Die Schrift als Instrument der Erkenntnis*

Sybille Krämer im Gespräch mit Christine Brandner

Als Ferdinand de Saussure die Sprache mit einem Schachspiel verglich, so um die Horizontalität und die Gegenwärtigkeit seines Gegenstandes im Unterschied zur Vertikalität einer historisch ausgerichteten, evolutionistischen Sprachwissenschaft zu betonen. Bei diesem Vergleich war ihm nicht aufgefallen, dass er mit dem Schach – dem strategischen Positionsspiel par exellence – ein Bild verwendet hatte, das sich nicht so sehr auf gesprochene Sprache, als vielmehr auf die Schrift bezog, die ebenfalls mit der Verteilung von Elementen auf einer Fläche operiert. Für de Saussure, ebenso wie für seine NachfolgerInnen in den strukturalistischen Denkrichtungen, war die Schrift nichts anderes als die Aufzeichnung des gesprochenen Wortes und daher kein eigentliches Medium.

Die Philosophin Sybille Krämer hingegen versucht die Reduktion der Schrift auf ihre phonographische Dimension aufzubrechen, indem sie die Schrift als Medium sui generis thematisiert. Sie betont die Autonomie der Schrift gegenüber der gesprochenen Sprache, die sie vor allem mit der Ikonizität der Schrift begründet. Demnach besitzt Schrift als visuelles Medium, das sich in einem Flächenraum ausbreitet, eine topologische Dimension, die über die gesprochene Sprache hinausweist.

Sehr geehrte Frau Krämer, Sie haben die Ikonizität der Schrift als Forschungsgegenstand überhaupt erst begründet. Können Sie uns zur Einführung die für ihr Denken so zentralen Begriffe von Schriftbildlichkeit bzw. operativer Bildlichkeit erläutern

Was ist Schrift? Ist die Antwort darauf nicht allzu selbstverständlich? Schrift, das ist doch aufgeschriebene Sprache. Denn kaum gesagt, ist ein Wort, ein Satz auch schon verflogen. Doch niedergeschrieben, bleibt die Sprache stehen: Ihre Flüchtigkeit ist gebannt. Wir können den aufgeschriebenen Satz aufbewahren und später wieder lesen, wir können ihn umformulieren, wir können ihn durchstreichen …Keine Frage also: Das Entscheidende an der Schrift ist, dass sie die Sprache aufbewahrt. Und das kann die Schrift weil sie eine Form, eine besondere Form von Sprache ist: eben eine räumlich fixierte Sprache, die das mündliche Sprechen wieder gibt.

Aber ist das die ganze Geschichte, die über die Produktivität von Schriften zu erzählen ist? Was geschieht, wenn wir ein Kreuzworträtsel oder auch ein Sudoku lösen? Was bedeutet es, schriftlich zu rechnen? Was machen KomponistInnen, die Musik notieren, ProgrammiererInnen, die ein Programm entwerfen, ChemikerInnen, die eine chemische Formel entdecken? Haben diese Tätigkeiten etwas mit der Lautsprache zu tun? Findet das, was Komponisten und Choreographen, Rechner und Programmierer schriftlich aufsetzen, ein Analogon im Sprechen? Und bezogen auf gewöhnliche Texte: Wie verhält es sich mit den Satzzeichen, mit Wortabständen, mit Gedankenstrichen, mit Anführungszeichen, mit Überschriften, Fußnoten und mit der Groß- und Kleinschreibung? Alles dies sind Phänomene, für die wir in der gesprochenen Sprache keine Entsprechung finden. Wollen wir durchmessen, worin das eigensinnige und kreative Potenzial im Gebrauch der Schrift liegt, so müssen wir uns lösen von dem Vorurteil eines ‚phonographischen Dogmas‘, welches besagt, dass Schrift räumlich fixiertes Sprechen ist. Vielmehr sind Schriften Hybride aus Sprache und Bild, bei denen sich Eigenschaften des Diskursiven und des Ikonischen, des Sagens und des Zeigens miteinander verbinden.

