Moderne im Archiv

Zur Kritik des utopischen Erbes in der Gegenwartskunst

„Archival art“, so schreibt Hal Foster in seinem 2004 erschienenen Essay über den archivalischen Impuls in der Gegenwartskunst, „[has] its utopian ambition – its desire to turn belatedness into becomingness, to recoup failed visions in art, literature, philosophy, and everyday life into possible scenarios of alternative kinds of social relations, to transform the no-place of the archive into the no-place of a utopia.“1 Die Arbeit der Utopie, die Foster im Aufbrechen geschichtlicher Vergangenheiten und in der Freisetzung von Formen einer Zukunftsoffenheit verortet, erscheint als eine ebenso schlüssige Deutung der archivalischen Kunst wie die Aktualisierung des utopischen Erbes der Moderne zugleich in hohem Maße ambivalent bleibt.

Die kritische Aneignung von Phänomenen der Moderne war in den vergangenen Jahren zu einem dezidierten Einsatzpunkt der Gegenwartskunst geworden, und zwar insbesondere dann, wenn sie sich vordergründig für Archive, geschichtliche Ereignisse und Erzählungen der Vergangenheit interessierte. Unter dem Schlagwort einer „historiografischen Wende“ (Dieter Roelstraete) entstand eine künstlerische Formation, deren VertreterInnen in Ausstellungen und Biennalen prominent repräsentiert waren und die zugleich Gegenstand kunstwissenschaftlicher Forschung und Kritik wurde.2 Die Werke von KünstlerInnen wie David Maljković, Paulina Olowska, Laura Horelli, Runa Islam, Falke Pisano, Asier Mendizabal oder Tacita Dean – um nur einige zu nennen – beziehen sich auf die Moderne in vielgestaltiger Weise und mit unterschiedlichen Intentionen: Es geht um die Erweiterung des kunstgeschichtlichen Kanons, die Geltendmachung postkolonialer sowie postsozialistischer Perspektiven, aber auch um die Befragung des Status von Moderne überhaupt. Häufig mündet die Auseinandersetzung in die Erforschung von Narrativen und Erscheinungsformen der modernen Utopien, wobei die Perspektive oft zwischen Kritik und Nostalgie schwankt. Die Kuratorin Sabine Breitwieser beschrieb dies vor einigen Jahren so: „Not seldom has the impression arisen that artists are calling for the return to earlier utopian ideas, thereby slipping into a state of nostalgia – without, however, calling into question the issue of failure that has frequently been proclaimed in postmodernity, namely the apparent dishonouring of onetime promises of modernity.“3

Während Fortschrittsoptimismus, utopisches Bewusstsein und die Einbehaltung von universellen Emanzipationsperspektiven noch konstitutiv für das kulturelle Selbstverständnis der Moderne waren, wird in der heutigen spätmodernen Gesellschaft indes häufig ein Verlust utopischen Denkens diagnostiziert. Die problematische Idee einer schlechthinnigen Versöhnung der Subjekte – als Überwindung ihrer entzweiten, entfremdeten Natur – hat im Rahmen einer schlechthinnig versöhnten Gesellschaft die totalitären Züge hervorgekehrt, die dem utopischen Denken der Moderne zugrunde lagen. Der blinde Universalismus diskreditierte die ästhetischen Dimensionen einer umfassenden Gestaltung der Lebenswelt, die die Projekte utopischer Vergemeinschaftung begleitet hatten – gerade dort, wo Utopien als Projekte der sozialrevolutionären Transformation von Lebenswelten in Erscheinung traten. Auch dort, wo das Utopische nur mehr als abstraktes Versprechen auf zukünftige Versöhnung erschien, wo es also bildlos blieb, wie Adorno sagte, hat die Utopie ihre problematischen Seiten hervorgekehrt.4 Im Anspruch auf Versöhnung, auf Zustände jenseits von subjektiver und kollektiver Differenz, steht utopisches Denken in einem Spannungsverhältnis zur offenen, plural wie imperfekt verfassten menschlichen Geschichte. Die Kontingenz alles Geschichtlichen, so der Konsens des utopischen Denkens der Moderne, sollte zugleich überwindbar sein und überwunden werden – Zukunftsvorstellungen wurden projiziert auf eine außerhistorische, absolute Welt.

