Bruce Nauman: Disappearing Acts im Schaulager Basel

Die Videoarbeit Mr. Rogers (2013) empfängt die BesucherInnen schon vor dem Eingang der Retrospektive Bruce Nauman: Disappearing Acts an der Fassade des Schaulagers. Aus der Sicht des 1941 geborenen Künstlers gedreht, zeigt das Video in Nahaufnahme wie Nauman in jeder Hand einen gespitzten Bleistift hält und versucht, einen dritten an beiden Enden angespitzten Bleistift in einer horizontalen Linie zu balancieren. Naumans Finger sind bei diesem Versuch nur kurz sichtbar. Diese Aufgabe wird durch die im Hintergrund langsam vorbeilaufende Katze des Künstlers, deren Name dieser Arbeit den Titel verleiht, irritiert – ihre Gelassenheit steht dem konzentrierten Vorhaben des Künstlers entgegen. Mr. Rogers ist ein gelungener Prolog zur Ausstellung und zeigt schon im Außenraum Themenbereiche des Künstlers, die sich in weiteren Werken der Ausstellung fortsetzen – wie beispielsweise in den performativen Handlungen, die Nauman schon Mitte der 1960er Jahre in seinem Atelier filmisch festhielt. Die Überblicksschau mit ungefähr 170 Werken wurde in Kooperation mit dem Museum of Modern Art, New York, organisiert und setzt sich das Ziel, einen retrospektiven Querschnitt Naumans künstlerischen Schaffens der letzten fünfzig Jahre zu geben. Die Ausstellung folgt dabei zumeist einer chronologischen Anordnung und zeigt in den ersten Ausstellungsräumen Zeichnungen, Skulpturen und Filme, die sich thematisch mit Naumans damaliger Fragestellung, was einen Künstler ausmacht, auseinandersetzen. Darauf fand Nauman eine in den 1960er Jahren noch ungewöhnliche Antwort, da er Kunst als umfassende Tätigkeit (des Künstlers) sieht, der kritisch unterschiedliche Haltungen zur Welt erprobt. Er begann in dieser Zeit, seinen Körper als Material in die Kunst einzuführen: Er filmte sich unter anderem bei selbst auferlegten performativen Handlungen in seinem Atelier, untersuchte das Verhältnis von Körper und Raum, wie etwa im Film Wall-Floor Positions (1968), und übertrug Abdrücke seiner Körperpartien in skulpturale Objekte aus Fiberglas oder Wachs. Damit führte er bis anhin eher selten verwendete Materialien in die Kunst ein, die seinen Werken zum Teil Modellcharakter verleihen, da die Materialien nicht bis zur Perfektion bearbeitet sind und Spuren der künstlerischen Arbeit sichtbar bleiben. Für Nauman steht die ästhetische Wirkung nicht im Vordergrund, sondern vielmehr die Veranschaulichung der Idee und der inhaltliche Kontext. Dieses Kunstverständnis Naumans Mitte der 1960er Jahre steht wiederum konträr zur Kunstentwicklung an der Ostküste Amerikas, wo die Minimal Art durch die Verwendung industriell gefertigter Materialien die klassischen Konventionen der Kunstproduktion zur Debatte stellte. Spuren der Künstlerpersönlichkeit traten dabei zugunsten der Präzision der Form in den Hintergrund. Konträr zu dieser Herangehensweise und ihrer Reduzierung auf geometrische Grundformen beschäftigt sich Nauman beispielsweise mit dem wiederkehrenden Motiv des Brunnens als Sinnbild des geniereichen Künstlerdaseins mit seiner nicht versiegenden Schöpferkraft. Die Skulptur Venice Fountain (2007) parodiert diese Vorstellung mit seinen in Wachs und Gips gegossenen wasserspeienden Konterfeis, aus deren Mündern Wasserschläuche in Bassins geleitet werden. Bereits vierzig Jahre zuvor beschäftigte Nauman dieses Thema in der Zeichnung Myself as a Marble Fountain (1967) und in der Fotoserie Eleven Color Photographs (1966-67), die auch in der Ausstellung zu sehen sind. Weitere früh entstandene Arbeiten sind unter anderem die Ölmalerei Untitled (1964-1965), deren schmale und am oberen Ende leicht gebogene Leinwandform die bald darauf entstehenden Fiberglasskulpturen bereits vorwegzunehmen scheint. Eine Zeichnung wie Sheet Lead (1966) fasziniert durch ihre Wiedergabe von realer Stofflichkeit und lässt die Idee der potentiellen Skulptur erahnen.

