Begegnung mit einem Phantom

Nachwort zu Was hätte Virginia Woolf dazu gesagt?

Was hätte Virginia Woolf zur heutigen Situation der Frauen im sogenannten Westen gesagt? Und was zur feministischen Theorieproduktion, die unter anderem aus A Room on One’s Own1 Inspiration bezog? Die Philosophin und Künstlerin Meike Gleim gibt ihren Spekulationen einen diskursiven Rahmen, indem sie eine schier unmögliche Begegnung sprachlich Wirklichkeit werden lässt. Zumindest in den Köpfen der Lesenden findet das Gespräch zwischen ihr und der Schriftstellerin Virginia Woolf2 ‚wirklich‘ statt: Als Gesprächsprotokoll angelegt, das aus Gleims Perspektive erzählerisch präsentiert und kommentiert wird, lädt sie ein, die Entwicklungsgeschichte der Frauenbewegung in Gedanken ‚Revue passieren zu lassen‘ und deren Status quo unter dem Eindruck eines ‚kognitiven Kapitalismus‘3 zu denken. Das als ungeplant inszeniertes Aufeinander- und Zusammentreffen der beiden Frauen – ihr Altersunterschied beträgt 90 Jahre – ist Rede und Gegenrede, ein Frage-Antwort-Spiel und Streitgespräch gleichermaßen. Es geht von imaginierten Körpern und ausgewählten Ideen aus, lässt Austausch und einen Möglichkeitsraum entstehen. Die beiden Frauen haben einander fest im Blick, so ein Leseeindruck; ein Gespräch zwischen den Zeilen: entre-vue. Denn was Meike Gleim interessiert, ist der Blick auf das Dazwischen und das, was fraglich und ambivalent bleibt. Oder um den Authentizitätseffekt von direkten Zitaten zu bemühen: „Es geht mir um das, was zwischenmenschlich passiert, was uns durch die Finger gleitet“4, so Gleim. Dass sie sich für Formen des Gesprächs und im Zuge dessen nicht zuletzt auch für Interviews interessiert, um mithilfe der materiellen und sprachlichen Bedingungen und Konventionen, die diese vorgeben, feministische Belange zu verhandeln, ist – mit einem Blick auf ihre künstlerische und wissenschaftliche Arbeit seit den 1990er Jahren – weder ein Novum noch zufällig: Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter5 ist insbesondere während ihrer ‚Anfangsjahre‘ im Kunstbetrieb unentbehrlicher theoretischer Referenzpunkt für Gleim.6 Mit der Herausgabe einer adaptierten Version des von José Pierre herausgegebenen Bandes Recherchen im Reich der Sinne. Die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sexualität7 schließt Gleim ihr Kunststudium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien ab.8 Das Besondere daran: Unter aktiver Einbringung befreundeter Künstlerinnen9 verlegt Gleim darin die ursprünglich zwischen 1928 und 1932 geführten Salongespräche kurzerhand in die 1990er Jahre und schreibt diese im Hinblick auf eine feministische Perspektive hin um beziehungsweise neu. Eine Gruppe an Frauen ermächtigt sich der Parolen der Grands Monsieurs und ersetzt diese durch ihre eigenen Lesarten von Geschlecht, Sexualität und Kunst. In der Videoarbeit Nachgefragt ohne Pardon wiederum versagt eine Künstlerin darin, sich in einem fiktiven TV-Interview karrierefördernd darzubieten: Allein ihr ungleich erfolgreicherer Ex-Mann, wohlgemerkt ebenso Künstler, ist für die Kulturjournalistin von Interesse, was das Bemühen, die eigene künstlerische Arbeit abseits von biografisch motivierter Interpretation in den Vordergrund zu rücken, rasch zu einem Sisyphus-Unterfangen werden lässt.10

Alle diese Begegnungen, die sich in diesen Arbeiten nicht nur auf Papier oder als binärer Code beziehungsweise Bewegtbild, sondern durch den Akt der Rezeption auch in den Köpfen der Lesenden und Sehenden abspielen, reklamieren den Akt des Aufeinandertreffens von Körpern, Stimmen, Aussagen als Angelpunkt der künstlerischen Arbeit. Qua Gesprächs- und Interviewformat schafft Gleim Situationen, in denen sich Entwicklung und im weitesten Sinne Handlung durch Dialog oder auch Missverstehen, jedenfalls aber durch mündlich oder schriftlich angelegte Sprechakte vollziehen. Daraus resultierend wird die Aufmerksamkeit auf die, dem Wortsinn nach, zwischenmenschlichen Dynamiken zwischen den Beteiligten und ihr Verhältnis zueinander gelegt. Es sind die Zwischenräume des Gesagten, die Gleim hier genauso wie die Frage nach den Bedingungen, nach dem bedeutungsgebenden Rahmen von Sprechen und Gesprochenem auslotet.