Abb. 1: Tacita Dean, Bubble House, 1999, Farbfotografie, 105 x 135 cm.
Quelle: Museum für Gegenwartskunst Basel (Hg.), Tacita Dean. Selected Works – Ausgewählte Werke 1994–2000 (Kat.), Basel 2000, S. 36.

Breitwiesers Beschreibung der Historiografien macht gemeinsam mit Fosters Überlegungen zum archivalischen Impuls gleichwohl eines deutlich: Die künstlerischen Historiografien positionieren sich insbesondere vor dem Hintergrund der von ihnen verhandelten utopischen Motive der Moderne in hohem Maße ambivalent. Nicht nur stehen Nostalgie und Kritik, wie Breitwieser betont, in einem oft ungeklärten Spannungsverhältnis zueinander, zudem lässt die Dynamik, die sich in den künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Vergangenen entfaltet, zumeist offen, inwiefern hier eine implizite und unreflektierte Aktualisierung utopischer Motive überhaupt strukturell zum Tragen kommt. Fosters Lesart der archivalischen Praxis legt eine solche Aktualisierung nahe, zumal er den künstlerischen Beschäftigungen mit dem Archiv das Potenzial zu einer Transformation des Gegebenen zuweist. Dabei bezieht er die Unbestimmtheit, in welcher sich das Vergangene zeigt, auf die Möglichkeit alternativer utopischer „Szenarien“, wie Foster schreibt, und leistet damit selbst einer eher normativen Lesart des Utopischen in der Gegenwartskunst Vorschub.

So interessant Fosters Gedanke auch sein mag: Nicht nur bleibt weitgehend sehr vage, wie eine solche Dynamik genau verstanden werden soll, es stellt sich insbesondere die Frage, ob dies dem archivalischen Impuls überhaupt angemessen ist. Bedeutet die Aneignung der utopischen Projekte der Moderne tatsächlich schon die Produktivmachung neuer „Nicht-Orte der Utopie“5? Mit anderen Worten: Entfaltet die archivalische Kunst selbst ein genuin utopisches Potenzial? Es wäre schließlich zu plausibilisieren, wie sich ein derartiger Impuls in der Gegenwartskunst zu jener langen Geschichte der Kritik an der ästhetischen Moderne verhält, die von der Zurückweisung der utopischen Implikationen im Modernismus sowie den sozialrevolutionären Ansprüchen der historischen Avantgarden bis in die jüngere Gegenwart reicht. Sofern die Diskussionen um den Geschichtsbezug in der Gegenwartskunst diese Ambivalenzen keineswegs abschließend perspektiviert haben, will ich im Folgenden eine Lesart verteidigen, die die Historiografien mit Blick auf die Verhandlung utopischer Motive weniger als eine Fortschreibung und Aktualisierung, sondern vielmehr als eine Bewegung zu deren Kritik verständlich macht.

Es ist keineswegs unumstritten, dass die Gegenwartskunst umstandslos als kritisch gegenüber dem utopischen Denken verstanden werden kann. Neben Hal Foster hat auch der Philosoph Peter Osborne in seiner prominenten Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit der Gegenwartskunst eine strukturelle Nähe der Historiografien zu utopischen Motiven in der Kunst verteidigt.6 Osborne betont, dass die Aufarbeitung der Moderne und die Thematisierung geschichtlicher Bezüge in der Gegenwartskunst selbst auf einen utopischen Horizont verweist – und zwar nicht nur dann, wenn sich die Kunst thematisch auf konkrete Erscheinungsformen historischer Utopien zurückbeugt. In der Auseinandersetzung mit der Geschichte selbst liegt, Osborne zufolge, ein strukturell utopisches Moment: „history (like art) is inherently utopian.“7 Der Begriff der Geschichte sei immer schon auf einen transzendentalen Horizont bezogen, von dem aus Geschichte überhaupt erst als eine geschlossene Einheit gedacht werden kann.8 Folgt man Osborne, dann sind die konkreten Rückgriffe auf vergangene geschichtliche Phänomene zudem niemals bloß als eine Erinnerung für das Subjekt gegenwärtig, etwa in dem Sinn, dass die Geschichte als eine Verlebendigung vergangener Ereignisse im Hier und Jetzt der Gegenwart erscheint.9 Sondern das Vergangene sei immer zugleich in Beziehung zur Gegenwart und Zukunft gesetzt: „For history is not just a relationship between the present and the past – it is equally about the future.“10

