable. Nothing worthy to discuss (with or about).

In this, the works defect from the already proliferated use of Jacques Rancière’s conception of the politics of aesthetics in local and international art production. If there is anything political in this exhibition, it definitely does not concern the emancipation of a spectator. Instead it addresses that which Rancière’s conception of politics is lacking.1

The artworks namely address the strange ambivalence surrounding one of Rancière’s main presuppositions for his endeavor: radical equality. The latter seems to replace the idea of consensual workings of a body politic with one of discord, thus challenging the anthropologic foundation of politics (referring back to Aristoteles’ idea of a bios politicos on which politics is founded). Yet it also paradoxically reinstates a similar foundation as that of Aristotle as it entails a sort of primary understanding that disregards the exclusions made by the logos:

“There is order in society because some people command and others obey, but in order to obey an order at least two things are required: you must understand the order and you must understand that you must obey it. And to do that, you must already be the equal of the person who is ordering you. It is this equality that gnaws away at any natural order”2.

Rancière’s conception is limited to a subject with ‘an intention to communicate’3, to ‘a speaking being’4. Here, communicability re-enters the scene and simultaneously pushes all the domestic pets and other liminal beings of understanding out of the political situation that Rancière envisions as a solution to the excluding logos.

The a-communicable is, yet again, not a possibility for political consideration. And if there is any political potential in it, the path through the banal banality, that which this exhibition attempts to traverse, poses a way to explore it. It tests the limits of both interestedness and disinterestedness, aiming at those rare moments in contemporary art when its elusive character provokes one to ‘kick it’ senseless – as little sk234 unintentionally was at the exhibition opening.

To conclude, there is not much to see, and what there is, does not require a lot of strain. Perhaps the spectator of the 20th century will not be abolished by way of engagement or action, but of atrophy.

Domen Ograjenšek is a Slovene freelance writer and curator, currently based in Vienna, where he continues his studies as a doctoral candidate at the Academy of Fine Arts Vienna, researching the political impossibilities of contemporary exhibiting tactics. He has worked as an editor of Šum – Journal for Contemporary Art Criticism and Theory, and Art-area (a bi-monthly radio show dedicated to contemporary art on Radio Študent), and has been part of exhibition projects.

Next of Skin, 10.–23.4. 2017, Glass atrium of Ljubljana Town Hall


1 “The images of art […] help sketch new configurations of what can be seen, what can be said and what can be thought and, consequently, a new landscape of the possible.”, Jacques Rancière, The Emancipated Spectator, London and New York 2009, p. 103.
2 Jacques Rancière, Disagreement: Politics and Philosophy, Minneapolis and London 1998, p. 16.
3 Jean-Philippe Deranty and Alison Ross, The Evidence of Equality and the Practice of Writing, in: Jean-Philippe Deranty/Alison Ross (eds.), Jacques Rancière and the Contemporary Scene, London and New York 2012, pp. 1–14.
4 Todd May, Rancière and Anarchism, in: Deranty/Ross 2012, pp. 117–128.

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Rektangulierung

Der Philosoph Manfred Sommer legt mit seiner Monografie Von der Bildfläche den Versuch einer Archäologie der Lineatur, so der Untertitel, vor. Er hat sich dabei nicht weniger vorgenommen, als den Umständen nachzugehen, wie wir zur Bildfläche gekommen sind, was wir über die Geschichte hinweg über den Prozess ihrer Entstehung beziehungsweise Entwicklung lernen können und welche Konsequenzen das auch für uns als NutzerInnen dieser Flächen hat. Die Bezugskonstanten dieser ambitionierten Unternehmung sind zahlreich: Neben der Vor- und Frühgeschichte oder der Anthropologie ist Edmund Husserls späte Philosophie eine zentrale Referenz für Sommer.

