Strömungsabriss Teil 1: Rafael Lutter

Die vorliegenden Wachsblockzeichnungen sind eigens für die Publikation bei all-over entstanden. Die Herausforderung lag einerseits darin, dass sich eine einfache Wachsblockzeichnung auf Papier in ein elektronisch generiertes und scrollend zu rezipierendes Online- Format verwandelt – und anderseits im bestehenden Wunsch, dass auch in diesem Kontext die Zeichnung ihre direkte sinnliche Wirkung entfaltet.

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Die hier gezeigte Bildstrecke erscheint begleitend zur Ausstellung „Strömungsabriss” von Rafael Lutter und Max Leiß, vom 13. bis 27. Oktober 2013 im Ausstellungsraum Klingental in Basel.
www.ausstellungsraum.ch

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„Hocus-pocus in your Eyes”

Mathias Poledna, Imitation of Life, 2013

Abb. 1-3.

„Hello, how did you get here?”, zwitschert das Vögelchen im blauweißen Federkleid dem schlafenden Esel ins Ohr, seinerseits Held oder Antiheld des dreiminütigen, handgefertigten Animationsfilms Imitation of Life des österreichischen Künstlers Mathias Poledna. Der Esel, im weißen Matrosenanzug mit den blauen Streifen und dem roten Halstuch im Fahrwasser einer märchenhaften Waldkulisse treibend, schlägt langsam die großen, erstaunten Eselsaugen auf, zuerst das rechte, dann das linke, zwinkert einmal, zweimal, wendet das traumsäumige Eselshaupt nach links, nach rechts, lässt den Blick über das Blau des Sees, das Weiß der Wellen am Uferrand, über die mächtigen, braunen Baumstämme mit den grünen Blättern in die horizontlose Ferne schweifen, während der Ast unter ihm in Bewegung gerät. „I’ve got a feeling you’re fooling…“, trällert der Esel im Gleichklang mit dem orchestrierten Song, streckt die weiß behandschuhten Eselshände nach einem Ast der weißblühenden Blüten am grünbraunen Uferrand aus, „I’ve got a notion it’s make believe…“, flattert das Vögelchen, verwandelt sich das Blumenbouquet in einen Schmetterlingsschwarm, das Eselsspiegelbild in einen kugelrunden Fisch mit großen, schwarzen Glupschaugen, der kugelrunde Fisch in eine Luftblase, zerplatzt das Luftblasenspiegelbild: „Hocus-pocus in your Eyes“.

Dutzende Hände und ein komplettes Filmorchester haben dem äußerst zeit- und kostenintensiven, analog gearbeiteten Animationsfilm Mathias Polednas ihre visuelle und akustische Signatur aufgeprägt. Über fünftausend Zeichnungen, Skizzen und Aquarelle, die im Zuge der Arbeit an Imitation of Life entstanden sind, hat der in Los Angeles lebende österreichische Künstler, frame by frame, zu einem Wetterleuchten der Animationskunst verdichtet, das den österreichischen Pavillon auf der 55. Biennale in Venedig im Endlosloop durchzuckt und seine BesucherInnen auf eine Zeitreise in die goldene Ära Hollywoods schickt – mitten in die von Adorno und Horkheimer ebenso frühzeitig wie einflussreich kritisierte Kulturindustrie.1 Ein halbes Jahrhundert nach Adornos und Horkheimers finsterer Diagnose ist das Klagelied von der Grenzenlosigkeit der dem Äquivalenzgesetz des Kapitals unterstellten Kulturindustrie sowohl in die Headlines der Feuilletons als auch in die Köpfe aller derer durchgedrungen, die heute Kunst machen, ausstellen, ansehen und kaufen. Also unternimmt der diesjährige Kurator Massimiliano Gioni unter dem Motto des Enzyklopädischen Palastes den verzweifelten Versuch, das in der ökonomischen Kampfzone gestrandete Schlachtschiff der zeitgenössischen Kunst mit den Waffen des Randständigen aufzurüsten. Also lässt Jeremy Deller im britischen Pavillon den längst verstorbenen, viktorianischen Designer und Sozialisten William Morris auferstehen und jene Yachten versenken, die an den Anlegestegen Venedigs nichtsdestotrotz und völlig unbeeindruckt vor Anker gehen. Also lässt Alfredo Jaar im chilenischen Pavillon nicht nur die Yachten vor den Giardini, sondern die Giardini selbst untergehen. Auffällig unaufgeregt dagegen, unverschämt heiter, treibt Imitation of Life, mit feinstem Witz getarnt, als verdeckter Agent zwischen allen Fronten der von Esoterik, Nostalgie, Resignation, Zynismus oder purer Ignoranz geschüttelten und gebeutelten, zeitgenössischen Kunst.

Nick Long Jr., June Knight und Robert Taylor in Broadway Melodies of 1936.

Abb. 4: Nick Long Jr., June Knight und Robert Taylor in Broadway Melodies of 1936.

Imitation of Life ist der maximal verdichtete Bericht einer Expedition in die dunklen Gewässer der Kulturindustrie, von ihrer ersten Blüte bis in die Gegenwart. Weist der dreiminütige Animationsfilm auf der technischen Ebene in die Blütezeit Walt Disneys, lassen sich hinsichtlich des musikalischen und narrativen Vokabulars die in die Mitte der 1930er, Anfang der 1940er Jahre zu datierenden MGM Musicalfilme als Referenzpunkte ausmachen. In einer Szene aus Broadway Melodies (Abb. 4) von 1936 beispielsweise steppen und singen June Knight alias Lillian Brent, Robert Taylor alias Robert Gordon und Nick Long Jr. alias Basil zu eben jener Melodie von Arthur Freed und Nacio Herb Brown, die Poledna für Imitation of Life von Bruce Broughten neu arrangieren und in den Warner Brothers Studios live und im alten Stil hat einspielen lassen. Sowohl die Techniken des analogen Animationsfilms als auch die musikalischen und formalen Strategien des Musicalfilms reanimierend, basiert Imitation of Life auf zwei mittlerweile weitgehend überlebten Produktionsformen der Imaginationsmaschinerie Hollywoods zum Zeitpunkt der Ablösung des Stummfilms durch den Tonfilm. Damit setzt Mathias Poledna seine seit Jahren betriebene, künstlerisch-archäologische Arbeit an den historischen, technischen und medialen Bedingungen von kulturellen Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts fort. Die künstlerische Avantgarde, die italienische Arbeiterbewegung, der Post-Punk, das Hollywood der 1930er Jahre etc. werden in Polednas Videoinstallationen ebenso zum Gegenstand der Auseinandersetzung wie die unterschiedlichen künstlerischen Medien der Architektur, des Designs, der Musik, des Film und der Fotografie. Die Rekonstruktion der Produktionsbedingungen künstlerischer und kulturindustrieller Artefakte stellt unter wechselnden historischen Brennpunkten und in Anwendung unterschiedlicher künstlerischer Strategien den kontinuierlichen Einsatz von Polednas Arbeiten dar.

Mathias Poledna, A Village by the Sea, 2011.

Abb. 5: Mathias Poledna, A Village by the Sea, 2011.

Basieren etwa die Videoinstallationen Scan (1996) oder Fondazione (1998) auf Interviews, Gesprächen und historischen Dokumenten, deren von Poledna geleistete Kontextualisierung und Inszenierung sich als Versuch der Visualisierung von Geschichte im Moment ihrer Archivierung zu lesen gibt, ist gegenüber jüngeren Arbeiten, von Western Recording (2003) bis A Village by the Sea (2011), ein deutlicher Wandel hinsichtlich der angewandten künstlerischen Strategien festzustellen. In der 2013 in der Wiener Secession gezeigten Videoinstallation A Village by the sea (Abb. 5) sind die dokumentarischen Elemente gänzlich aus dem projizierten Filmmaterial selbst verschwunden. Die Bildspur, schwarz-weißes 35 mm Celluloid, brilliert im Hollywoodstil der 1930er, 1940er Jahre; auf der Tonspur verzaubert ein 30-köpfiges Filmorchester mit dem Chanson-Klassiker von Charles Trenet und Léo Chaliac, Que-reste-t-il de nos amours? Ein Mann und eine Frau, er im schwarzen Smoking, sie im weißen Abendkleid, vor der Kulisse eines eigens im Stil der 1930er, 1940er Jahre rekonstruierten Interieurs, mit weißen Lilien dekoriert und von einer nächtlichen Skyline gerahmt, singen vom fraglichen Verbleib der Liebe. A Village by the sea artikuliert sich als akribisches Reenactment sowohl der Produktionsverfahren als auch des filmischen sowie musikalischen Vokabulars der Musicalfilme der 1930er und 1940er Jahre. Allein die Abweichungen im Verhältnis von Bild und Text, die raumzeitliche Transposition, die kontrastreiche Art und Weise, in der die historische Architektur der Ausstellungsräume und das visuelle und akustische Material der Filmarbeit sich zueinander in Beziehung gesetzt finden, distanzieren A Village by the sea von den historischen Vorbildern der 1930er und 1940er Jahre.

Mathias Poledna, Imitation of Life, 2013, 35mm color film, optical sound, 3:00 min, 35mm frame enlargement.