Was Osborne zum einen beschreibt, ist die dynamische wechselseitige Interdependenz, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Konstruktion von Geschichtsbildern immer schon ineinander verwickelt sind. Dabei sei das Vergangene zunächst gar nicht als ein objektiv Gegebenes aufzufassen.11 Im Gegenteil sei es ein konstitutiv subjektiver Anteil, der in der Konstruktion von geschichtlichen Gegenständen überhaupt zum Tragen komme. Diese werden aus der Gegenwart konkreter Subjekte oder Kollektive konstituiert, wobei hier auch die Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen der Gegenwart in das Vergangene zurückprojiziert würden: „The genealogical primacy of the present in the construction of the past itself contains particular possible futures within it, in the form of expectations and desires that regulate both selection and construction in historical representation, within the broader terms of its utopian projection of the human itself.“12

Osbornes Charakterisierung ist zunächst durchaus stichhaltig. So wurde auch von anderer Seite in den Diskussionen um die Historizität der Gegenwartskunst betont, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte immer schon ihre Gegenwart mitthematisiere, und zwar auf eine Weise, dass diese sich sowohl in die Vergangenheit retrospektiv einschreibt als auch dass sie selbst zum Gegenstand des künstlerischen Fragens der Gegenwart wird. So hat die Kunsthistorikerin Eva Kernbauer auf unterschiedliche Chronopolitiken und Zeitregime hingewiesen, die die Auseinandersetzungen mit Geschichte in heterogener Weise prägen.13 In anderer Perspektive hat Juliane Rebentisch betont, dass die Gegenwart der Gegenwartskunst maßgeblich von je bestimmten Narrativen abhängig ist, die sie von der Vergangenheit erzählt und auf die sie sich rückwirkend bezieht. Die Bestimmung des Ortes der Gegenwart beruht auf Sichtweisen, mit denen wir uns selbst in ein Verhältnis zur historischen Vergangenheit setzen. „Um den historischen Ort der Gegenwart zu bestimmen, muss man die Gegenwart zur Vergangenheit in ein Verhältnis setzen, und zwar so, dass die Gegenwart durch dieses Verhältnis eine Richtung, die Richtung einer historischen Entwicklung erhält.“14 Vor diesem Hintergrund erhält freilich auch die künstlerische Praxis eine strukturell normative Dimension. Denn der Rückgriff auf Vergangenes impliziert dann zugleich, sich auf die Geschichte, und nicht zuletzt die Geschichte der Moderne, in einer Weise zu beziehen, dass sich die Gegenwartskunst in ihr selbst wiedererkennt – und im Sinn einer Fortschreibung der Moderne auch über sich hinaus in die Zukunft trägt.

Blickt man auf Osborne, dann geht seine Rede vom Zukunftsbezug der künstlerischen Historiografien indes einen entscheidenden Schritt weiter. Denn er bezieht die Projektion möglicher Zukünfte in sehr deutlicher Weise nicht nur auf einen Horizont von Moderne als unabgeschlossenem Fortschrittsprojekt innerhalb der Geschichte. Zudem schreibt Osborne einen genuin utopischen Bezugspunkt in die Geschichte ein. Diese gewinnt damit selbst einen implizit außerhistorischen Horizont. Das „ultimate object of history – the unity of the human“ erscheint als transzendentaler Bezugspunkt alles Geschichtlichen.15