Husserls Hinwendung zu Geschichte und Lebenswelt, die er in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie vollzog, beschreibt, etwas verkürzt gesagt, die titelspendende Krise der Wissenschaften als Ausklammerung des menschlichen Subjekts aus der neuzeitlich-modernen, positivistisch ausgerichteten Forschung. Dass Sommer ausgerecht in sprichwörtlichen Zeiten wie diesen, die von Debatten zwischen radikalontologischen MaterialistInnen und subjektorientierten EpistemologInnen mitgekennzeichnet sind, in seiner Studie produktiv auf das Subjekt abzielt, ist auf jeden Fall positiv anzuerkennen. Es verwundert deshalb nicht, dass Phänomenologie und Kulturanthropologie ihn dazu bringen, im menschlichen „Tun“ (S. 11) eine Aktivität zu sehen, die zwischen allem „was rechteckig aussieht“ (S. 11) Verbindungen stiftet. Das Rechteck gilt dem Autor dabei, je nach Betrachtungsweise, als Figur oder als Grund, die sich akkumulierend in ihrer Mehrzahl aufeinander stützen und schichten. Seine recht programmatische Geschichte der „Rektangulierung“ (erstmals S. 13), so sein Neologismus, legt er als Genese einer Ausformung und Wandlung von Gestaltung beziehungsweise gegenwärtigem Weiterwirken an: „Ich untersuche, wie in den archäologisch faßbaren Formationen sich elementare Muster ausbilden und wandeln, sich konsolidieren und zu lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten sedimentieren. Eine Untersuchung dieser Art könnte man als gestaltgenetische Archäologie bezeichnen.“ (S. 61) In Anschluss an Husserl und an Maurice Merleau-Ponty will Sommer rekonstruieren und beschreiben, wie die Bildfläche – also „was übrig bleibt, wenn alles von ihr verschwunden ist“ (S. 49) – zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Die von ihm realhistorisch gelesene Archäologie setzt er entsprechend in Bezug zum Lebensvollzug des Menschen mit (und: in) all seinen Praxen. Geschichtlich geht Sommer dabei von einer, so mein Eindruck, neolithischen Wende aus, in der erste Felder bestellt, erste feste Häuser errichtet, Stoffe gewebt und verarbeitet wurden. In diesen Aktivitäten sieht der Autor ein Stiften von Kulturtechniken mitabgebildet, die das Rechteck als neue Bildfläche präferieren. Die hier angelegte Lineatur und Rasterung setzt er im ersten Hauptabschnitt in Bezug zu Leon Battista Albertis De pictura (1435), und mehr noch zu Albrecht Dürers Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes (1538). Dürers Bild liest Sommer, unter Bezugnahme auf die Zentralperspektive als Wahrnehmungsangebot und nicht als Konstruktionsanleitung, überzeugend als den verzweifelten ersten Versuch über das, was noch kommen mag. Dabei rechnet der Autor allerdings nicht ein, dass mit dem Bild an sich auch schon die Überwindung der Krise des Anfangens vorliegt. Sommers Analyse von Dürers Schnitt führt beispielhaft seine phänomenologische Betrachtungsweise vor: Sehen wird als aktiver Akt verstanden, als Beteiligung der Wahrnehmenden – und immer als eine „reine Ikonik reduzierter Sichtweisen“ (S. 32). Dieser auf Deskription fokussierte Ansatz, der gerade aufgrund des Anspruchs auf bloße Deskriptivität nicht frei von möglichen Problematiken ist, prägt die gesamte Monografie.

Der zweite, umfängliche Abschnitt ist dann der Entstehung des Ackerbaus und der Ausgestaltung des rechteckigen Felds gewidmet. Der/die Bauer/Bäuerin wird bei Sommer als „Akteur“ (S. 13) beschrieben, der das Rechteck weniger schafft, als dass es ihm vielmehr während er seine pflügende Tätigkeit vollzieht so gerät. Über drei Stränge entwickelt der Autor seine Auseinandersetzung mit der landwirtschaftlichen Kultivierung: erstens die „Erdverbundenheit“ (S. 66) des Bauern als auch des Malers, wobei ihm Plinius als Hauptzeuge gilt und Husserl einmal mehr gegen Heidegger ausgespielt wird; zweitens der permanente, streckenweise wettbewerbsartige Versuch, eine vollkommen gerade Linie zu ziehen, wobei sich die Idealform des Rechtecks eben nicht als gegeben, sondern als Ergebnis einer prozessualen „Vervollkommnungspraxis“ (Husserls Begriff; zitiert bei Sommer unter anderem auf S. 74) mittels „leiblich-motorischer“ (S. 176) Weiterentwicklung beschrieben sieht; und drittens die Fassbarmachung einer holistischen Wirklichkeitsbeziehung, die deutlich an das erste Hauptkapitel anknüpft, da sie eine Plinius-Lektüre nutzt, um über eine herausgearbeitete Reaktivierung von Evidenz die Aktivierung im Betrachten festzuschreiben. Ein über André Leroi-Gourhan argumentierter „anthropolgische[r] Gesamtentwurf“ (S. 522) lässt Sommer die Dominanz des Rechtecks erklären, wobei die von ihm mitverhandelten „Rundungsphänomene“ (S. 138) kein Ausdruck von Ergänzung, sondern von Antagonismus sind: Auf das von Sommer beispielsweise sehr ausführlich beschriebene „konzirkuläre Rundfeld“ (S. 139) folgt dann eben die apostrophierte „Rektangulierung“ (S. 13). Es ist dies für Sommer also eine Gestaltung, die eben kein vorgegebenes geometrisches Ende mehr kennt, sehr wohl aber einen Rand – oder eben einen (historisch später folgenden) Rahmen.