Abb. 6: Mathias Poledna, Imitation of Life, 2013, 35mm color film, optical sound, 3:00 min, 35mm frame enlargement.

Mit Imitation of Life treibt Mathias Poledna die kulturarchäologische Mimikry schließlich so weit, dass die inszenierte Reanimation einer weitgehend überlebten Kulturtechnik ohne weiteres als originäres Kind der 1930er Jahre durchgehen würde: ein Kuckucksei in fremder Zeiten Nester gelegt. Und die Zeit wird nie etwas anderes ausgebrütet haben als das chimärische Wesen, halb Geschichte, halb Gegenwart, halb Produkt, halb Produzent, halb Animation, halb Animator, das aus einem Jetzt in eine Vergangenheit zurückblickend Ausschau hält nach einer Antwort auf die in der Eingangszene von Imitation of Life eröffnete Frage: „How did you get here?“. Hier, der Esel im Bilderfluss von Imitation of Life? Hier, der Künstler im Eselskostüm auf der Leinwand der Kulturindustrie? Hier, der Betrachter im Projektionsraum einer von Hollywood schematisierten Gegenwart? „I’ve got a feeling you’re fooling…“, antwortet der Esel dem Vögelchen, treibt durch die märchenhafte Waldkulisse, ihrerseits ohne jede Orts- oder Zeitspezifik, begegnet seinem Spiegelbild, das sich kurzerhand in einen Fisch verwandelt und schließlich in tausend Wassertropfen zerspringt, duckt sich unter Hindernissen, dreht sich im Kreis, strandet am Uferrand, dreht, wirbelt, steppt sich unter den zahllosen Blicken der Waldbewohner die Seele aus dem Leib, springt in die Höhe, dreht sich um die eigene Achse, schwebt in der Luft, als wären die Gesetzte der Schwerkraft und der normale Lauf der Dinge für einen Moment außer Kraft gesetzt, um im nächsten Moment wieder auf dem Boden der Tatsachen zu landen, im lückenlosen Netz der Blicke und Bilder, die seine Wirklichkeit konstituieren.

Mathias Poledna, Imitation of Life, 2013, 35mm color film, optical sound, 3:00 min, 35mm frame enlargement.

Abb. 7: Mathias Poledna, Imitation of Life, 2013, 35mm color film, optical sound, 3:00 min, 35mm frame enlargement.

Die Antwort bleibt aus. Das Ausbleiben der Antwort ist die Antwort. Der Esel hat keine verborgene Geschichte, kein tieferes Wesen, kein höheres Ziel. Er ist das Produkt der Bilder, aus denen er sich zusammensetzt und deren Zusammensetzung den Schein einer organischen Bewegung und Kontinuität erzeugt, wo allein die Gesetze der Mechanik und Diskretion herrschen. „Zerhackung oder Schnitt im Realen, Verschmelzung oder Fluß im Imaginären – die ganze Forschungsgeschichte des Kinos spielte dieses Paradox durch.“2 Kein Kino ohne die Stillstellung und die Speicherung eines Moments, der aus dem Fluss der Zeit ausgeschnitten wird, um nachträglich und dank des stroboskopischen Effekts die Illusion einer kontinuierlichen Bewegung zu erzeugen. Während im Realfilm die Kamera als Seziermesser dient, ist es im Animationsfilm der Zeichenstift. Auf dem Seziertisch liegen da wie dort die Bilder der Zeit, die einmal aus dem Fluss der Zeit, aus dem Lauf des Lebens geschnitten, beliebig wieder vernäht werden können. Kino ist immer schon Reanimation, Imitation of Life. In Imitation of Life ist der unsichtbare Riss, der den Zauber des Kinos garantiert, maximal aufgespreizt: der enorme Arbeits-, Kosten- und Zeitaufwand, der in der Produktion von Imitation of Life steckt, ist im kurzweiligen Genuss, den das dreiminütige Trickfilmmusical gewährt, quasi vergessen. Quasi, denn die Wiederholung einer industriellen Produktionsform im Raum und nach den Regeln der ach so kritischen, zeitgenössischen Kunst bringt das für den Zauber eben dieser Produktionsform konstitutive Vergessen zumindest mit zur Erscheinung. Jedenfalls sorgt die keineswegs ironische Inszenierung für Irritation: Hello, how did we get here?

Selbst wer die Arbeitsweise Mathias Polednas nicht kennt, wird Imitation of Life kaum als bloß nostalgische Replik an die goldene Ära Walt Disneys abtun können. Der Retrogenuss, den Imitation of Life ohne Zweifel auch gewährt, stellt sich nicht ohne Unbehagen ein. Der Stachel sitzt schon im Titel der Arbeit, in der aus dem Zusammenhang gerissenen, eigentümlich zeit- und kontextlosen Narration, in der Ambivalenz der zwischen tierischen und menschlichen Attributen oszillierenden Eselsfigur, im kinematografischen Effekt eines doppelten Subjektivierungsprozesses von Filmfigur und FilmbetrachterIn und der damit verbundenen Identifikation. Wer möchte sich denn wünschen in der Haut des Esels zu stecken? Orientierungs-, geschichts- und bewusstlos im Fahrwasser des kinematografischen Stromes treibend, von unsichtbaren Händen gezeichnet, von einem unsichtbaren Orchester dirigiert, von einem unsichtbaren Apparat in Bewegung versetzt? Imitation of Life – und welches Medium würde sich besser eignen als der Animationsfilm, um ein ‚Leben‘ vorzuführen, das gänzlich nach der Feder einer außerhalb seiner selbst liegenden Kraft tanzt – drängt sich als allegorisches Porträt des von Hollywood programmierten homo consumens auf, der nicht viel mehr ist und ausrichten kann als ein armer Esel im Niemandsland einer filmgewordenen Welt. Im Prozess der hegemonialen Installation eines televisuellen Systems, im Prozess der globalen Synchronisierung der Bilder- und Bewusstseinsströme, im Prozess der Industrialisierung der Einbildungskraft selbst, markiert die Kulturindustrie nach Adorno und Horkheimer das Ende der Geschichte des mit einem individuellen Bewusstsein begabten, selbstbestimmten Subjekts.3 Als perspektivenloser Zyklop, everybody und nobody im everywhere und nowhere des kulturindustriellen Bildraums, sind dem zeitgenössischen Subjekt namens KonsumentIn alle Fluchtwege versperrt.4 Der Fluchtpunkt möglicher Individuationen ist nichts als ein weiteres Trugbild, Hocus-pocus, vom Markt in aller Augen gestreut, um die Frustration in Grenzen und die Maschine am Laufen zu halten.

„Hocus-pocus in your Eyes…“, singt der Esel im Matrosenanzug in Imitation of Life, 2013, singt Robert Taylor im schwarzen Smoking in Broadway Melodies, 1936, während auf der Leinwand, da wie dort, in Venedig, in Los Angeles, Hollywood seinen Zauber entfaltet. Dort wird der amerikanische Traum Wirklichkeit, die Wirklichkeit Film, dort wird im weißen Rüschenkleid auf glühenden Kohlen durch blitzblank polierte Ballsäle getanzt, geflirtet, bezirzt, betört, als gäbe es kein Morgen und vor allem kein Außerhalb der Filmkulisse. Da treibt der Esel im weißen Matrosenanzug mit den blauen Streifen und dem roten Halstuch im Fahrwasser der Kulturindustrie, strandet am Uferrand des Bilderstroms, steppt um sein imitiertes Leben. Da kehrt der Esel den tausend Blicken, die auf ihn gerichtet sind, den Blicken der Rehe, Rebhühner und Stinktiere, den Blicken der BetrachterInnen, den Rücken, schreitet mit hängenden Schultern in die horizontlose Tiefe der Waldkulisse. Da flattert, zwitschert und zwinkert das Vögelchen im blauweißen Federkleid mit dem gelben Brustfleck ein letztes Mal an ihm vorbei, da wendet der Esel sein Eselshaupt, vollführt seinen letzten Tanzschritt, reißt die Eselsarme und -augen weit auf. Da schließt sich das Leinwandauge für dreißig Sekunden, da treibt im nachtschwarzen Meer der Pupille verschwommen ein Nachbild, ein schlafendes Untier, ein Zyklop in der Zeitschleife, a message in a bottle:„I’ve got a feeling it’s all a frame, It’s just the well known old army game, foolin’ with you…”


1 Vgl. das Kapitel zur Kulturindustrie in Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt/M. 2003, S. 128-177. Die Trickfilme, „einmal Exponenten der Phantasie gegen den Rationalismus“ sind nach Adorno und Horkheimer schon 1947 zur bloßen Bestätigung des „Sieg[es] der technologischen Vernunft über die Wahrheit“ verkommen: „Sofern die Trickfilme neben der Gewöhnung der Sinne ans neue Tempo noch etwas leisten, hämmern sie die alte Weisheit in alle Hirne, daß die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft ist. Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.“ Ebd., S. 146f.

2 Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986, S. 187.