Nun ist dies in verschiedener Hinsicht eine herausfordernde Idee, die ich weniger durch eine theoretische Kritik als vielmehr anhand einer gegenläufigen Lesart der künstlerischen Praxis in Frage stellen will. Nimmt man den radikal konstruktivistischen Charakter in der Formation von Geschichtsbildern ernst, dann wird die Rede von einem utopischen Horizont – einer Einheit des Subjekts oder der Geschichte – in hohem Maße problematisch. Zum einen erweist sich Geschichte nie, wie Osborne meint, als mögliche Abstraktion „beyond the scope of all actually existing social subjects“.16 Im Gegenteil, gerade die künstlerischen Historiografien betonen mit ihrem Verweis auf die subjektive Besonderheit und Historizität geschichtlicher Phänomene, dass diese grundlegend von den je spezifischen Perspektiven und Standorten konkreter sozialer Subjekte abhängt. Der Künstler Asier Mendizabal hat in einem seiner theoretischen Essays sehr anschaulich zwei Missverständnisse beschrieben, die sich mit problematischen Vorstellungen einer Idee von Geschichte jenseits solcher konstruktivistischen Fundierungen ergeben.17 Einerseits sei Geschichte nicht nach dem Bild eines Baumes zu verstehen, bei dem ein nach oben wachsender Stamm die teleologisch sich realisierende Geschichte und die verschiedenen Äste und Zweige die unverwirklichten, aber möglichen alternativen Geschichten der Vergangenheit darstellen. Diese Vorstellung legte nahe, man könne in der Geschichte und den Archiven einfach bis zu bestimmten Verzweigungen zurückreisen, um von hier aus andere Zukünfte, sogenannte „Ex-Futures“ zu verfolgen, wie Mendizabal im Anschluss an den Philosophen Miguel de Unamuno schreibt.18 Andererseits aber sei Geschichte auch nicht nach dem Bild von aneinander geschichteten Jahresringen aufzufassen. Diese Vorstellung wiederum suggeriere, man könne die verschiedenen Schichten der Geschichte quasi abschälen, bis man schließlich zu einer Art objektivem Kern, der eigentlichen Wahrheit der Geschichte gelange. Beide Vorstellungen, die teleologische und die objektivistische Idee, erweisen sich deshalb als falsch, weil sie von den konkreten Formationsprozessen absehen, welche die Konstruktion und Rekonstruktion von Geschichte aus dem konkreten Hier und Jetzt einer Gegenwart der Subjekte immer schon leiten.

Aber auch der Blick auf die künstlerischen Werke zeigt, dass hier keineswegs die abstrakte Idee einer Einheit von Geschichte oder einem zukünftigen Kollektiv der Menschheit beschworen wird, und zwar insbesondere dann nicht, wenn sich die Gegenwartskunst den geschichtlichen Utopien der Moderne rückblickend zuwendet. Es wäre irreführend, die künstlerischen Historiografien hier bereits auf einen positiven Horizont utopischen Sinns zu beziehen, wenn es vordergründig darum geht, den Zukunftsbezug dieser Werke zu verstehen. Die Arbeit von Tacita Dean lässt sich an dieser Stelle ebenso ins Feld führen wie die Werke von David Maljković. An ihnen lässt sich genauer erläutern, dass diese KünstlerInnen in ihren Arbeiten ein anti- beziehungsweise postutopisches Denken veranschlagen.