Die sogenannte Eigendynamik des Gesprächs zwischen Meike Gleim und Virginia Woolf ist freilich durchkomponiert, hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Schon allein die Auswahl der Figuren (die mitnichten zur selben Zeit leben oder gelebt haben könnten) exponiert die Fiktionalität von Beginn an – mit der Konsequenz, dass jeglichem Anschein von Echt- und Glaubwürdigkeit flugs der Boden entzogen wird.11 Ein Gespräch nachzulesen bedeutet durch den zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und Dokumentation und die Überführung ins Medium der Schrift, die mit dieser zusammenhängt, eine Geste der Distanznahme und damit einen kräftigen Schritt weg von Unvermitteltheit, oder besser: die Suggestion von nicht einholbarer Unvermitteltheit.

Doch um welche Rollen handelt es sich hier? Die beiden Figuren kreisen um Gegensätze wie Wissen und Nichtwissen, was sich klar abzeichnet, wenn Gleim ihre Macht mithilfe von Theoriereferenzen demonstriert oder Woolf etwa besonders erstaunt reagiert: Der Druck der ungelesenen Bücher bringt Woolf beinahe zum Verstummen. Wer Butler und Simone de Beauvoir nicht gelesen hat, kann nicht mitreden und das nicht nur in der Academia. Lektüre als Ausschlusskriterium gilt auch hier im Schreibzimmer: eine Konvention, die die (nicht minder politische) Privatheit einer persönlichen Begegnung durchdringt und den Vollzug von Kontaktaufnahme entscheidend mitbestimmt. Die Konstitution der/s Anderen mitsamt der darin inbegriffenen Implikationen von Macht – Geschlecht, Status, Alter – wird hier nachvollzieh- und analysierbar gemacht: Auf der einen Seite ist da Virginia Woolf, Idol der Frauenbewegung, durch ihre Wiedergeburt als Phantom in die Situation gebracht, nicht mehr ‚mitreden’ zu können, und auf der anderen Seite Meike Gleim, die ihre Thesen durch Woolfs Konterpart formulieren und infolge auch aussprechen, zu einer Art Bekenntnis werden lassen kann. Im Austausch miteinander, im Akt des Einübens erhalten Rollen und ihre asymmetrische Beziehung zueinander überhaupt erst ihre Gestalt und evozieren nicht zuletzt aufgrund des Kontextes, in den sie eingebettet sind – der Gesprächssituation nämlich – jenen Unmittelbarkeitseffekt, der auch für Interviews im engeren Sinne bezeichnend ist. En gros ist es doch Gleim, die den Ton angibt und ihre Thesen nicht zuletzt deshalb ausführen und entwickeln kann, da sie mit Virginia Woolf eine geduldige Zuhörerin entworfen hat. Die ihr zugeordnete Rolle des Phantoms ist nicht zuletzt auch eine, aus der sie per se nicht für sich selbst sprechen kann. Nun: Was hätte Virginia Woolf dazu gesagt? Am Ende des Tages wissen wir es nicht. So wie die historische Virginia Woolf in diesem Zwiegespräch eine abwesende bleibt, wird auch in den restlichen genannten Arbeiten Gleims auf Abwesende verwiesen: In der Wiederaufnahme der Surrealisten-Gespräche oder in Nachgefragt ohne Pardon sind es die Männer, die – unwiederbringlich Teil des Systems – dieses auch als Abwesende noch bestimmen und konfigurieren.

Der Umstand, dass Gleim die direkten Reden durch ihre erzählerische Perspektive rahmt und Woolf sozusagen ‚beim Wort nimmt‘, weist Woolfs Handlungsspielraum klar in die Schranken. Und ebenso unmissverständlich wird uns dies in diesem Gespräch, das nie stattgefunden haben kann, aber sich doch ereignet (hat), vorgeführt – eingedenk der Überzeugung, dass auch das, was sich zwischen den Zeilen eines Gespräches abspielt, nie ganz ausbuchstabiert und erklärt werden kann: „Die Gespräche haben eine Eigendynamik, die parallel zu den inhaltlichen Themen der Gespräche eine weitere Ebene einschieben. Eine Ebene, die sich trotz vorsätzlichem Bemühen nicht zur Gänze analytisch fassen lässt.“12 Umso eindringlicher erschließt sich anhand dieses Gesprächsauszugs aber, inwiefern die Form des Gesprächs und seine Inhalte – hier ein Einblick in die historische Entwicklung der Frauenbewegung – einander wechselseitig bedingen und hervorbringen. Gleim stellt zur Diskussion ob das Wie der Präsentation von Inhalten entscheidend ist. Die in Gesprächen und Interviews wirkenden Herrschaftsverhältnisse sind, so ließe sich schließen, diesem Wie bereits eingeschrieben.