3 Als essentiell zeitliches Phänomen konstituiert sich das Bewusstsein von Kant bis Husserl und darüber hinaus im komplexen, von der Einbildungskraft schematisierten Zusammenspiel von sinnlicher Rezeption und verstandesmäßiger Apperzeption. Die von der Einbildungskraft geleistete Schematisierung stellt die Einheit zwischen Sinnlichkeit und Verstand und damit die Einheit des Bewusstseins selbst her. Im Prozess der Industrialisierung der Einbildungskraft wird dem Individuum nach Adorno und Horkheimer seine grundlegende, wesensbestimmende Funktion abgenommen. Resultat der Industrialisierung der Einbildungskraft ist das sich selbst entfremdete, bewusstlose Subjekt unter Anführungszeichen, das erstens der totalen Kontrolle des televisuellen Regimes ausgeliefert und zweitens nach Belieben programmierbar ist. Vgl. Adorno/Horkheimer, a. a. O., S. 132f.

4 Vgl. Bernard Stiegler, Technics and Time, 3, Cinematic Time and the Question of Malaise, Stanford 2011, S. 4f.

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Die nicht enden wollende Aktivität

Boris Groys veröffentlichte im Katalog der Secession, erschienen anlässlich der Ausstellung David Claerbout. Diese Sonne strahlt immer (3. Mai bis 17. Juni 2012), einen Aufsatz mit dem Titel Film im Kunstraum1. Die Ausstellung versammelte im Hauptraum der Secession fünf Filmarbeiten Claerbouts, die ohne Blackbox gezeigt wurden, wodurch alle fünf Filme zur gleichen Zeit zu sehen waren. Der Großteil der Arbeiten zeichnete sich durch ungewöhnliche Filmlängen aus – so dauert der Film Bourdeauxpieces 14 Stunden und überschritt damit die Öffnungszeiten der Secession. Groys’ Aufsatz widmet sich dem breiten Thema „Medienkunst im Museum“, wobei Groys in der steten Zunahme von Videoinstallationen (bzw. insgesamt Medienkunst) eine – im Allgemeinen – positiv zu bewertende Tendenz sieht. Er beschreibt in seinem Aufsatz die Rezeptionssituation im Kino als rückständige Kontemplation, die einen immobilisierten Asketen hervorbringt2 und kontrastiert diese mit Videoinstallationen (im Museum), die einen „freien und zugleich analytischen Umgang mit dem Kino- und Videobild“3 ermöglichen und das Publikum aktivieren. Der Aufsatz erschien auf Deutsch erstmals 2003 in Groys’ Aufsatzsammlung Topologie der Kunst4 und wurde für die Ausstellung in der Secession 2012 adaptiert. Dem gesamten Text liegt die These zugrunde, dass sich in Videoinstallationen die Dichotomie zweier Modelle der „Kontrolle über die [Rezeptions-] Zeit“5 aufzuweichen beginnt: zwischen die „Immobilisierung des Bildes im Museum“, die eine zeitlich unbegrenzte Rezeption zulässt, und die „Immobilisierung des Zuschauers im Kinosaal“6 treten nach Groys Videoinstallationen, in denen beide Pole, Bild und RezipientIn, in Bewegung sind. Die Videoinstallation ist so also zwischen unbegrenzter Kontemplation und Autonomieverlust durch Unbeweglichkeit, zwischen Tafelbild und Kino angesiedelt. Nach Groys versetzt diese Situation, deren Elemente – Bild und BetrachterIn – nun beide in Bewegung sind, „den Besucher der Installation in den Zustand des Zweifels und der Ratlosigkeit“.7 Doch genau diese Ratlosigkeit ist bei Groys positiv besetzt, da sie einen aktiven, reflektierten Umgang mit der Situation verlangt und nicht wie das Kino einen passiven, unreflektierten Asketismus befördert.8

In Hinblick auf die bei Groys formulierte, positive Bewertung der „Aktivität der RezipientInnen“ ist schon vorab zu bemerken, dass diese in einem gesellschaftspolitischen Kontext zu sehen ist. Denn bei einer wie auch immer gelagerten Verteilung von Aktivität und Passivität geht es, so Jacques Rancière, um eine Unterwerfung unter Herrschaftsstrukturen, die eine Aufteilung verlangt in „jene, die eine Fähigkeit besitzen und jene, die sie nicht besitzen.“9 Wenn Groys beschreibt, dass RezipientInnen in Videoinstallationen analytische Strategien für einen reflektierteren Medienumgang erlernen können, da sie sich aktiv zur Installation verhalten müssen, deklariert er sie als diejenigen, die diese Fähigkeit nicht besitzen und demnach erst erlernen müssen. Eine Konfrontation mit offenen und variationsreichen Situationen ist nach Groys kennzeichnendes Merkmal dieses Medienumgangs. Groys schreibt hierzu: „Der ästhetische Wert der Medieninstallation im Museum besteht also vor allem darin, die Unübersichtlichkeit, die Ungewissheit, die fehlende Kontrolle des Betrachters über die Zeit der eigenen Aufmerksamkeit […] explizit zu thematisieren.“10 Und weiter: „Auf verschiedenen Ebenen der Zeitökonomie zwingen also die Medieninstallationen den Betrachter, Entscheidungen in Bezug auf sein Kontemplationsverhalten zu treffen, die ihn zugleich – zumindest tendenziell – zu keiner abschließenden Betrachtung führen können.“11 Dadurch sei man stets aufs Neue angehalten zu reflektieren und werde so zu einem/einer aktiveren RezipientIn, der/die aus dem vormals passiven Verhalten, eingeübt durch das Kino, heraustreten könne. Eine Kritik der Passivität der RezipientInnen im Kino impliziert eine Distanz zwischen Aktivität und Passivität. Mit Rancière stellt sich jedoch in erster Linie die Frage, „ob nicht gerade der Wille, die Distanz abzuschaffen, erst die Distanz schafft?“12 Der Aufsatz von Groys steht in dieser mittlerweile langen Tradition, die in der (progressiven) Kunst die Aktivierung von RezipientInnen ortet und sie einer älteren, „passiven“ Rezeptionsform gegenüberstellt. Groys’ Artikel ist exemplarisch, da die Wiederveröffentlichung auf die andauernde Aktualität dieser Aktivierungsanrufung verweist (eine Debatte, die vor allem im Bereich der Performance und der partizipativen Kunst lebhaft geführt wird) und der Text die „aktive Rezeptionssituation“ als positive Form offen einer negativ bewerteten „passiven Rezeption“ entgegenstellt. Es ist demnach interessant, Groys in seiner Argumentation hinsichtlich „aktiver und autonomer“ RezipientInnen zu folgen, um zu sehen, welcher Begriff von Aktivität hier stark gemacht wird und was die treibende Kraft sein könnte, aktiv und reflektiert mit Medieninstallationen umzugehen. Während Groys den Begriff der Passivität mit der Rezeptionssitation im Kino kurzschließt, steht seinem Kino-pessimistischen Zugang die Kino-optimistische Sichtweise von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer emphatisch gegenüber. Auch wenn zwischen diesen Positionen mehr als siebzig Jahre liegen, scheint es interessant, ausgehend von Kracauers Idee einer potenziellen Sprengkraft des Kinos, die Vorstellung der „Aktivierung der ZuschauerInnen“ innerhalb zeitgenössischer Videoinstallation zu beleuchten – nicht zuletzt angesichts der Tragweite, die sowohl Groys als auch Benjamin und Kracauer dem Verhältnis von Film und Gesellschaft zuschreiben.

Benjamin und Kracauer und ihr Verhältnis zum Kino

Was Theodor W. Adorno „Kulturindustrie“ nennt, wird bei Benjamin und Kracauer mit „Massenkultur“ bezeichnet. Der Unterschied liegt nicht nur im Begriff. Verkürzt beschrieben sieht Adorno den gesellschaftlichen Verfall in der Kulturindustrie ausgedrückt, wohingegen Kracauer und Benjamin unter anderem in der Massenkultur, Kracauer insbesondere im Film, ein revolutionäres Potenzial sehen, das den „notwendigen Umschlag“13 vorzubereiten vermag. Weshalb dem Film diese zentrale Stellung zukommt, lässt sich mit Benjamin durch seine Wirkung auf die Wahrnehmung der Menschen erklären. Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume ändert sich die Sinneswahrnehmung der Menschen; sie ist „nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich gewachsen.“14 Die Masse richtet sich auf die Realität aus, so wie die Realität auf die Masse. Massenkultur bzw. das Kino als Teil einer größeren Unterhaltungsmaschinerie ist demnach ein nicht unerheblicher Teil der angesprochenen Realität, in der die Masse einerseits konstituiert wird, aber auch selbst formenden Charakter besitzt, oder wie Benjamin schreibt: „[Der Massenbewegungen] machtvollster Agent ist der Film.“15 Der gegenseitige Bezug von Kino und Gesellschaft lässt sich dann einige Seiten später nochmals nachvollziehen, wenn Benjamin beschreibt, dass die zerstreute Masse das Kunstwerk in sich versenke (nicht wie umgekehrt bei der Malerei, in die sich der Einzelne während der Kontemplation versenkt), dass also ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Masse und Kino bestehe.16 Zerstreuung meint hier Ähnliches wie bei Kracauer, auch wenn weder Benjamin noch Kracauer eine klare Definition geben; der Begriff bezeichnet einerseits das „Durcheinander der Welt“ und die „Unordnung der Gesellschaft“ und meint andererseits das Bedürfnis der Massen in dieser Welt, Ablenkung von dieser zu suchen, also sich zu zerstreuen. Im Kino als möglichem Ort der Zerstreuung der Masse wird die Summe der Reaktionen der Einzelnen zu einer Reaktion des Publikums mittels einer im Kino gegebenen simultanen Kollektivrezeption verschmolzen – der Einzelne ist Massenteilchen und nicht Individuum. In der Kollektivrezeption versenkt die Masse nicht nur das Kunstwerk in sich, sondern auch die Masse kann sich in dieser Rezeptionssituation verändern, denn, so merkt Benjamin an: „Indem sie [die RezipientInnen] sich kundtun, kontrollieren sie sich.“17 Benjamin und Kracauer vermuten also eine Mobilisierung der Masse durch sich selbst, angeleitet durch das Kino.