Blickt man auf Dean, dann wird zunächst deutlich, warum die britische Künstlerin als paradigmatisches Beispiel für eine vordergründig nostalgische Beschwörung des Vergangenen ins Feld geführt wird. So bezieht sich nicht zuletzt Foster selbst auf Deans bekannte Werkserie über das „Seifenblasenhaus“ (Bubble House, 1999), wenn er den archivalischen Impuls in der Gegenwartskunst auf ein genuin utopisches Potenzial hin befragt. Deans Arbeit thematisiert die gescheiterten Utopien der Moderne entlang eines ausgeprägten Interesses für die von ihnen evozierte Nostalgie, wobei im Fall von Bubble House die verfallene Bauruine eines futuristischen Gebäudes an der „Hurricanküste“ der Insel Cayman Brac im Zentrum ihres Interesses steht (Abb. 1). Die eher beiläufig komponierten Fotografien und Filme evozieren dabei eine Art verlorene Vergangenheit, wobei die Ruine selbst in einer zeitlichen Unbestimmtheit präsentiert wird, die sie aus ihrer historischen Verankerung zu lösen und gleichsam zu einem Vehikel der Projektion anderer zukünftiger Zeiten zu machen scheint.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass die Lesart, hier gehe es um die nostalgische Beschwörung und Restituierung einer utopischen Vergangenheit, etwa im Sinn jener Ex-Futures, von denen Mendizabal sprach, in bestimmter Weise trügt. Dies wird deutlich, sofern Dean das Gebäude in einen erweiterten erzählerischen Kontext einbettet, in dessen Betrachtung es neue Perspektivierungen erfährt.19 So erzählt Dean die unwahrscheinliche und abenteuerliche Geschichte des englischen Seglers Donald Crowhurst, dessen betrügerische Absichten die Künstlerin zum Anlass nimmt, um eine Erzählung aufzuspannen, in der Fiktionen und historisch verbürgte Fakten auf verwickelte Weise ineinander übergehen.20 Der nostalgische Blick streift das Bubble House dabei nur peripher und immer schon im Kontext der erzählerischen Fiktion. Die Ruine bildet den Anlass für ein überraschtes Innehalten wie auch ein neugieriges Betrachten, das, so legt die Künstlerin es nahe, auf einem „seitwärts“ gelenkten Blick basiert.21 Dieser richtet sich auf ein Unbestimmtes in der Zeit, nicht auf den in seiner historischen Bestimmtheit verbürgten Gegenstand.

Damit korrespondiert, was Svetlana Boym in ihrer einflussreichen Arbeit über den nostalgischen Blick geltend gemacht hat: Folgt man Boym, dann ist die Nostalgie nämlich keineswegs immer schon auf einen je bestimmten Gegenstand in der historischen Vergangenheit zurückgewendet. Eher stelle das Nostalgische einen Versuch dar, aus dem Verlauf der kontinuierlich sich vollziehenden Zeit auszusteigen, mitsamt ihren linearen Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung, und zwar zugunsten einer „seitwärts“ gewandten Bewegung, die nicht-lineare Bezugnahmen auf zeitliche Verläufe evoziert.22

Andererseits geht es aber nie um einen Ausstieg aus der historischen Zeit überhaupt. So macht nicht zuletzt Deans Arbeit in besonderem Maße deutlich, dass die gebaute Utopie keineswegs auf ein außerhistorisches Jenseits der Geschichte bezogen werden sollte. Sofern die Utopie bei Dean als Ruine lesbar wird – als eine im Bau befindliche Konstruktion, die bereits während ihres Aufbaus verfällt – rückt vielmehr die spezifisch innergeschichtliche Historizität der gebauten Utopien in den Blick. Wie der Philosoph Boris Groys einmal betont hat, liegt gerade darin eine strukturell kritische Pointe gegen das utopische Denken überhaupt. Denn das historische Scheitern der utopischen Modelle ist wesentlich darin begründet, dass diese der Geschichte immer auf die eine oder andere Weise zu entkommen versuchten – als Figur der Vollendung und als Schritt über die Geschichte hinaus, um jenen Zustand von Versöhnung zu antizipieren, der für alle Utopien charakteristisch ist und der nur außerhistorisch gedacht werden kann.23 Gerade bei Dean, wo die Utopie als ruinös gewordene Form präsentiert wird, zeigt sich indes, dass dieser Anspruch notwendig scheitern musste: Die Utopie entkommt der Geschichte nie – und kann ihr niemals entkommen.