Es ist der Begriff ‚Schriftbildlichkeit‘, der nun ein Forschungsprogramm akzentuiert, welches das phonographische Vorurteil, Schrift sei ein sekundäres System, bezogen auf die Sprache als dem primären System, zugunsten eines erweiterten Schriftkonzeptes überschreitet. Sprechen vollzieht sich in der einlinigen Dimension der Zeit, es ist linear. Doch Schriften brechen mit dem Linearitätsprinzip, denn – in der einen oder anderen Weise – nutzen sie die Zweidimensionalität, die Simultaneität der Fläche aus: Das gilt für jedwede Schrift, die beides, sowohl die rechts/links Richtung der Horizontalen, wie die oben/unten Richtung der Vertikalen nutzt. Das gilt erst recht für Kreuzworträtsel, für Partituren, für schriftliche Rechenverfahren oder für Konventionen wie Kapitelüberschriften, Fußnoten und Inhaltsverzeichnisse. Damit ist ein stabiler Schriftraum entstanden, der nicht nur Sachverhalte darstellt, sondern der auch ein Operations- und Laborraum ist. Denn Schriften sind Anordnungen, die immer auch anders angeordnet werden können. Das gilt nicht nur für die Buchstabenkinderspiele, bei denen wir ‚Lagerregal‘ fasziniert vorwärts und rückwärts lesen oder aus dem ‚Sarg‘ einfach ‚Gras‘ werden lassen. Sondern das gilt erst recht für kognitive Tätigkeiten wie logische Deduktionen, schriftliches Rechnen, das Formalisieren in der Mathematik, bei denen die regelhafte Manipulation von Zeichen zugleich kognitive Tätigkeiten vollziehen. Schriften können (auch) Werkzeuge, besser: Denkzeuge sein, ohne die viele Verfahren des Problemlösens und des Beweisens in den Wissenschaften erst gar nicht realisierbar wären.

Doch nicht nur das. Schriften sind auf sublime Art auch an der Erzeugung von intellektuellen Gegenständen beteiligt. Gibt es die Zahl Null, ehe die Ziffer ‚0‘ als Element eines dezimalen Notationssystems eingeführt wurde? Gibt es Geld, ehe es mit Zahl, Schrift und Bild geprägte Münzen oder Papiergeld gibt? Oder ins Soziale gewendet: Gibt es das Gesetz ohne das Schriftstück seiner Inauguration?

Indem Sie ihre Flächenräumlichkeit und Visibilität betonen scheint die Schrift in unmittelbare Nähe des Bildlichen gerückt, und der klassische kategoriale Antagonismus von Sprache und Bild, von Diskursivem und Ikonischem in der Schrift aufgehoben zu sein. Inwiefern lassen sich Schrift und Bild dann noch differenzieren?

Mit Bildern teilen Schriften nicht nur die Sichtbarkeit, sondern auch die räumliche Sonderform der Flächigkeit. Haben wir also, was Schrift ist, von der Sprache abgelöst, um sie der Seite des Bildlichen nun einfach zuzuschlagen? Wenn Schriften Hybride von Sprache und Bild sind, bedeutet dies: Sie vereinigen Attribute beider Seiten in sich. Dadurch entsteht eine Artikulations- und Darstellungsform ganz eigener Signatur, für deren Potenzial es weder bei der Sprache noch bei den Bildern ein Analogon gibt. Der Unterschied zu Bildern liegt auf der Hand: Schriften bedürfen der Leere und der Lücke; würden gedruckte Buchstaben so weit zusammengerückt, dass schließlich eine einzige schwarze Fläche entsteht, so haben wir zwar ein monochromes Bild gewonnen, aber dafür die Schrift und den Text verloren. Ohne die als Hintergrund sich bewahrende Leere, auch keine Inskription. Während Bilder stets ein Kontinuum verkörpern, bei denen alles, was auf der Bildfläche zu sehen ist, zugleich Element des Bildes ist, sind Schriften diskret organisiert: Sie setzen sich aus einem Repertoire kombinierbarer Grundzeichen zusammen, die in ihrer Einzelgestalt jeweils identifizierbar bleiben müssen und Lücken lassen. Der Raum der Schrift ist zwischenräumlich organisiert.

Sie können sich einerseits auf Derridas grammatologische Dekonstruktion mit ihrer anti-phonozentrischen Ausrichtung berufen, andererseits aber kritisieren sie seinen Ansatz als nicht weitreichend genug.