Die Zerstreuung gelangte in den Filmvorführungen der 20er-Jahre, insbesondere in Metropolen wie Berlin, zu einem Höhepunkt; Kinovorführungen wurden zunehmend zu „Gesamtkunstwerken der Effekte“, in die man sich wie in den Blick durchs Kaleidoskop versenken konnte. Diese Filmvorführungen richten sich explizit an die Masse und sind so als Massenkultur beschreibbar (in der Masse sieht Kracauer alle, vom Bankdirektor bis hin zur „Stenotypistin“, versammelt).18 Massenkultur zeichnet sich durch eine Hinwendung zum rein Äußerlichen aus, denn das Bedürfnis der Masse nach Zerstreuung verlangt eine intensive Effektmaschinerie. Vielschichtige, differenzierte „Kunstereignisse“ treten zunehmend in den Hintergrund und es wird „dem Oberflächenglanz der Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungsstücke […] Vorzug gegeben.“19 In dieser reinen Äußerlichkeit tritt die Masse in ihren Eigenschaften greifbar zutage – die Zerstreuung wird erlebbar, oder wie Kracauer schreibt: „Die zerstückelte Folge der splendiden Sinneseindrücke bringt seine [des (Berliner) Publikums] eigene Wirklichkeit an den Tag,“ denn die Filmvorführungen seien ein ähnlich äußerliches Gemenge „wie die Welt der Großstadtmasse“.20 Es ist also festzuhalten, dass sich die Situation, in der die Masse mobilisiert werden kann, im Kino abspielt, an dem Ort, an dem Groys reine Passivität durch Immobilität ortet. Einen der wesentlichsten Vorzüge des Kinos als Massenkulturphänomen sieht Kracauer in der Möglichkeit der Massenreflexion. Je eher sich die Menschen als Teil einer Masse empfinden bzw. wahrnehmen, indem sie gemeinsam ihre Lebenssituation medial vermittelt wiedererleben, umso eher kann diese Reflexion einen Prozess der Emanzipation in Gang setzen.21 In der Masse vereinigen sich unzusammenhängende Teile zu einem Ganzen, dessen Einheit allerdings bloß suggeriert wird – diese nur scheinbare Verbindung eines ungeordneten Ganzen, und damit der eigentliche gesellschaftliche Zerfall, können durch das Kino erfahrbar werden. Durch filmische Mittel wie die Großaufnahme oder die Hervorhebung kleiner Details bis hin zur Darstellung banaler, alltäglicher Situationen, die unzusammenhängend aneinander gereiht werden, wird die Form des Daseins als unbeherrschtes Durcheinander sichtbar – man kann im Kino also die eigene Situation in medial vermittelter Form wieder erleben und sich der eigenen Handlungsmöglichkeiten gewahr werden. Benjamin führt diesen Punkt näher aus; für ihn kommt dem Film eine doppelte Funktion zu. Einerseits wird „die Einsicht in die Zwangläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird“, gleichzeitig besitzt der Film durch Großaufnahme und Zeitlupe die Möglichkeit, uns „eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums […] zu versichern“. Und weiter: „Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunde gesprengt.“22 Die Argumentation zielt bei Benjamin und Kracauer somit auf Ähnliches: Durch das Kino kann man sich der einschließenden Kraft der Welt gewahr werden und gleichzeitig neue Formen der Aneignung erfahren. Indem der Film gesellschaftliche Einschließungsmechanismen sowie noch nie dagewesene Blickwinkel auf diese zu zeigen vermag, hat er also gleichzeitig das Potenzial, die Sprengung dieser „Kerkerwelt“ herbeizuführen. Im Kino öffnet sich dieser Prozess für die Masse. So wohlwollend Kracauer die Möglichkeiten des Kinos auch beschreibt, so sieht er doch den Leerlauf des Kinos und seines revolutionären Potenzials, denn Zerstreuung sei nur wahrnehmbar, wenn sich nicht der Schein einer „gewachsenen Schöpfung“23 über das Durcheinander stülpe, sondern gerade der Zerfall der Einheit spürbar werde. Indem in den revueartigen Filmvorführungen zur Zeit Benjamins und Kracauers jedoch die Tendenz besteht, die Stücke der Zerstreuung immer wieder zu einer vermeintlichen Einheit zusammenzusetzen und so eine gewachsene Einheitlichkeit vorzutäuschen, bleibt, so die Kritik, die Zerstreuung zu wenig wahrnehmbar, um fassbar zu sein.24 Um Sprengkraft zu erlangen, muss der Film viel eher in radikaler Form auf Zerstreuung abzielen und so den Zerfall entblößen. Auch wenn das Kino aufgrund kommerzieller Strukturen die Zerstreuung kaschiert, bleibt die Annahme aufrecht, dass das Kino zumindest potenziell gesellschaftspolitische Sprengkraft besitzt. Die aufgezeigte Argumentation Benjamins und Kracauers ist für die Untersuchung zeitgenössischer Videoinstallationen insofern relevant, als sie mindestens zwei Aspekte hervortreten lässt: Zum einen wird die wahrnehmungs- und damit realitätskonstituierende Eigenschaft des Mediums deutlich, und darüber hinaus wird dem bei Groys als passiv beschriebenen (Massen-) Publikum ein Erkenntnispotenzial zugesprochen. Was Groys als passives „über sich ergehen lassen“ beschreibt, trägt mit Benjamin und Kracauer gelesen mindestens die Bedingungen für gesellschaftspolitisches Handeln in sich, da die ZuschauerInnen ihrer eigenen Position als (potenziell) Handelnde gewahr werden.

Die Möglichkeit des freien Gedanken

Nach Groys ist „der Kinobesucher seiner Freiheit, seiner Autonomie vollständig beraubt“ und kann sich daher dem Film auch bedingungslos hingeben, denn er muss sich von Anfang an damit abfinden, eine gewisse Zeit unbeweglich im Dunklen zu verbringen.25 Die Bewegung des Filmbildes ersetze dabei das Denken und die Sprache der RezipientInnen, die also nicht nur physisch, sondern auch geistig gefesselt werden.26 Diese Unbewegtheit werde lediglich durch die bewegten Bilder kompensiert,27 denen die KinobesucherInnen in einer Situation der absoluten Ohnmacht ausgeliefert seien. Das Filmbild entwickle sich, während der/die BetrachterIn passiv bleibe.28
Auch Benjamin konstatiert, dass durch die stetige Veränderung der Bilder im Film kein Raum für Gedanken bleibt. Dies ist zentral und Auslöser für die viel zitierte „Chockwirkung”29, oder schlicht die Fähigkeit des Films, einen ganz und gar „zu fesseln“. Und auch Kracauer beschreibt die Erregungen der Sinne als so dicht, dass zwischen ihnen kein Gedanke mehr auftreten könne,30 oder wie Benjamin Georges Duhamel zitiert: „Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“31 Benjamin und Kracauer sehen im Gegensatz zu Groys jedoch gerade darin die Möglichkeit, auf etwas gestoßen zu werden – indem man nicht unmittelbar einwirken und die Situation dadurch erstmal „nur“ sehen kann, eröffnet sich die Möglichkeit, sich der eigenen potenziellen Handlungsmacht gewahr zu werden, sowie die Masse als gesellschaftliche Struktur (an-) zu erkennen. Groys ist recht zu geben, wenn er darauf hinweist, dass die Situation im Kino eine einschließende ist, doch steht dieses Faktum in keinem Zusammenhang mit Aktivität und Passivität, sondern verweist viel eher auf veränderte Gegebenheiten, denn im Kino ist es eben diese geschlossene Situation, in der die Sprengkraft des Mediums wirksam werden kann – die Masse im Kino erlebt als Kollektiv die einschließenden Mechanismen.