Folgt man dieser Lesart, dann erweist sich das Bubble House viel weniger ambivalent als vermutet. In der Beschwörung der Utopie liegt bei genauerer Betrachtung ein utopiekritischer Sinn. Wie Foster zurecht bemerkt, funktionieren Deans Arbeiten zwar wie „Brücken“ oder „Portale“ zwischen einer uneindeutig gewordenen Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft.24 Gleichzeitig wäre es aber verkürzt, hierin selbst schon einen genuin utopischen Sinn zu sehen. Die Einschreibung von Momenten der Unbestimmtheit in die zeitlichen Formen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nicht selbst ein utopisches Motiv im positiven Sinn. Es impliziert – als Offenhalten zeitlicher Horizonte – eine Kritik an utopischen Vorstellungen einer Zukunft mit vollendetem Sinn.

Abb. 2: David Maljković, Scene for New Heritage III, 2006, Farbvideo mit Ton, 11:30 Min., Videostill.
Quelle: Sammlungsdatenbank, Museum of Modern Art, New York, URL: https://www.moma.org/collection/works/114305 [19.12.2018].

Blickt man auf die Werke von David Maljković, dann zeigt sich eine Weiterführung jener eigentümlichen Form von Unbestimmtheit, die sich bei Dean als utopiekritisch lesen lässt. Maljković geht es etwa in seiner bekannten Serie Scene for New Heritage I – III (2004-06) um das berühmte, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus verfallene Partisanendenkmal des Bildhauers Vojin Bakić in den Bergen von Petrova Gora in Kroatien (Abb. 2). Vordergründig wird eine aktualisierende Befragung der Utopie in Form des futuristischen Denkmals durchgeführt, wobei dieses aus heutiger Sicht ebenso faszinierend wie aus der Zeit gefallen scheint. Maljković selbst betont, dass ihm daran gelegen war, das Monument für die Gegenwart zu aktivieren und ein Potenzial produktiv zu machen, welches über die Vergangenheit hinaus auch in eine offene Zukunft zu weisen vermag. Interessant ist aber, dass Maljković seine Erfahrung so beschreibt, dass das Petrova Gora-Denkmal zunächst einmal alle positiven sinnstiftenden Funktionen eingebüßt hatte, die es in der Vergangenheit einmal besaß.25 Es eignet sich weder, um einfach mit einer verlorenen Vergangenheit in Kontakt zu treten noch um eine Verbindung zu jener Zukunft herzustellen, die es selbst einmal zu antizipieren versuchte – aus dem einfachen Grund, weil der Sozialismus, auf den es sich bezieht, mitsamt seiner Zukunftsideen selbst in der historischen Vergangenheit verschollen ist.

Nun liegt eine entscheidende Pointe von Maljkovićs Arbeit darin, dass Scene for New Heritage I – III gar nicht erst versucht, den Faden kommunikativer Bezugnahmen auf das historisch Vergangene neu zu stricken. Dagegen zeigt sich, dass die historische Amnesie, die nach dem Zerfall des Ostblocks um das Denkmal herum entstanden ist, in einer Weise produktiv gemacht wird, die die Befreiung des Monuments „von allen historischen und politischen Konnotationen“ durch den Künstler sogar noch verstärkt.26 Maljković verwendet verschiedene Requisiten, etwa in Silberfolie verpackte Autos und Statisten, um das Bauwerk in Szene zu setzen und die Unlesbarkeit der zeitlichen Bezüge sowie historischen Referenzen noch zu verstärken (Abb. 3). Dabei entsteht der Eindruck eines radikal „leeren Ortes“ sowie einer „leeren Zeit“27, wobei sich die Vorstellung des leeren Ortes in der Werkserie des Künstlers insgesamt zu einer Chiffre der Utopiekritik verdichtet.

Abb. 3: David Maljković, Scene for New Heritage III, 2006, Fotografie (Collage).
Quelle: Yilmaz Dziewior (Hg.), David Maljković. Almost Here (Kat.), Hamburg/Köln 2007, S. 153.