Abb. 1: Bruce Nauman, Myself as a Marble Fountain, 1967, Feder mit Tusche, laviert, auf Papier, 48.3 × 60.8 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel

Zwischen diesen Arbeiten der frühen Phase wird ein Film gezeigt, dessen Inhalt auf ein Werk verweist, das als besonderer Angelpunkt in Naumans Schaffen gesehen werden kann. Durch  seine eher unscheinbare Platzierung in der Ausstellung ist der für einen kalifornischen Fernsehsender produzierte Film Untitled (Flour Arrangements) aus 1967 aber beinahe zu übersehen. In dem Film wird der Entstehungsprozess der ein Jahr zuvor entstandenen Arbeit Flour Arrangements nachgestellt. Diese Arbeit besteht aus sieben Farbfotografien, die die Ergebnisse einer monatelangen Aufgabe im Atelier und somit einen künstlerischen Prozess abbilden, sich aber leider nicht in der Ausstellung befinden. Nauman hatte eine große Menge Mehl auf seinem Atelierboden verteilt, die er im Laufe eines jeden Tages unter Körpereinsatz neu formierte und deren Anordnungen er fotografisch festhielt, bevor sie durch sein Eingreifen wieder in neue ephemere Arrangements übergingen. Flour Arrangements ist eine der ersten „process sculptures“1, wie Benjamin Buchloh betont. Gegen Ende des Films drückt Nauman seinen Zeigefinger in verschiedenen Haltungen ins Mehl, was auf die im Jahr zuvor entstandene Fiberglasarbeit Wax Impressions of the Knees of Five Famous Artists (1966) verweist. Diese wird in der Ausstellung erst zwei Räume weiter gezeigt, wodurch die werkinterne Verbindung dieses Filmzitats schwierig auszumachen ist.

Abb. 2: Bruce Nauman, Wax Impressions of the Knees of Five Famous Artists, 1966, Fiberglas und Polyesterharz, 39.7 × 216.5 × 7 cm, San Francisco Museum of Modern Art.

Die Ausstellung zeigt auch Gegenüberstellungen von Werken, wie beispielsweise die spiralförmige Neon-Arbeit The True Artist helps the world by revealing mystic truths (Window or Wall Sign) aus 1967, mit ihrem an Wittgenstein angelehnten Verweis auf das Mystische im Sinne des Unsagbaren. Die Arbeit wird in direktem Dialog mit dem schmerzhaft anzusehenden Film Poke in the Eye / Nose / Ear (1994) gezeigt. Ein Dialog, der im ersten Moment durch die Intensität der beiden Arbeiten irritiert: Die Neonröhren reizen aufgrund des hellen Lichts unsere Sinne und fordern die BetrachterIn auf, sich körperlich einzulassen, denn um den Satz richtig lesen zu können, müssen wir unseren Kopf leicht neigen. So versuchen wir der Bedeutung näher zu kommen und werden mit einer Ungewissheit über den Inhalt zurückgelassen. Poke in the Eye / Nose / Ear zeigt den Künstler im Loop bei der ungewöhnlichen Handlung wie er seinen Zeigefinger bis zum Schmerzempfinden in Auge, Nase und Ohr drückt. Das Geschehen wird zudem durch das Abspielen in Zeitlupe in ein abstraktes Moment transferiert, das unsere Aufmerksamkeit weckt und die schmerzvolle Handlung nachempfinden lässt. Auf den zweiten Blick provoziert die Gegenüberstellung der beiden Arbeiten einen Querbezug: Poke in the Eye / Nose / Ear scheint die mit einem Zwinkern versehene Illustration der Aussage des spiralförmig geschriebenen Satzes zu sein, die in ihrer absurd wörtlichen Umsetzung ein irritiertes Schmunzeln hervorbringt.

Abb. 3: Ausstellungsansicht mit Bruce Nauman, The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths (Window or Wall Sign), 1967, Neonröhren auf Klarglasröhren-Aufhängerahmen, Sammlung des Künstlers, Ausstellungskopie

Räume, die einem einzigem Kunstwerk gewidmet sind – etwa Art Make-Up: No. 1 White, No. 2 Red, No. 3 Green, No. 4 Black (1967–1968) oder Mapping the Studio II with color shift, flip, flop, & flip / flop (Fat Chance John Cage) (2001) –  bieten eine willkommene Konzentration, die ein ungestörtes Eintauchen und eine verdichtete Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk ermöglichen.