Von Benjamin wissen wir, dass sich die Masse auf die Realität ausrichtet, sowie die Realität auf die Masse, und dass Kultur Teil dieses Geflechts ist. In Groys’ Fall handelt es sich hier jedoch viel eher um die Einzelnen, und nicht mehr um die Masse. Denn in der Videoinstallation agieren Einzelne und kein Kollektiv. Hierbei ist wesentlich, dass die Filmerfahrung individualisiert wird.32

Der Zuschauer im Kino ist Teil eines Publikums; der Betrachter der kinematographischen Installation ist aufgrund seiner physischen Bewegungsfreiheit sowie aufgrund einer konstitutiv unvertrauten, weil vor Ort je einzigartigen: einzigen Präsentationssituation, auf sich gestellt.33

Damit ist einer der zentralen Unterschiede zwischen Kino und Videoinstallation benannt: das Verhältnis von Einschließung und Offenheit sowie von Masse und dem selbstverantwortlichen Einzelmenschen. Diese Differenz erinnert an die von Deleuze konstatierte Unterscheidung zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, in der nunmehr der Fokus auf dem Einzelnen und nicht mehr auf der Masse liegt.34

Der Einzelne ist aktiv

Groys’ Lob der Aktivität fußt auf einem strengen und außerordentlich negativ besetzten Begriff von Passivität, der auch die Kontemplation miteinschließt. Er exemplifiziert diesen Begriff von Passivität an mehreren Stellen seines Textes; vor allem körperliche Ruhe – Groys nennt hier im Gegensatz zu Benjamin und Kracauer die Rezeption eines Kinofilms – wird dabei mit Passivität gleichgesetzt. Er belegt seine These der „geistigen Immobilität“ im Kino mit Gilles Deleuzes geistigem Automaten – was jedoch eine Verkehrung der deleuzianischen Idee dieses Automatismus darstellt. Denn weit davon entfernt, gedankenlos und nur gefesselt zu sein, ermöglicht der geistige Automatismus das Vordringen in undenkbare Gebiete und eröffnet damit die Option, sich selbst zu überschreiten. Es ist bei Deleuze gerade die Möglichkeit, nicht zu reagieren, sich also aus einem steten Zwang zur Aktion loslösen zu können, die Raum für das Denken gibt. Eine ähnliche Situation haben wir bei Benjamin und Kracauer gesehen, die unter der oberflächlichen Stillstellung eine umso tiefere Bewegung orten. Noch deutlicher wird Groys’ spezielle Sicht auf Aktivität versus Kontemplation, wenn er beschreibt, dass man mit einem Buch aktiv umgehen könne:„Er [der Leser] bestimmt den Ort der Lektüre, deren Rhythmus usw.“35 Der Kinofilm gilt in Groys’ Verständnis von Aktivität als überholt und passiv, da man die eigene (räumliche) Position nicht wählen kann. Im Gegensatz dazu bekomme der/die RezipientIn innerhalb der Videoinstallation die Möglichkeit, die gesamte Situation der Präsentation wahrzunehmen – „die Videoinstallation säkularisiert [damit] die Bedingungen der Filmvorführung.“36 Generalisierend beschreibt Groys Videoinstallationen als Filmpräsentationen, bei denen man sich frei im Raum bewegen und darüber hinaus die gesamte technische Apparatur sehen kann. Die Videoinstallation lege ihre eigene Situation offen und lasse jede Form der Bewegung zu.37 Juliane Rebentisch beschreibt in Ästhetik der Installation eine Tendenz zeitgenössischer Videoinstallationen, die durch die Offenlegung der Darstellungsmittel (Kamera, Licht, Schnitt etc.) sowie der Präsentationsformen (dunkler Raum, Projektion auf eine vertikale Leinwand etc.) eine steigende Produktivität der RezipientInnen forcieren und damit eine „selbstreflexiv-performative, das heißt ästhetische Bezugnahme auf die (Gegenstände der) Installation in Gang“38 setzen. Für Groys scheinen nur durch solche Videoinstallationen ZuschauerInnen autonom zu werden. Durch den freien und analytischen Umgang mit dem Filmbild schult der/die KünstlerIn die RezipientInnen im Umgang mit Medien und hat dadurch Vorbildcharakter. Was es hier zu lernen gibt, ist beachtlich: „An […] Beispielen lernt der Betrachter nämlich, dass alle Parameter des Medienkonsums variabel sind – und beginnt, auf seine eigene Weise die Medienbilder zu dekontextualisieren, zu rekontextualisieren, zeitlich anders zu platzieren usw.“39 In diesem Punkt sind sich Kracauer, Benjamin und Groys einig: im Kino bzw. der Videoinstallation wird der/die RezipientIn für ein Leben außerhalb dieser spezifischen Situation geschult. Geht man mit Benjamin davon aus, dass sich Sinneswahrnehmungen im Lauf der Zeit medienbedingt verändern,40 stellt sich in Hinblick auf Videoinstallation erneut die Frage, was hier geschult wird. Groys’ Text stellt einen offenen Bezug zwischen der Situation der RezipientInnen in der Videoinstallation und dem gesellschaftspolitischen Leben außerhalb des Museums her. Er beschreibt diese Situation wie folgt:

Plötzlich findet sich der Museumsbesucher in einer Lage wieder, die wie das außermuseale Leben aussieht, d.h. wie ein Ort, von dem bekannt ist, dass man an ihm alles Wichtige verpasst: Im sogenannten Leben hat man nämlich immer das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.41

Auch Benjamin und Kracauer sahen eine enge Verbindung zwischen dem Kino und der Welt außerhalb des Kinos, weil im Kino die in der Außenwelt verborgenen, weil verinnerlichten, einschließenden Mechanismen der Masse offenbar werden konnten. Videoinstallationen verweisen auf eine gänzlich andere Situation, die sich durch Offenheit und Variationsreichtum auszeichnet, gleichzeitig aber auch den Anspruch stellt, sich gegenüber dieser Offenheit aktiv zu verhalten und stets neue Strategien im Umgang mit ihr zu erlernen.

Die Freiheit, die eigene Situation zu kontrollieren

Sollte man im sogenannten „Leben“ tatsächlich „immer das Gefühl [haben], zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein“42, so lassen sich Videoinstallationen Groys zufolge als eine Parabel auf eben diese Situation verstehen. Verlässt man eine Videoinstallation nach selbstbestimmter Zeit und kehrt später wieder zurück, so hat man unweigerlich das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben und nicht mehr zu verstehen, worum es eigentlich geht.43 Da man dadurch gerade seine je eigene Rezeptionssituation kreiert, ist man auch innerhalb dieser Rezeption auf sich allein gestellt.44 Groys’ Formulierung „falsche Zeit/falscher Ort“ suggeriert zweierlei: erstens, dass es auch einen richtigeren (aber keinen richtigen?) Ort gibt und zweitens, dass man versäumt hat, ihn aufzusuchen. Videoinstallationen verweisen also gleich auf eine doppelte Distanz, die es zu überwinden gilt – hin zu einem reflektierteren Medienkonsum und einer gesteigerten Aktivität –, und den KünstlerInnen wird die Position von PädagogInnen zugewiesen. Der individuelle Medienumgang, der hier nach Groys geschult wird, sowie die offene Situation scheinen paradigmatisch für jene Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Deleuze mit dem Begriff der Kontrollgesellschaft beschreibt:

Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.45

Verschuldet, da man sich in einem Prozess stets unabgeschlossenen Lernens befindet. Wir haben die begrenzenden Einschließungsmechanismen, die geschlossenen Milieus zugunsten steter Modulationen verlassen,46 in denen man „nie mit irgendetwas fertig wird.“47 Auch wenn sich Schuld bei Deleuze auf Kapital bezieht, scheint die Überlegung interessant zu sein, ob Schuld nicht auch die treibende Kraft innerhalb von Videoinstallationen ist und der Umgang mit einer durch Schuld getriebenen Aktivität das, was es eigentlich zu lernen gilt. Die Aktivierung der RezipientInnen als immanente Bestandteile der Installation ergibt zwangsläufig eine Vielfalt an gleichwertigen Verhaltensmöglichkeiten. Gäbe es nur eine, säße man im Kino und wäre nach Groys Asket. Die RezipientInnen sind aufgefordert, aktiv zu reflektieren und zu wählen. Denn ähnlich des ständigen Versagens zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, steht man auch bei Videoinstallationen immer in der (Aufmerksamkeits-)Schuld, da die Möglichkeiten, wie man sich zur Installation verhält, unbegrenzt sind. In der Gewissheit, die aufzubringende Zeit pro Installation frei wählen zu können, daher aber auch zu müssen, stellt sich die Frage, wie viel Zeit einem die Rezeption der Installation wert ist. Wenn man nie mit etwas fertig wird, so schlussfolgert auch Juliane Rebentisch, hat man unter Umständen auch die stete Angst, etwas zu verpassen.48 In Videoinstallationen müsse man also anerkennen, so Groys, dass es „keine adäquate und zufriedenstellende Lösung geben kann.“49 Wie auch immer man sich zur Installation verhält, wie viel Zeit man auch aufbringt, „jede einzelne Entscheidung bleibt ein fauler Kompromiss.“50 Am Beispiel der eingangs erwähnten David Claerbout-Ausstellung in der Secession wird diese Möglichkeitsvielfalt und Unabgeschlossenheit besonders deutlich. Obwohl alle fünf Filme im selben Raum laufen und man sich zwischen ihnen frei bewegen kann, ist es dennoch nicht möglich, alle Filme während eines Ausstellungsbesuchs zu sehen, da die Spielzeiten die Öffnungszeiten übersteigen. Ein fauler Kompromiss bleibt daher jede Entscheidung aufgrund der schon angesprochenen Möglichkeitsvielfalt, die nach Groys’ Definition von Aktivität die Voraussetzung ist, überhaupt aktiv sein zu können. Es ist nicht mehr die Kerkerwelt, die es zu sprengen gilt, sondern ein offener Prozess, in dem man sich stets reflektierend verhalten muss, wobei das Gesamte wie beispielsweise die 14 Stunden von Bourdeauxpieces nie zu erreichen sein wird. Insofern ist es nicht mehr die einschließende, sondern die per se verschuldende Welt, die man hier erfährt. Schon Walter Benjamin konstatiert in seinem Fragment Kapitalismus und Religion von 1921 Schuld als eine der vier Säulen des Kultus. Er beschreibt Schuld als treibende Kraft; eine Schuld, die alles miteinschließt und „nicht zu entsühnen ist“51, da die Entsühnung selbst nicht vorgesehen ist. Es bräuchte ein stabilisierendes Moment – Benjamin schreibt über etwas „Sicheres“ –, um aus der Schuld heraustreten zu können, doch der Kultus zeichnet sich gerade durch die Absenz einer solchen Stabilität aus. „Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ Und weiter: „Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen.“52 Oder mit Deleuze: „Der Mensch ist [eben] nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch“.53 Und so gilt es, sich selbst kontinuierlich zu disziplinieren, zu reflektieren und das alles in dem steten Wissen, dass es zwar viele Möglichkeiten gibt, aber keine zielführende, da das Ziel nur noch als nicht zu erreichendes existiert. Es hat tatsächlich ein ironisches Moment, dass Groys diese auf einer ziellosen Möglichkeitsvielfalt basierende Aktivität so emphatisch anlobt. Denn was hier eingeübt wird, ist unter Umständen eine von „unentsühnbarer“ Schuld getriebene und damit eine nie enden wollende Aktivität.