Zwar könnte man einwenden, dass gerade in der Außerkraftsetzung konkreter geschichtlicher Konnotationen doch ein Bezug zu einer Art utopischem Geist aufscheint, in dem Maße etwa, wie auch utopische Projektionen sich immer geschichtstranzendent artikulieren. Man kann Maljkovićs Arbeit aber buchstäblich gegenteilig lesen, und zwar dann, wenn man die Insistenz auf dem „leeren Ort“ und der „leeren Zeit“ als Kritik utopischer Ansprüche auf die Idee einer positiven Sinnfülle ernst nimmt. Was hier aufscheint, ist erneut kein Horizont kollektiver Versöhnung, sondern eine radikale Negativität, die die Transgression des Faktischen im Namen einer potenziellen Andersartigkeit impliziert. Darin liegt ein Bezug auf Zukunft – im Sinn einer Offenheit von Geschichte überhaupt –, aber kein Verweis auf utopische Formen einer zukünftigen versöhnten Intersubjektivität. Anders als die möglichen Zukünfte, die Osborne und Foster in die Geschichtsbezüge der Gegenwartskunst hineinlegen, ist der „leere Ort“ bei Maljković nicht selbst schon utopisch, im Sinn einer Art Statthalter eines zukünftigen Kollektivs. Er sperrt sich diesen Vereinnahmungen durch die Zurückweisung jedes positiven Sinns.

Versteht man die künstlerischen Historiografien exemplarisch anhand dieser Beispiele, dann bekommen sie einen genuin postutopischen Sinn. Die „anderen Orte“ und die „anderen Zeiten“, die die Moderne im Archiv evoziert, sollten weder als Orte eines neuen utopischen Geistes verstanden werden noch als Antizipationen einer Zukunft, die sich den versöhnten Formen einer Menschheit als ganzer öffnet. Die Orte, die sie aufsuchen, sind tatsächlich Nicht-Orte, jedoch im Sinn ihrer postutopischen Interpretation. Sofern die Gegenwartskunst dabei auf Formen und Modelle der utopischen Moderne Bezug nimmt und diese zugleich in einer radikalen Unbestimmtheit und Negativität präsentiert, sollten auch die historiografischen Ansätze von Dean und Maljković nicht als Aktualisierung der utopischen Projekte der Moderne, die schlechthinnige Versöhnung in eine Zukunft der Menschheit projizierten, verstanden werden – sondern als eine Kritik und Zurückweisung ihrer Ansprüche im Namen einer postutopischen Kunst.


1 Hal Foster, An Archival Impulse, in: October, Heft 110, Herbst 2004, S. 3 – 22, S. 22.

2 Einschlägig für die breite Diskussion steht der von Eva Kernbauer herausgegebene Band zur Kunstgeschichtlichkeit der Gegenwartskunst. Vgl. Eva Kernbauer (Hg.), Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Paderborn 2015. Die Rede vom „historiographic turn“ geht dabei auf Dieter Roelstraete zurück. Vgl. Dieter Roelstraete, The Way of the Shovel. On the Archeological Imaginary in Art, in: e-flux journal, Nr. 4, März 2009. URL: http://www.e-flux.com/journal/04/68582/the-way-of-the-shovel-on-the-archeological-imaginary-in-art/ [15.11.2018]. Zudem ist in den vergangenen Jahren häufig das Bild vom „Künstler als Historiker“ gezeichnet worden. Vgl. Mark Godfrey, The Artist as Historian, in: October, Heft 120, Frühjahr 2007, S. 140 – 172.

3 Sabine Breitwieser, Modernologies – Or What Makes Contemporary Artists Investigate Modernity and Modernism, in: Sabine Breitwieser (Hg.), Modernologies. Contemporary Artists Researching Modernity and Modernism, Barcelona 2009, S. 11 – 23, S. 11.

4 Adorno spricht häufig davon, dass die Utopie, gleichwohl sie als zentraler Gegenstand der Kunst erscheint, schwarz verhangen bleiben muss. Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 204.

5 Foster 2004, S. 22.

6 Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York 2013, S. 194.

7 Osborne 2013, S. 194.

8 Osborne 2013, S. 193.

9 Osborne 2013, S. 194.

10 Osborne 2013, S. 194.

11 Osborne 2013, S. 193.

12 Osborne 2013, S. 194.

13 Kernbauer 2015, S. 9.

14 Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst. Zur Einführung, Hamburg 2013, S. 13.