Derrida hat mit fast absolutistischer Geste die Schrift ins Zentrum der Semiosis gerückt und als Movens abendländischer Episteme gedeutet und im gleichen Zuge eben diesem abendländischen Denken einen Phonozentrismus unterstellt. Und ‚Phonozentrismus‘ heißt für Derrida: Insofern die Schrift nur als ein sekundäres, auf die Stimme referierendes Symbolsystem thematisch wird, wird die mündliche Sprache im abendländischen Denken zum archimedischen Punkt verklärt. Die Stimme gilt als verkörperter Bürge einer Selbstpräsenz und Selbsttransparenz des Bewusstseins.

Doch übersieht Derridas Phonozentrismuskritik nicht den impliziten Skriptizismus unserer Geistesgeschichte? Alle Wissenschaften, inklusive der Mathematik und der Logik, sind auf schriftliche Notationen angewiesen und die Physiognomie westlicher Kunst – denken wir an die Choreographie beim Tanz oder die Notenschrift musikalischer Komposition, vom ‚Schriftsteller‘ und der Literatur ganz zu schweigen – ist geprägt und infiltriert von den Potenzialen der Aufschreibtechniken. Gerade weil der bereits existierende implizite Skriptizismus mit Derridas Auszeichnung der Schrift als dem Mutterboden aller Zeichen explizit gemacht wird, konnte seine Grammatologie solche Wirkmächtigkeit erlangen. Wenn aber Derrida dabei das Verhältnis von Sprache und Schrift zum alles entscheidenden Mittelpunkt der Episteme macht und – ob er das wollte oder nicht – eine Umkehrung dieses Verhältnisses evoziert, indem jetzt die Schrift zur Bedingung der Möglichkeit von Sprache wird: Bleibt er dann nicht sublim dem linguistic turn verhaftet, der die Sprachlichkeit zum Zentrum unseres Selbst- und Weltverhältnisses macht – auf Kosten der Marginalisierung der Bilder?

Inwieweit sind Sie mit dem Konzept der Schriftbildlichkeit über Derrida hinausgegangen?

Ist die Schrift als Zwitter aus Sprache und Bild in ihren ikonischen, weil auf Räumlichkeit, Visualität und Taktilität ausgerichteten Aspekten, nicht gerade eine Sachwalterin einer Bildlichkeit inmitten unserer kommunikativen und kognitiven Praktiken? Scheut Derrida zurück vor dem Denken des Bildes?

Jedenfalls: Die Grammatologie kann nicht das letzte Wort sein. Wir müssen sie zu einer Diagrammatologie erweitern. Erst die jüngst entstehende Bildwissenschaft, welche die Bilder aus der musealen Einhegung als Kunstbilder befreit und sie in Gestalt von Diagrammen, Fotos, Skizzen, Karten als hervorragende Erkenntnisinstrumente aufdeckt, macht klar, welche schöpferischen und eben nicht nur illustrierenden Funktionen Bildern im Erkennen zukommen.

In Ihrer Arbeit ist ein starker interdisziplinärer Ansatz zu bemerken. So beziehen Sie etwa Themenbereiche aus der Wissenschaftsgeschichte, der Diagrammatik, der Philosophie und der Naturwissenschaften mit ein. Wie würden Sie die Notwendigkeit dieses Vorgehens begründen?

Es ist eine ‚Berufskrankheit der Philosophie‘, Begriffe zur Beschreibung der Welt mit der Welt selbst zu identifizieren. Begriffe sind Menschenwerk; sie sind vorläufige, veränderliche Antworten auf gewisse theoretische Probleme. Doch Begriff und Phänomen sind zu unterscheiden: Phänomene sind stets reicher als unsere Begriffe. Und doch benötigen wir diese klassifizierende, ja auch definierende begriffliche Vergewisserung. Philosophie ist völlig zu Recht: die Arbeit am Begriff, die Kreation von Begriffen. Doch eben diese bedarf der Tuchfühlung mit den Phänomenen und damit auch den Wissenschaften, die um Beschreibung und Erklärung dieser Phänomene ringen. Begriffe sind nur so gut, wie sie es erlauben Phänomene zu erschließen oder auf neue Art zu sehen. Einer der mich gegenwärtig beschäftigenden Begriffe ist die Diagrammatik. Wir nutzen flächige, räumliche Relationen, um damit theoretische Zusammenhängen zu erörtern und zu begründen. Die Diagrammatik ist nicht einfach die Lehre vom Gebrauch der Schaubilder für Erkenntniszwecke; vielmehr zeigt sie, wie die schematischen Bilder von Graphen, Diagrammen und Karten unmittelbar in die Erzeugung von Wissen intervenieren.