1 Boris Groys, Film im Kunstraum, in: Secession (Hg.), David Claerbout. Diese Sonne strahlt immer, Wien 2012.
2 Vgl. ebd., S. 75.
3 Ebd., S. 79.
4 Boris Groys, Topologie der Kunst, München u. Wien: Hanser, 2003.
5 Groys 2012, S. 68.
6 Ebd., S. 69.
7 Vgl. ebd.
8 Ebd.
9 Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 23.
10 Vgl. Groys 2012, S. 70.
11 Vgl. ebd.
12 Vgl. Rancière 2009, S. 22.
13 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 2002, S. 315.
14 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 2008, S. 14.
15 Ebd., S. 14.
16 Vgl. ebd., S. 40.
17 Ebd., S. 33.
18 Vgl. Kracauer 2002, S. 312.
19 Ebd., S. 315.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd., S. 313.
22 Vgl. Benjamin 2008, S. 35.
23 Ebd., S. 316.
24 Vgl. Kracauer 2002, S. 316.
25 Vgl. Groys 2012, S. 68.
26 Vgl. ebd., S. 75
27 Vgl. ebd., S. 68.
28 Vgl. ebd., S. 74.
29 Vgl. Benjamin 2008, S. 39.
30 Vgl. Kracauer 2002, S. 316.
31 Benjamin 2008, S. 39.
32 Vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main 2003, S. 191.
33 Ebd., S. 191.
34 Vgl. Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 13.
35 Groys 2012, S. 77f.
36 Ebd., S. 78.
37 Vgl. ebd.
38 Vgl. Rebentisch 2003, S. 183.
39 Groys 2012, S. 79.
40 Vgl. Benjamin 2008, S. 14.
41 Groys 2012, S. 68.
42 Ebd.
43 Vgl. ebd.
44 Vgl. Rebentisch 2003, S. 192.
45 Deleuze 2010, S. 15.
46 Vgl. ebd., S. 11ff.
47 Ebd., S. 13.
48 Vgl. Rebentisch 2003, S. 193.
49 Groys 2012, S. 69.
50 Ebd.
51 Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt am Main 1991, S. 100.
52 Ebd.
53 Deleuze 2010, S. 13.
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Editorial

Den scheinbar so einheitlichen wie unabänderlichen Weltlauf als zusammengestückelte Montage aufzudecken war jene Kraft, die Walter Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Film zusprach. Sobald das Geschehen sich als „gemachtes“, künstlich zusammengesetztes zeige, würden wir – so die Hoffnung – sehen, wie wir in die Strömung eingreifen und sie umleiten können anstatt von ihr fortgetragen zu werden. Dass die Ästhetik den Bereich der Wahrnehmung, des Schönen und der Vorstellung nicht dauerhaft von Politik, Geschichte und Ethik würde abgrenzen können, war bereits in der kantischen Formulierung der ästhetischen Freiheit angelegt. Diese Überkreuzung erzeugt eine Tendenz zur Selbstüberschreitung in Kunst und Ästhetik und gibt so einen Anstoß für die große Bandbreite von Themen und Methoden, die all-over in jeder Ausgabe zusammenzuführen sucht.

Julia Haugeneder untersucht ausgehend von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer das gesellschaftspolitische Potenzial der Videoinstallation und geht der Forderung nach der Aktivierung der RezipientInnen auf den Grund. Diese Forderung – von Boris Groys aktualisiert – skizziert eine aktiv-reflektierte Rezeption als selbstbestimmten Parcours durch unkalkulierbare Videoloops.

Unter anderen Vorzeichen nimmt Martina Tritthart den beweglichen Körper im Raum in den Blick. Die Schattenprojektionen und Wahrnehmungsräume von Maria Nordman und Nan Hoover thematisieren Räumlichkeit als umhüllende, atmosphärische Qualität.

Sybille Krämers Konzept der Schriftbildlichkeit kennzeichnet die spezifische Räumlichkeit der Schrift als operationales Feld. Christine Brandner hat für uns die Philosophin zur Schrift als Instrument der Erkenntnis befragt.

Angelika Seppi beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Imitation von Bewegung, Leben und längst überholter Filmtechnik. Ihre Rezension zur diesjährigen Ausstellung im österreichischen Pavillon der Venedig Biennale verortet den dort gezeigten Animationsfilm von Mathias Poledna im Gravitationsfeld der zeitgenössischen Kunstmaschinerie zwischen Markt, Unterhaltung und Kritik.

Mit einem Promemoria würdigt Stefanie Bräuer Ad Reinhardt zum 100. Geburtstag. Die Reinheit der Malerei, die Reinhardt in seinen black paintings zum Ende führte, konterkariert sie mit den kritischen Texten und Kommentaren des Künstlers, der seine Position nicht nur metaphysisch, sondern auch pragmatisch-taktisch abzustecken wusste.

Die Gleichzeitigkeit verschiedener Ströme sowie die Spannungen und Abweichungen dazwischen werden nicht zuletzt in der Bildstrecke thematisch, die innerhalb dieser Ausgabe in Form zweier selbständiger Teile erscheint. Die Künstler Rafael Lutter und Max Leiß nutzen das digitale Zeitschriftenformat von all-over ergänzend zu ihrer aktuellen Ausstellung Strömungsabriss im Ausstellungsraum Klingental in Basel.

In eigener Sache freut es uns mitzuteilen, dass Barbara Reisinger seit diesem Sommer dauerhaftes Mitglied unserer Redaktion in Wien ist.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg | Barbara Reisinger

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Die Schrift als Instrument der Erkenntnis*

Als Ferdinand de Saussure die Sprache mit einem Schachspiel verglich, so um die Horizontalität und die Gegenwärtigkeit seines Gegenstandes im Unterschied zur Vertikalität einer historisch ausgerichteten, evolutionistischen Sprachwissenschaft zu betonen. Bei diesem Vergleich war ihm nicht aufgefallen, dass er mit dem Schach – dem strategischen Positionsspiel par exellence – ein Bild verwendet hatte, das sich nicht so sehr auf gesprochene Sprache, als vielmehr auf die Schrift bezog, die ebenfalls mit der Verteilung von Elementen auf einer Fläche operiert. Für de Saussure, ebenso wie für seine NachfolgerInnen in den strukturalistischen Denkrichtungen, war die Schrift nichts anderes als die Aufzeichnung des gesprochenen Wortes und daher kein eigentliches Medium.

Die Philosophin Sybille Krämer hingegen versucht die Reduktion der Schrift auf ihre phonographische Dimension aufzubrechen, indem sie die Schrift als Medium sui generis thematisiert. Sie betont die Autonomie der Schrift gegenüber der gesprochenen Sprache, die sie vor allem mit der Ikonizität der Schrift begründet. Demnach besitzt Schrift als visuelles Medium, das sich in einem Flächenraum ausbreitet, eine topologische Dimension, die über die gesprochene Sprache hinausweist.

Sehr geehrte Frau Krämer, Sie haben die Ikonizität der Schrift als Forschungsgegenstand überhaupt erst begründet. Können Sie uns zur Einführung die für ihr Denken so zentralen Begriffe von Schriftbildlichkeit bzw. operativer Bildlichkeit erläutern

Was ist Schrift? Ist die Antwort darauf nicht allzu selbstverständlich? Schrift, das ist doch aufgeschriebene Sprache. Denn kaum gesagt, ist ein Wort, ein Satz auch schon verflogen. Doch niedergeschrieben, bleibt die Sprache stehen: Ihre Flüchtigkeit ist gebannt. Wir können den aufgeschriebenen Satz aufbewahren und später wieder lesen, wir können ihn umformulieren, wir können ihn durchstreichen …Keine Frage also: Das Entscheidende an der Schrift ist, dass sie die Sprache aufbewahrt. Und das kann die Schrift weil sie eine Form, eine besondere Form von Sprache ist: eben eine räumlich fixierte Sprache, die das mündliche Sprechen wieder gibt.