Ausgehend von den performativen Handlungen, die Nauman früh in seinem Atelier ausführte, entwickelt er Anfang der 1970er Jahre bedrückende begehbare Raumsituationen und Korridore, die es den partizipierenden BetrachterInnen erlauben, ähnliche Erlebnisse nachzuempfinden. Auch im Schaulager sind zwei dieser Erfahrungsräume begehbar. Mit Corridor Installation (Nick Wilder Installation) (1970) wird eine Nachbildung jenes Korridors, den Nauman selbst in seinem zwei Jahre zuvor entstandenen Film Walk with Contrapposto (1968) im rhythmischen Wechsel von Stand- und Spielbein durchschritt, ausgestellt. Ein weiterer Erfahrungsraum ist Double Steel Cage Piece (1974), der aus zwei ineinander gestellten Stahlkäfigen besteht, wobei nur der äußere, leicht größere Kubus zugänglich ist. Die BesucherInnen sind in der engen transparenten Gitterstruktur gefangen und der Außenwelt ausgeliefert, während gleichzeitig die vollkommene Isolation des Innenkäfigs vor Augen liegt.

Abb. 4: Ausstellungsansicht mit Bruce Nauman, Model for Trench and Four Buried Passages, 1977, Gips, Fiberglas und Draht, Glenstone Museum, Potomac, Maryland

In den 1970er Jahren schuf Nauman unter anderem die Model for Tunnel-Serie2, die meist unterirdisch angelegte Tunnelgänge modellartig visualisiert. Eine Arbeit aus dieser Schaffensperiode wird im Erdgeschoß gezeigt: Model for Trench and Four Buried Passages (1977). Diese Model for Tunnel stehen für Konstruktionen wie Schächte, Gänge, Tunnel oder Rampen – meist ohne Eingang oder Ausgang. Erst durch die eigene Vorstellungskraft der Betrachtenden werden die ursprünglich gedachten, baulichen Situationen nachempfunden. Der Ausführungsgrad und die Dimensionen dieser Models for Tunnel sind unterschiedlich, was zum Beispiel am kleineren vis-à-vis platzierten Model for Underground Tunnel, made from Half Circle, Half Square, Half Triangle (1981) anschaulich wird. Darauffolgende Arbeiten der 1980er Jahre gehen immer mehr in eine die Gesellschaft betreffende Thematik über, die das Verhalten von ZeitgenossInnen und der Öffentlichkeit in den Blick nimmt. In dieser Zeit, als Berichte von Folterszenarien aus Diktaturen wie Südamerika und Südafrika bekannt wurden und Nauman sich, laut einem Interview mit Joan Simon3, mit der Thematik von politischer Folter befasst, entstanden seine raumgreifenden Skulpturen, die Phänomene der physischen und psychischen Gewalt thematisieren: beispielsweise White Anger, Red Danger, Yellow Peril, Black Death (1984). Diese Arbeiten stehen in der Ausstellung stellvertretend für die Serie Musical Chairs (1981–1984) aus den 1980er Jahren. Ihre Grundform besteht aus einem fast auf Augenhöhe von der Decke hängenden Kreuz aus zwei sich überlagernden Stahlträgern. Drei farblich unterschiedliche Stühle sind an je einem Trägerende befestigt. Ein weißer Stuhl hängt, wie ein Außenseiter, an einem Seil von der Decke. In Naumans großen Neon-Arbeiten werden diese eben angesprochenen gewaltbezogenen Themen weiter vertieft: One Hundred Live and Die (1984) konfrontiert die BetrachterInnen mit existentiellen Thematiken wie Leben und Tod. Marionettenhaft sich rhythmisch bewegende männliche Figuren wie etwa in Sex and Death by Murder and Suicide (1985), denen Sexualsymbole und Waffen zugeteilt sind, visualisieren figurativ und zeichnerisch den schmalen Grat zwischen Sexualität und Gewalt.

Abb. 5: Bruce Nauman, Sex and Death by Murder and Suicide, 1985, Neonröhren auf Aluminium montiert, 198 × 199 × 32 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel

So wie die Ausstellung mit frühen Werken aus Naumans Arbeit im Atelier beginnt, so endet sie mit der neuesten Videoarbeit Contrapposto Split (2017), die den Künstler in seinem heutigen Atelier in New Mexico zeigt. Es handelt sich dabei um eine thematische Wiederaufnahme der Kontrapost-Performance aus dem Jahr 1968, die jedoch mit neuester 3D-Technologie erweitert wurde. Das Wiederaufgreifen von Themen findet sich vermehrt in Naumans Arbeitsweise. Themen und Werkelemente werden im Laufe der Jahre wieder aufgenommen, teils mit neuen Techniken realisiert und bieten über eine Rekontextualisierung Potenzial für veränderte und neue Fragestellungen.