Auch die Forschungsarbeit am Graduiertenkolleg, Schriftbildlichkeit, Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen, an der Freien Universität Berlin will die Möglichkeiten eines „ikonisch-lautsprachenneutralen Schriftkonzepts“ untersuchen und stellt die Schrift als visuelles Phänomen in den Mittelpunkt. Wie würden Sie die Zielsetzungen des Forschungskollegs definieren?

Noch in der Diskussion über Oralität und Literalität im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts galt die Schrift – wie schon in der klassischen Tradition – als eine fixierte Form von Sprache. Dieses sprachzentrierte Schriftkonzept ist eurozentrisch, denn es marginalisiert die kommunikative und kognitive Funktion nicht alphabetischer Schriften. Es übersieht zugleich, dass Schriften immer schon auf nichtsprachliche Gegenstände verweisen, denken wir nur an Zahlenschriften, Notenschriften, chemische Formeln und überhaupt formale Sprachen, die tatsächlich ja formale Schriften sind. Das galt auch für das griechische Alphabet, das nicht nur Sprachlaute, sondern auch Zahlen und musikalische Töne repräsentierte. Nicht zuletzt gibt es ideographische, also lautsprachenunabhängige Aspekte auch bei alphabetischen Schriften selbst, denken wir an die Satzzeichen, Klein- und Großschreibung, an Absätze, die Aufteilung von Fließtext und Fußnoten etc. In jüngeren Einzelstudien wurden diese ideographischen – und eben nicht: phonographischen – Aspekte durchaus sondiert. Doch es fehlte eine methodische Bündelung all dieser Ansätze. Eben dies will das Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit bewirken. Es zielt auf einen Perspektivenwechsel hin zu einem lautsprachenneutralen Schriftkonzept: Schrift wird nicht mehr als aufgeschriebene mündliche Sprache definiert, sondern als ein Symbolsystem sui generis, das durch die materialen Merkmale der Wahrnehmbarkeit, Referenzialität und der Operativität charakterisiert ist: In ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Präsenz sind Schriften diskrete Symbolsysteme. Diese müssen auf etwas außerhalb der Schrift verweisen; ohne dieses Außerhalb werden Schriften zum bloßen Ornament. Der wichtigste Aspekt aber ist die Operativität: Schriften sind nicht nur ein Medium zur Darstellung von etwas, sondern allererst ein kreatives Medium zur Hervorbringung von etwas. Gibt es die Idee der Grammatik und damit der grammatischen Korrektheit im Sprechen, bevor die phonetischen Schriften die flüchtige mündliche Sprache als stabile räumliche Anordnung beobachtbar und in grammatische Einheiten zerlegbar machten? Schriften also referieren nicht einfach auf etwas ihnen Vorgegebenes, sondern bringen dieses durch den Akt der Inskription hervor.

Zugleich macht dieser operative Aspekt klar, dass die Idee der Schriftbildlichkeit nicht nur die Visualität, vielmehr die Sinnlichkeit der Schrift gerade auch in ihren taktilen Dimensionen betont. Die Schrift ist nicht nur ein Kommunikationsmedium, sondern auch ein Kognitionsmittel, denken wir nur an das schriftliche Rechnen. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin, jeder Schriftsteller und jede Schriftstellerin weiß: Das Schreiben und Korrigieren des Geschriebenen ist der Laborraum des Gedankens.

Sie haben in den frühen 1990er Jahren begonnen, ausgehend von Ihrem Interesse in den Bereichen von Wissenschafts- und Technikgeschichte, sich mit der Frage nach der spezifischen Medialität von Schrift zu beschäftigen, bis Sie dann 1996 in einem Aufsatz direkt fragen: „Ist Schrift verschriftlichte Sprache?“ Gab es in der Konstituierung Ihres Forschungsgegenstandes Schriftbildlichkeit einen bestimmten Auslöser?