Aber ist das die ganze Geschichte, die über die Produktivität von Schriften zu erzählen ist? Was geschieht, wenn wir ein Kreuzworträtsel oder auch ein Sudoku lösen? Was bedeutet es, schriftlich zu rechnen? Was machen KomponistInnen, die Musik notieren, ProgrammiererInnen, die ein Programm entwerfen, ChemikerInnen, die eine chemische Formel entdecken? Haben diese Tätigkeiten etwas mit der Lautsprache zu tun? Findet das, was Komponisten und Choreographen, Rechner und Programmierer schriftlich aufsetzen, ein Analogon im Sprechen? Und bezogen auf gewöhnliche Texte: Wie verhält es sich mit den Satzzeichen, mit Wortabständen, mit Gedankenstrichen, mit Anführungszeichen, mit Überschriften, Fußnoten und mit der Groß- und Kleinschreibung? Alles dies sind Phänomene, für die wir in der gesprochenen Sprache keine Entsprechung finden. Wollen wir durchmessen, worin das eigensinnige und kreative Potenzial im Gebrauch der Schrift liegt, so müssen wir uns lösen von dem Vorurteil eines ‚phonographischen Dogmas‘, welches besagt, dass Schrift räumlich fixiertes Sprechen ist. Vielmehr sind Schriften Hybride aus Sprache und Bild, bei denen sich Eigenschaften des Diskursiven und des Ikonischen, des Sagens und des Zeigens miteinander verbinden.

Es ist der Begriff ‚Schriftbildlichkeit‘, der nun ein Forschungsprogramm akzentuiert, welches das phonographische Vorurteil, Schrift sei ein sekundäres System, bezogen auf die Sprache als dem primären System, zugunsten eines erweiterten Schriftkonzeptes überschreitet. Sprechen vollzieht sich in der einlinigen Dimension der Zeit, es ist linear. Doch Schriften brechen mit dem Linearitätsprinzip, denn – in der einen oder anderen Weise – nutzen sie die Zweidimensionalität, die Simultaneität der Fläche aus: Das gilt für jedwede Schrift, die beides, sowohl die rechts/links Richtung der Horizontalen, wie die oben/unten Richtung der Vertikalen nutzt. Das gilt erst recht für Kreuzworträtsel, für Partituren, für schriftliche Rechenverfahren oder für Konventionen wie Kapitelüberschriften, Fußnoten und Inhaltsverzeichnisse. Damit ist ein stabiler Schriftraum entstanden, der nicht nur Sachverhalte darstellt, sondern der auch ein Operations- und Laborraum ist. Denn Schriften sind Anordnungen, die immer auch anders angeordnet werden können. Das gilt nicht nur für die Buchstabenkinderspiele, bei denen wir ‚Lagerregal‘ fasziniert vorwärts und rückwärts lesen oder aus dem ‚Sarg‘ einfach ‚Gras‘ werden lassen. Sondern das gilt erst recht für kognitive Tätigkeiten wie logische Deduktionen, schriftliches Rechnen, das Formalisieren in der Mathematik, bei denen die regelhafte Manipulation von Zeichen zugleich kognitive Tätigkeiten vollziehen. Schriften können (auch) Werkzeuge, besser: Denkzeuge sein, ohne die viele Verfahren des Problemlösens und des Beweisens in den Wissenschaften erst gar nicht realisierbar wären.

Doch nicht nur das. Schriften sind auf sublime Art auch an der Erzeugung von intellektuellen Gegenständen beteiligt. Gibt es die Zahl Null, ehe die Ziffer ‚0‘ als Element eines dezimalen Notationssystems eingeführt wurde? Gibt es Geld, ehe es mit Zahl, Schrift und Bild geprägte Münzen oder Papiergeld gibt? Oder ins Soziale gewendet: Gibt es das Gesetz ohne das Schriftstück seiner Inauguration?

Indem Sie ihre Flächenräumlichkeit und Visibilität betonen scheint die Schrift in unmittelbare Nähe des Bildlichen gerückt, und der klassische kategoriale Antagonismus von Sprache und Bild, von Diskursivem und Ikonischem in der Schrift aufgehoben zu sein. Inwiefern lassen sich Schrift und Bild dann noch differenzieren?

Mit Bildern teilen Schriften nicht nur die Sichtbarkeit, sondern auch die räumliche Sonderform der Flächigkeit. Haben wir also, was Schrift ist, von der Sprache abgelöst, um sie der Seite des Bildlichen nun einfach zuzuschlagen? Wenn Schriften Hybride von Sprache und Bild sind, bedeutet dies: Sie vereinigen Attribute beider Seiten in sich. Dadurch entsteht eine Artikulations- und Darstellungsform ganz eigener Signatur, für deren Potenzial es weder bei der Sprache noch bei den Bildern ein Analogon gibt. Der Unterschied zu Bildern liegt auf der Hand: Schriften bedürfen der Leere und der Lücke; würden gedruckte Buchstaben so weit zusammengerückt, dass schließlich eine einzige schwarze Fläche entsteht, so haben wir zwar ein monochromes Bild gewonnen, aber dafür die Schrift und den Text verloren. Ohne die als Hintergrund sich bewahrende Leere, auch keine Inskription. Während Bilder stets ein Kontinuum verkörpern, bei denen alles, was auf der Bildfläche zu sehen ist, zugleich Element des Bildes ist, sind Schriften diskret organisiert: Sie setzen sich aus einem Repertoire kombinierbarer Grundzeichen zusammen, die in ihrer Einzelgestalt jeweils identifizierbar bleiben müssen und Lücken lassen. Der Raum der Schrift ist zwischenräumlich organisiert.

Sie können sich einerseits auf Derridas grammatologische Dekonstruktion mit ihrer anti-phonozentrischen Ausrichtung berufen, andererseits aber kritisieren sie seinen Ansatz als nicht weitreichend genug.

Derrida hat mit fast absolutistischer Geste die Schrift ins Zentrum der Semiosis gerückt und als Movens abendländischer Episteme gedeutet und im gleichen Zuge eben diesem abendländischen Denken einen Phonozentrismus unterstellt. Und ‚Phonozentrismus‘ heißt für Derrida: Insofern die Schrift nur als ein sekundäres, auf die Stimme referierendes Symbolsystem thematisch wird, wird die mündliche Sprache im abendländischen Denken zum archimedischen Punkt verklärt. Die Stimme gilt als verkörperter Bürge einer Selbstpräsenz und Selbsttransparenz des Bewusstseins.

Doch übersieht Derridas Phonozentrismuskritik nicht den impliziten Skriptizismus unserer Geistesgeschichte? Alle Wissenschaften, inklusive der Mathematik und der Logik, sind auf schriftliche Notationen angewiesen und die Physiognomie westlicher Kunst – denken wir an die Choreographie beim Tanz oder die Notenschrift musikalischer Komposition, vom ‚Schriftsteller‘ und der Literatur ganz zu schweigen – ist geprägt und infiltriert von den Potenzialen der Aufschreibtechniken. Gerade weil der bereits existierende implizite Skriptizismus mit Derridas Auszeichnung der Schrift als dem Mutterboden aller Zeichen explizit gemacht wird, konnte seine Grammatologie solche Wirkmächtigkeit erlangen. Wenn aber Derrida dabei das Verhältnis von Sprache und Schrift zum alles entscheidenden Mittelpunkt der Episteme macht und – ob er das wollte oder nicht – eine Umkehrung dieses Verhältnisses evoziert, indem jetzt die Schrift zur Bedingung der Möglichkeit von Sprache wird: Bleibt er dann nicht sublim dem linguistic turn verhaftet, der die Sprachlichkeit zum Zentrum unseres Selbst- und Weltverhältnisses macht – auf Kosten der Marginalisierung der Bilder?

Inwieweit sind Sie mit dem Konzept der Schriftbildlichkeit über Derrida hinausgegangen?

Ist die Schrift als Zwitter aus Sprache und Bild in ihren ikonischen, weil auf Räumlichkeit, Visualität und Taktilität ausgerichteten Aspekten, nicht gerade eine Sachwalterin einer Bildlichkeit inmitten unserer kommunikativen und kognitiven Praktiken? Scheut Derrida zurück vor dem Denken des Bildes?

Jedenfalls: Die Grammatologie kann nicht das letzte Wort sein. Wir müssen sie zu einer Diagrammatologie erweitern. Erst die jüngst entstehende Bildwissenschaft, welche die Bilder aus der musealen Einhegung als Kunstbilder befreit und sie in Gestalt von Diagrammen, Fotos, Skizzen, Karten als hervorragende Erkenntnisinstrumente aufdeckt, macht klar, welche schöpferischen und eben nicht nur illustrierenden Funktionen Bildern im Erkennen zukommen.