15 Osborne 2013, S. 194. Es ist kein Zufall, dass das Utopische hier in der Figur einer Einheit der Geschichte und des Subjekts wiederkehrt. Am deutlichsten wurde diese Art von Versöhnungsutopie von der frühen Kritischen Theorie im 20. Jahrhundert aufgenommen. Hier war es Theodor W. Adorno, der sie als geschichtsphilosophisches Narrativ der modernen Kunst zugeschlagen hat. Die Ästhetische Theorie Adornos ist voll von Bezügen, die den wenngleich dialektisch gebrochenen Versöhnungsauftrag der modernen Kunst und das Kunstwerk selbst als Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts erläutern. Vgl. bes. Theodor W. Adorno, Der Artist als Statthalter, in: Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften Bd. 11, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, S. 114 – 126.

16 Osborne 2013, S. 194.

17 Vgl. Asier Mendizabal, Peeling a trunk, Zegama – Otsaurte 2016.

18 Mendizabal 2016, S. 18.

19 Dean präsentiert in ihren Ausstellungen und Katalogen unter anderem Textstücke und Notizen, die den erzählerischen und fiktionalen Kontext bilden, in dem ihre Fotografien und Filme dann weitere Perspektivierungen erfahren. Vgl. den Texteintrag von Dean über das „Seifenblasenhaus“ in: Museum für Gegenwartskunst Basel (Hg.), Tacita Dean. Selected Works – Ausgewählte Werke 1994–2000 (Kat.), Basel 2000, S. 36f.

20 Donald Crowhurst (1932-1969) war ein englischer Geschäftsmann und Amateursegler, der 1968 am Sunday Times Golden Globe Race teilnahm, einer Nonstop-Weltumsegelung, von der er nie zurückkehrte. Es wird gemutmaßt, dass Crowhurst im Nordatlantik verschollen ging, sein Boot, die Teignmouth Electron, wurde verwaist aufgefunden und das Wrack über Überwege nach Cayman Brac transportiert. Vgl. „The Story of Donald Crowhurst,“ in: Museum für Gegenwartskunst Basel 2000, S. 22ff.

21 In Analogie dazu spricht Dean von ihren Textstücken auch als „asides“, d.h. als etwas „beiseite Gesprochenem“. Vgl. Theodora Vischer, Nachwort, in: Museum für Gegenwartskunst Basel 2000, S. 87.

22 Vgl. Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001, S. xiv.

23 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien 1992, S. 10. Groys’ Kritik am transhistorischen Denken der Utopie findet sich auch an verschiedenen Stellen seines polemischen Essays über die russischen Avantgarden und die Kultur des Stalinismus. Vgl. Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München 1988.

24 „In a sense all these archival objects […] serve as found arks of lost moments in which the here-and-now of the work functions as a possible portal between an unfinished past and a reopened future.“ Foster 2004, S. 15.

25 David Maljković, Scene for New Heritage 3, in: Yilmaz Dziewior (Hg.), David Maljković. Almost Here (Kat.), Köln 2007, S. 128–153, S. 133.

26 Nataša Ilić, Der Leere Raum der Zukunft. Nataša Ilić im Gespräch mit David Maljković, in: Yilmaz Dziewior (Hg.), David Maljković. Almost Here (Kat.), Köln 2007, S. 171 – 189, S. 178.

27 Ilić 2007, S. 178.

Sebastian Mühl lebt als Kunstwissenschaftler und Künstler in Berlin und Frankfurt am Main. Sein Interesse gilt den politischen Dimensionen künstlerischer Praxis und den politisch-ästhetischen Implikationen zeitgenössischer Modernerezeption. Von 2013 bis 2017 arbeitete er an einer Dissertation zum Utopiebezug in der Gegenwartskunst. Gegenwärtig bereitet er ein Postdoc-Forschungsprojekt zur Postkinematografie und narrativen Verfahren in der Gegenwartskunst vor.
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