Konsequent führt der Autor im dritten Hauptkapitel deshalb vom Feld zur Wand, zu Fenstern, Türen und zwangsweise zum Haus. Für die Beschreibung der „Domestikation“ des Bildes an der Wand, also die Vervollständigung seiner in sich schon angelegten Heimisch-Werdung, knüpft Sommer überzeugend an die antike Philosophie an: Über Aristoteles argumentiert er den topos oikos, also den Ort, dem ein Element immer schon zustrebt und an dem es sein will; über die Stoiker reaktiviert er das Prinzip der oikeiosis, also der existenziellen Hauswerdung des Menschen. Im Hausbau ahmt, so Sommer, der steinzeitliche Mensch die „originäre Formungstätigkeit“ (S. 301) der Natur nach. Mit der Wand kommt es zu einer Vertikalisierung der betrachteten beziehungsweise betrachtbaren rechteckigen Fläche. Den sesshaften Ackerbauern definiert Sommer dabei in Abgrenzung zum Jäger und seiner mobilen Zeltstatt – ein Umstand, der mit dem vierten, abschließenden Kapitel zu korrespondieren scheint. Überraschend ist dabei aber, dass Sommer in der kürzer gehaltenen Auseinandersetzung mit der „Webtechnik“ und der „Textil- und Selbstgestaltung“ dem stofflichen Gewebe den Vorrang über Acker- und Wandflächen einräumt – eben weil es aufgrund seiner Beweglichkeit am besten zum Menschen passen würde, er uns also „im Stoff zur Mobilität befreit“ (S. 518) sieht.

Manfred Sommers selbsterklärtes, immer wieder behauptetes Themenfeld ist die „Gestaltgeschichte“ (S. 14), ganz gleich ob seine Beispiele aus der Urgeschichte oder der Architekturtheorie stammen. Von der Bildfläche ist geprägt vom phänomenologischen Wunsch, Entwicklungen zu durchschauen und Voraussetzungen zu verstehen. Seine Archäologie der rechteckigen Fläche und der Lineatur entfaltet sich, insbesondere in den ausführlichen Abschnitten über Grund und Boden, als eine „Untergrund-Exploration“ (S. 188), die auch „Kultur-Explikation“ (S. 188) sein möchte. In ihrer methodologischen Gerichtetheit und der Konzentration auf die verhandelte Sache will er aber erklärtermaßen ausschließlich auf „das Auffinden von Symptomen und deren Verwendung als Indizien“ (S. 404) hinaus, auf das Beschreiben verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Flächen und Linien. Sommers klare philosophische Positionierung mag diese streckenweise interpretationsscheue Ausrichtung und das damit einhergehende Aussparen zentraler neuerer Texte zum Thema (wie etwa von Jacques Derrida, Michel Serres oder Tim Ingold) erklären helfen – die fehlenden Bezugnahmen zu aktuellen bildphänomenologischen Arbeiten bleiben aber bei aller Überzeugungskraft des Buchs trotzdem auffällig. Unabhängig davon erweist sich die Lektüre der Monografie als lohnend, nicht zuletzt auch wegen der vielen Einblicke und Details in den eingeflochtenen Unterkapiteln (zum Beispiel zur Gestalt des Labyrinths, über die Linearisierung der Schrift oder den gewitzten Bezügen zu Ovids Metamorphosen). Im übertragenen Sinn lässt sich Manfred Sommers Von der Bildfläche als eine phänomenologische Betrachtungs- und Wahrnehmungslehre lesen, die sich nicht zuletzt über die Beschreibung von Abwesenheiten – wenn er etwa über Fenster, Öffnungen und Aussparungen schreibt – formuliert sieht.

Manfred Sommer
Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
544 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 39,10 Euro

 

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