Die Ausstellung Disappearing Acts im Schaulager bildet einen Querschnitt durch die vielfältigen Themen und Materialien mit denen Bruce Nauman sich in den letzten fünfzig Jahren auseinandersetzte. Der Ausstellungstitel kann dabei als roter Faden dienen, der BesucherInnen beim ersten Gang durch die umfangreiche Ausstellung als ordnendes Element in der Betrachtung leitet. Die Kuratorin Kathy Halbreich hat das Verschwinden als Leitfaden in Naumans Werk ausgemacht: „Das ‘Verschwinden‘ – als Schaustück, Konzept, Wahrnehmungstest, Zaubertrick, Arbeitsmethode und Metapher – ist angesichts von Naumans Kunst ein stets naheliegendes und hilfreiches Stichwort“4. Aspekte des Verschwindens sind ohne Frage in einigen Ansätzen bei Nauman zu finden, doch es wäre eine starke Verengung, die Arbeiten nur unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Naumans Werk sperrt sich nur schon durch die thematische und materielle Diversität gegen eine derart zugespitzte Betrachtung, was die Frage aufwirft, ob durch diese Subsumtion unter ein Thema eine bereichernde Perspektive auf Naumans Schaffen gewonnen ist. Die umfangreiche Ausstellung lässt kaum ein Thema aus, mit dem sich der Künstler beschäftigt hat. Dies ermöglicht eine breite und zugleich tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk dieses für die Kunstentwicklung der letzten fünfzig Jahre so bedeutenden Künstlers: Nauman bringt seinen eigenen Körper als Material und Modell in die Kunst ein und beschreitet in der Skulptur anhand neuer Materialien und Ideen neue Wege. Er führt Themen des Lebens wie Gewalt, menschliches Verhalten und Unsicherheit in die Kunst ein und involviert uns als BetrachterInnen. Naumans Kunst konfrontiert uns mit uns selbst, der eigenen Wahrnehmung und lässt uns nach der Konstruktion von Realität fragen. Oder wie Halbreich zur Eröffnung der Ausstellung im Schaulager feststellte: „It`s all about who we are“.

Begleitend zur Ausstellung sind ein Katalog sowie ein Reader mit wissenschaftlichen Beiträgen mehrerer AutorInnen erschienen, der zur aktuellen kunsthistorischen Diskussion zu empfehlen ist. Bruce Nauman: Disappearing Acts ist noch bis 26. August 2018 im Schaulager Münchenstein/Basel und vom 21. Oktober 2018 bis 17. März 2019 im MoMA New York zu sehen. Parallel zur Ausstellung im Schaulager werden weitere Arbeiten von Bruce Nauman im Kunstmuseum Basel gezeigt.


1 Benjamin H. D. Buchloh, Process Sculpture and Film in Richard Serra’s Work, 1978, in: Ders. (Hg.), Neo-Avantgarde and Culture Industry: Essays on European and American Art from 1955 – 1975, Cambridge, The MIT Press, 2000, S. 414.

2 Naumans Inspiration hierfür war, wie er in einem Interview betont, Samuel Becketts Kurzgeschichte Le dépeupleur. Bob Smith, Bruce Nauman Interview 1982, in: Janet Kraynak, Cambridge/MA London: The MIT Press, 2003, S. 297.

3 Nauman gibt im Interview an zu dieser Zeit V.S. Naipaul The Return of Eva Perón: with The Killings in Trinidad gelesen zu haben, was ihn zu diesen Arbeiten inspirierte. Joan Simon, Breaking the Silence, in: Robert C. Morgan, Bruce Nauman, Baltimore/Maryland, 2002, S. 280.

4 Laurenz-Stiftung, Schaulager/The Museum of Modern Art (Hg.), Bruce Nauman: Disappearing Acts (Kat.), Münchenstein/New York, 2018, S. 24.

Eva Falge ist seit 2016 am Kunstmuseum Basel als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig, war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Raussmüller Collection und ist nebenberuflich als freie Autorin tätig.
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