1 Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Stuttgart 2012.

2 1882 geboren in Kensington, 1941 gestorben in Lewes.

3 Unter der Bezeichnung ‚kognitiver Kapitalismus‘ werden international gegenwärtige Produktionsweisen diskutiert, die Kreativität, Erfindungskraft und Wissen als zentrale Ressourcen ansehen. Vgl. hierzu Isabel Lorey/Klaus Neundlinger (Hg.), Kognitiver Kapitalismus, Wien 2012.

4 Aus einem Gespräch der Autorin mit Meike Gleim am 13.02.2018.

5 Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York u. a. 1990; Dt. Ausgabe: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt am Main 1991.

6 Vgl. Meike Schmidt-Gleim, Subversion in Ketten: zum Verhältnis von Hegemonie und Widerstand in “Das Unbehagen der Geschlechter” von Judith Butler. Wien 1998.

7 José Pierre (Hg.), Recherchen im Reich der Sinne. Die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sexualität, 1928-32. Aus dem Französischen von Martina Dervis, München 1993.

8 Recherchen im Reich der Surrealisten wurde gemeinsam mit Arbeiten von Maria Hahnenkamp und Dagmar Trampisch im Rahmen der Gruppenausstellung „I will always, die“, kuratiert von Hemma Schmutz, präsentiert und als Teil der Ausstellungsreihe Experiment 5 (05.07.–26.08.2001) in der Wiener Secession gezeigt, http://www.secession.at/art/2001_experiment5_e.html [09.11.2015].

9 Anna Artaker, Agnes Barley, Heidrun Holzfeind, Ruth Kaaserer, Lilli Kern, Ulrike Müller, Eva Nowotny, Wally Salner, Anne Schneider, Jutta Strohmaier, Carola Platzek, Sigrid Pohl.

10 Ein Auszug dieses gefilmten Interviews erschien 1995 in schriftlicher Form in einer Sonderausgabe der Wiener Kunstzeitschrift „Vor der Information“, welche jene Ausstellung im Salzburger Kunstverein begleitete, in der Gleim 1995 die Videoinstallation „Nachgefragt ohne Pardon“ zum ersten Mal präsentierte. Bewusst wird in „Vor der Information“ eine Art Illustrierten-Ästhetik suggeriert, ein Künstler-als-Celebrity-Interview, das aus der optischen Aufmachung der restlichen Seiten der Zeitschrift klar herausfällt. „Vor der Information. Zeitschrift für Kunst, Film, Theorie und Politik“ existierte mit Erscheinungsort Wien zwischen 1994 und 2000 und wurde als künstlerisches Medienprojekt von Jo Schmeiser in Zusammenarbeit mit Gabriele Marth, Antke Engel, Johanna Schaffer, Chaz Pigott, Octavian Trauttmansdorff, Jane Heiss, Richard Ferkl und Simone Bader herausgegeben. An der dazugehörigen Ausstellung „Kunstbetrieb. What am I doing here?”, kuratiert von Silvia Eiblmayr, nahmen neben Gleim folgende KünstlerInnen teil: Uli Aigner, Artfan, Bernhard Cella, Robert Jelinek, Kai Kuss, Karl Leitgeb, Dorit Margreiter, Gerhard Paul, Octavian Trauttmannsdorf sowie die Gruppe „Vor der Information“.

11 „(D)as sogenannte Authentische, das Unmittelbare von Interviews und Gesprächen in Frage (zu) stellen“ ist ebenso Gleims Bemühen wie „die Annahme, der befragten Person im Gespräch wirklich nahe zu kommen und nicht nur ein Bild oder eine Rolle von ihr“ mit einem Fragezeichen zu versehen. Gespräch der Autorin mit Meike Gleim am 13.02.2018.

12 Gespräch der Autorin mit Meike Gleim am 13.02.2018.

Antonia Rahofer lebt und arbeitet in Wien und Athen als Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaftlerin sowie universitäre Lehrbeauftragte. Sie promoviert zur Frage des  'Interviews als künstlerische Praxis' an der Kunstuniversität Linz – nicht zuletzt über Meike Gleims Videoarbeit „Nachgefragt ohne Pardon“.
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