„Man kann keine Rede über die ‚Trauerarbeit‘ halten, ohne an ihr teilzuhaben, ohne am Tod Anteil zu haben, und zwar zunächst am eignen Tod. […] man sollte sagen können, wie ich es neulich gewagt habe, daß jede Arbeit auch eine Trauerarbeit ist. Jede Arbeit im allgemeineren arbeitet an der Trauer.“ (Jaques Derrida)1
Dieser Beitrag beleuchtet anhand zweier Positionen ästhetische Strategien der Trauerarbeit in Bezug auf den Ozean als heimsuchenden Ort. To be haunted ist ein mediales Phänomen, das speziell in der Auseinandersetzung mit (neo-)kolonialer Thematik auftritt.
Forensic Architecture ist eine von Eyal Weizman an der Goldsmiths University of London gegründete Forschungseinrichtung. Im Falle des Left-to-Die Boat (Teil des Forensic Oceonography Projektes) kartographierte Forensic Architecture mittels ihrer Praxis der ‚Forensis‘2 das Verunglücken von 63 PassagierInnen eines migrantischen Bootes, das 2011 die libysche Küste Richtung Lampedusa verließ. Die Forensis impliziert eine Verschiebung von der Ära der ZeugInnen (als Subjekte) hin zu einer forensischen Ära, in der Investigationen zu internationalen Verbrechen anhand unterschiedlicher Beweisobjekte durchgeführt werden. Nachdem der Treibstoff ausging, sendeten die PassagierInnen Notsignale via Satellitentelefon, die im hoch überwachten Mittelmeerraum von mehreren Parteien wahrgenommen wurden. Maritime Grenzen verschieben sich international jedoch je nach politischem Interesse. Im Falle des Left-to-Die Boat wurden sie entsprechend als liquide behandelt, was dazu führte, dass das Gefährt für vierzehn Tage über das Mittelmeer driftete, da die Zuständigkeit für die Rettung von niemandem als dringlich wahrgenommen wurde. Mittels online vorgefundenen Daten- und Bildmaterialien sowie ergänzenden ZeugInnenaussagen von Überlebenden rekonstruierte das Forschungsteam die Route, um die Investigation Nichtregierungsorganisationen in Verfahren gegen die NATO zur Verfügung zu stellen.3
NourbeSe Philip, eine in Kanada lebende Poetin und Juristin, verarbeitete in ihrem 2008 herausgegebenen Buch Zong! das Massaker auf dem britischen Sklavenschiff Zong. Im Jahr 1781 wurden, am Weg vom heutigen Ghana nach Jamaika, rund 150 SklavInnen aufgrund ökonomischer Interessen über Bord geworfen. Auf Basis der erhaltenen Dokumente des Rechtsstreits zwischen Schiffsinhaber (William Gregson) und Versicherungsagenten (Thomas Gilbert) verfasste Philip ihren Gedichtband. Philips Text entzieht sich der verständlichen Sprache, reißt diese auseinander, erzählt und ‚um-erzählt‘ Geschichte. Es ist der Autorin ein besonderes Anliegen, den toten Namenlosen Würde zu erweisen und diese zu nennen: Wie geisterhafte Fußnoten schweben sie im Unterwasser.
Der Ozean fungiert in der Investigation Left-to-Die Boat wie auch in Zong! 4 als liquider Gedächtnisort, der Geschichten der Gewalt und des Widerstandes in sich trägt. Ähnliche Ereignisse – vom 18. bis ins 21. Jahrhundert – zeigen die Aktualität der Arbeiten, die auf einer Auseinandersetzung mit gesetzlichen Dokumenten und offiziellen Fundstücken beruhen, die umgewertet und in andere mediale Milieus überführt werden.
Was unterscheidet die poetologischen Kartographien Philips vom faktisch argumentierenden Mapping durch Forensic Architecture? Kann eine der Trauerarbeit vorausgehende oder ihr folgende Empathie Beweggrund sein, internationale Organisationen wider dem Vergessen zur Rechenschaft zu ziehen? Welchen dokumentarischen und ästhetischen Strategien bedient sich Trauerarbeit und kann diese überhaupt von der datenförmigen mnemotechnischen Spur in Left-to-Die Boat oder jener der Textualität von Zong! geleistet werden?