In Ihrer Arbeit ist ein starker interdisziplinärer Ansatz zu bemerken. So beziehen Sie etwa Themenbereiche aus der Wissenschaftsgeschichte, der Diagrammatik, der Philosophie und der Naturwissenschaften mit ein. Wie würden Sie die Notwendigkeit dieses Vorgehens begründen?

Es ist eine ‚Berufskrankheit der Philosophie‘, Begriffe zur Beschreibung der Welt mit der Welt selbst zu identifizieren. Begriffe sind Menschenwerk; sie sind vorläufige, veränderliche Antworten auf gewisse theoretische Probleme. Doch Begriff und Phänomen sind zu unterscheiden: Phänomene sind stets reicher als unsere Begriffe. Und doch benötigen wir diese klassifizierende, ja auch definierende begriffliche Vergewisserung. Philosophie ist völlig zu Recht: die Arbeit am Begriff, die Kreation von Begriffen. Doch eben diese bedarf der Tuchfühlung mit den Phänomenen und damit auch den Wissenschaften, die um Beschreibung und Erklärung dieser Phänomene ringen. Begriffe sind nur so gut, wie sie es erlauben Phänomene zu erschließen oder auf neue Art zu sehen. Einer der mich gegenwärtig beschäftigenden Begriffe ist die Diagrammatik. Wir nutzen flächige, räumliche Relationen, um damit theoretische Zusammenhängen zu erörtern und zu begründen. Die Diagrammatik ist nicht einfach die Lehre vom Gebrauch der Schaubilder für Erkenntniszwecke; vielmehr zeigt sie, wie die schematischen Bilder von Graphen, Diagrammen und Karten unmittelbar in die Erzeugung von Wissen intervenieren.

Auch die Forschungsarbeit am Graduiertenkolleg, Schriftbildlichkeit, Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen, an der Freien Universität Berlin will die Möglichkeiten eines „ikonisch-lautsprachenneutralen Schriftkonzepts“ untersuchen und stellt die Schrift als visuelles Phänomen in den Mittelpunkt. Wie würden Sie die Zielsetzungen des Forschungskollegs definieren?

Noch in der Diskussion über Oralität und Literalität im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts galt die Schrift – wie schon in der klassischen Tradition – als eine fixierte Form von Sprache. Dieses sprachzentrierte Schriftkonzept ist eurozentrisch, denn es marginalisiert die kommunikative und kognitive Funktion nicht alphabetischer Schriften. Es übersieht zugleich, dass Schriften immer schon auf nichtsprachliche Gegenstände verweisen, denken wir nur an Zahlenschriften, Notenschriften, chemische Formeln und überhaupt formale Sprachen, die tatsächlich ja formale Schriften sind. Das galt auch für das griechische Alphabet, das nicht nur Sprachlaute, sondern auch Zahlen und musikalische Töne repräsentierte. Nicht zuletzt gibt es ideographische, also lautsprachenunabhängige Aspekte auch bei alphabetischen Schriften selbst, denken wir an die Satzzeichen, Klein- und Großschreibung, an Absätze, die Aufteilung von Fließtext und Fußnoten etc. In jüngeren Einzelstudien wurden diese ideographischen – und eben nicht: phonographischen – Aspekte durchaus sondiert. Doch es fehlte eine methodische Bündelung all dieser Ansätze. Eben dies will das Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit bewirken. Es zielt auf einen Perspektivenwechsel hin zu einem lautsprachenneutralen Schriftkonzept: Schrift wird nicht mehr als aufgeschriebene mündliche Sprache definiert, sondern als ein Symbolsystem sui generis, das durch die materialen Merkmale der Wahrnehmbarkeit, Referenzialität und der Operativität charakterisiert ist: In ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Präsenz sind Schriften diskrete Symbolsysteme. Diese müssen auf etwas außerhalb der Schrift verweisen; ohne dieses Außerhalb werden Schriften zum bloßen Ornament. Der wichtigste Aspekt aber ist die Operativität: Schriften sind nicht nur ein Medium zur Darstellung von etwas, sondern allererst ein kreatives Medium zur Hervorbringung von etwas. Gibt es die Idee der Grammatik und damit der grammatischen Korrektheit im Sprechen, bevor die phonetischen Schriften die flüchtige mündliche Sprache als stabile räumliche Anordnung beobachtbar und in grammatische Einheiten zerlegbar machten? Schriften also referieren nicht einfach auf etwas ihnen Vorgegebenes, sondern bringen dieses durch den Akt der Inskription hervor.

Zugleich macht dieser operative Aspekt klar, dass die Idee der Schriftbildlichkeit nicht nur die Visualität, vielmehr die Sinnlichkeit der Schrift gerade auch in ihren taktilen Dimensionen betont. Die Schrift ist nicht nur ein Kommunikationsmedium, sondern auch ein Kognitionsmittel, denken wir nur an das schriftliche Rechnen. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin, jeder Schriftsteller und jede Schriftstellerin weiß: Das Schreiben und Korrigieren des Geschriebenen ist der Laborraum des Gedankens.

Sie haben in den frühen 1990er Jahren begonnen, ausgehend von Ihrem Interesse in den Bereichen von Wissenschafts- und Technikgeschichte, sich mit der Frage nach der spezifischen Medialität von Schrift zu beschäftigen, bis Sie dann 1996 in einem Aufsatz direkt fragen: „Ist Schrift verschriftlichte Sprache?“ Gab es in der Konstituierung Ihres Forschungsgegenstandes Schriftbildlichkeit einen bestimmten Auslöser?

Ja, der Auslöser ist ganz klar die Mathematik. Wie kann man Schriften definieren dadurch, dass sie Sprache aufschreiben, wenn das wirkmächtige Instrument der Zahlenschrift und der mathematischen Operationszeichen in seinem Schriftcharakter dann schlichtweg übersehen oder gar negiert werden muss? Am dezimalen Positionssystem, das indische Mathematiker entdeckten und arabische Gelehrte nach Europa brachten, machte ich eine interessante Entdeckung: Die Römer etwa trennten Zahlendarstellung und Rechnen, insofern mit ihrer Zahlenschrift nicht zugleich komplexer schriftlich gerechnet werden konnte; dazu brauchten sie einen Abakus oder ein Rechenbrett. Ganz anders das indische dezimale Positionssystem, bei dem die Zahlenschrift zugleich das Recheninstrument bildet. Diese Synthese von Symbol und Technik, die im Kalkülcharakter des Positionssystem wurzelt, wird bewerkstelligt durch einen neuartigen Typ von ‚stummer‘, von ‚operativer Schrift‘, die im frühneuzeitlichen Europa die Wissenschaften, aber auch den Alltag durchdrang. Es ist das, was wir unter einer ‚Formel‘ verstehen, bei der sich Konstruktion und Interpretation voneinander ablösen. Indem das Rechnen formal wurde, konnte es zu einer lehr- und lernbaren Kulturtechnik avancieren. Der Sieg des frühneuzeitlichen Handelskapitalismus ist ohne diese Kulturtechnik schriftlichen Rechnens undenkbar. Es waren die Medici, die ihre Buchhaltung erstmals von römischen auf die indischen Ziffern umstellten, und der Rechenmeister Adam Riese, der das indische Ziffernrechnen lehrte, ist uns als Name allseits bekannt.

Schließlich – die Erfindung des Binäralphabets durch Leibniz verweist schon darauf – ist diese Synthese von Symbol und Technik in Gestalt der operativen Schrift der Nährboden der Digitalisierung und der Computerisierung. Die Turingmaschine, die den herkömmlichen Computern zugrunde liegt, ist ein Formalismus, eine Schrifttabelle. Der Computer erweist sich also – seiner Nützlichkeit als Visualisierungsmedium zum Trotz – als eine Schriftmaschine. Mit dem ‚Link‘, der neuartigen Form einer autooperativen, sich selbst bewegenden Schrift, ohne welche das Internet undenkbar ist, werden wir Zeugen einer aufschlussreichen Fortbildung der Schrift. Konnte Platon noch sagen: Wenn ich einen Text befrage, sagt er mir immer dasselbe, wird es nun mit dem Computer möglich, Zeit in die räumlichen Anordnungen der Schrift zu implementieren. Daraus entsteht das Instrument der Computersimulation, das heute eine dritte ‚Säule‘ neben dem Experiment und der Theorie in den Wissenschaften abgibt.

Wenn also für mich die Einsicht in den operativen Charakter der Zahlenschrift eine Initialzündung gewesen ist, dann führt diese Einsicht bis hin zu den mit der Digitalisierung verbundenen Phänomenen. Diese zeigen uns, dass und wie der Begriff der Schrift sich theoretisch fortbilden kann.

Sybille Krämer ist seit 1989 Professorin für theoretische Philosophie am Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin. Seit 2010 ist sie Mitglied im DFG geförderten Graduiertenkolleg 1539: ‘Sichtbarkeit und Sichtbarmachung’ an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Grundlagenfragen der Kulturphilosophie sowie Philosophie des Bildes, der Diagrammatik und der Schrift. 


*Das vorliegende Gespräch fand am 3. Juli 2013 per E-Mail statt.

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