Ja, der Auslöser ist ganz klar die Mathematik. Wie kann man Schriften definieren dadurch, dass sie Sprache aufschreiben, wenn das wirkmächtige Instrument der Zahlenschrift und der mathematischen Operationszeichen in seinem Schriftcharakter dann schlichtweg übersehen oder gar negiert werden muss? Am dezimalen Positionssystem, das indische Mathematiker entdeckten und arabische Gelehrte nach Europa brachten, machte ich eine interessante Entdeckung: Die Römer etwa trennten Zahlendarstellung und Rechnen, insofern mit ihrer Zahlenschrift nicht zugleich komplexer schriftlich gerechnet werden konnte; dazu brauchten sie einen Abakus oder ein Rechenbrett. Ganz anders das indische dezimale Positionssystem, bei dem die Zahlenschrift zugleich das Recheninstrument bildet. Diese Synthese von Symbol und Technik, die im Kalkülcharakter des Positionssystem wurzelt, wird bewerkstelligt durch einen neuartigen Typ von ‚stummer‘, von ‚operativer Schrift‘, die im frühneuzeitlichen Europa die Wissenschaften, aber auch den Alltag durchdrang. Es ist das, was wir unter einer ‚Formel‘ verstehen, bei der sich Konstruktion und Interpretation voneinander ablösen. Indem das Rechnen formal wurde, konnte es zu einer lehr- und lernbaren Kulturtechnik avancieren. Der Sieg des frühneuzeitlichen Handelskapitalismus ist ohne diese Kulturtechnik schriftlichen Rechnens undenkbar. Es waren die Medici, die ihre Buchhaltung erstmals von römischen auf die indischen Ziffern umstellten, und der Rechenmeister Adam Riese, der das indische Ziffernrechnen lehrte, ist uns als Name allseits bekannt.

Schließlich – die Erfindung des Binäralphabets durch Leibniz verweist schon darauf – ist diese Synthese von Symbol und Technik in Gestalt der operativen Schrift der Nährboden der Digitalisierung und der Computerisierung. Die Turingmaschine, die den herkömmlichen Computern zugrunde liegt, ist ein Formalismus, eine Schrifttabelle. Der Computer erweist sich also – seiner Nützlichkeit als Visualisierungsmedium zum Trotz – als eine Schriftmaschine. Mit dem ‚Link‘, der neuartigen Form einer autooperativen, sich selbst bewegenden Schrift, ohne welche das Internet undenkbar ist, werden wir Zeugen einer aufschlussreichen Fortbildung der Schrift. Konnte Platon noch sagen: Wenn ich einen Text befrage, sagt er mir immer dasselbe, wird es nun mit dem Computer möglich, Zeit in die räumlichen Anordnungen der Schrift zu implementieren. Daraus entsteht das Instrument der Computersimulation, das heute eine dritte ‚Säule‘ neben dem Experiment und der Theorie in den Wissenschaften abgibt.

Wenn also für mich die Einsicht in den operativen Charakter der Zahlenschrift eine Initialzündung gewesen ist, dann führt diese Einsicht bis hin zu den mit der Digitalisierung verbundenen Phänomenen. Diese zeigen uns, dass und wie der Begriff der Schrift sich theoretisch fortbilden kann.

Sybille Krämer ist seit 1989 Professorin für theoretische Philosophie am Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin. Seit 2010 ist sie Mitglied im DFG geförderten Graduiertenkolleg 1539: ‘Sichtbarkeit und Sichtbarmachung’ an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Grundlagenfragen der Kulturphilosophie sowie Philosophie des Bildes, der Diagrammatik und der Schrift. 


*Das vorliegende Gespräch fand am 3. Juli 2013 per E-Mail statt.

Christine Brandner studierte Kunstgeschichte in Wien und absolviert derzeit ein Doktoratsstudium an der Universität Yale. Ihre Forschungsinteresse reicht von spätmittelalterlichen Stickereien bis zum Verhältnis von Text und Bild in der holländischen Stilllebenmalerei des siebzehnten Jahrhunderts.
Dieser Artikel erscheint in der Kategorie Ausgabe 5, Interviews. Permalink.