Die Forschungseinrichtung Forensic Architecture proklamiert eine historische Zäsur: Ihrem Verständnis der Forensis nach spricht das Meer und erinnert quasi aus sich heraus. Knochen können aus juristischer Perspektive nicht aus dem „liquid grave“5 ausgegraben werden, dennoch ist ökologisch betrachtet das Verbleiben der Körper im Ozean in Form von Partikeln nachweisbar. Die Autorin Christina Sharpe prägt mit ihrem Verständnis von wake work6 eine kritische Figuration für das Bewusstsein, in den Nachwirkungen der Sklaverei zu leben. Sie bezeichnet damit einen Modus oftmals kollektiver Trauerarbeit von poetischer, kulturwissenschaftlicher oder aktivistischer Art – wie von Forensic Oceonography betrieben. Häufig ist sie ein Hybrid aus Praktiken, in denen Historiographie zugunsten einer öffentlichen Wahrheit korrigiert oder dekonstruiert werden muss. Das Kielwasser (wake) entspricht dem Futur Zwei: Es wird eine Spur gewesen sein.
Zwei zentrale Gedankenfiguren strukturieren den vorliegenden Text und bestimmen meine Überlegungen zur „Poeto-forensischen Ozeanographie“ – „Poetry and Law: tomb stones which speak“ sowie „An_klagen in der middle voice“.
Poetry and Law: tomb stones which speak
Unabhängig von den formalen Unterschieden greifen Zong! und Left-to-Die Boat transformativ auf juristische Verfahrensweisen zu. Philip beschreibt ein von Poesie und Recht/Gesetz (im Englischen: law) geteiltes und unerbittliches Anliegen mit Sprache: „Law and poetry both share an inexorable concern with language […].“7 Forensic Architecture narrativiert Collagen aus Fakten, um ein Geschehnis erfahrbar zu machen, sich empathisch in Daten-Landschaften einzufinden und aus dem, was bloß registriert wird, eine Erkenntnis zu fassen. Das Postulat einer ‚Investigativen Ästhetik‘,8 prozessual in der Erforschung des Gegenstands, führt über Umwege zu einem offenen Werkbegriff.
Die Forschungseinrichtung verfolgt eine Form der persuasiven Visualisierung, die sich an juristischen und forensischen Methoden orientiert, welche an der Architektur (im konkreten Fall jener des Ozeans) ansetzen. Während das faktische Mapping als narrativer (Re)Konstruktionsakt auftritt, wird Poesie in Zong! anti-narrativ eingesetzt. Der Gedichtband erstreckt sich über sechs Sektionen: Os, Sal, Ventus, Ratio, Ferrum, Ebora,9 gefolgt von einer Form des Appendix oder Paratextes, der Metaebene oder Reflexion – betitelt mit Glossary, Manifest und Notanda – sowie dem rechtlichen Dokument des Streites Gregson v. Gilbert. Syntax und Indexikalität, die den ersten Abschnitt Os strukturieren, nehmen bereits in dieser Sektion ab. Sie ist in einzelne Gedichtteile mit fortlaufender Nummerierung unterteilt (Zong! #1–Zong! # 26), gespickt mit Fußnoten, bestehend aus einer horizontalen Linie am unteren Ende der Seite und darunter einigen Namen der Getöteten. Die Zwischenüberschrift „DICTA“ bringt eine Unterbrechung: Alle darauffolgenden Teile sind ohne Nummerierung, im Sinne eines Index ohne Verweis (Zong! #); von den Fußnoten bleiben nur die trennenden horizontalen Linien übrig. Dennoch büßen die Sektionen nichts von ihrem durchkonzipierten Charakter ein. Die Ästhetik von Zong! ergibt sich durch eine Typographie, die ausschließlich aus Kleinbuchstaben besteht: Serifen-Schrift mischt sich mit handschriftlich anmutender lateinischer Schrift, Kursivierungen, Überschreibungen, springenden Zeilen, Aufzählungen, wellenartigen Anordnungen und Verblassungen. Dabei ist auch die performative Intonierung des Buches in der Konzeption der Schrift angelegt. Die Setzung des Geschriebenen nimmt signifikanten Einfluss auf die mündliche Performanz: Während Einzelauftritte der Autorin meditativ anmuten, sind die Gruppenlesungen Jam-Sessions einer ‚anti-narrativen Fuge‘10. Folglich ist jeder Vortrag eine Variation und verlangt mit Sprach- und Lautsplittern teils nicht-linear zu verfahren. In einem Interview sagt Philip, dass man auf Improvisation angewiesen sei, wenn man sich mit Zong beschäftigt; die herausforderndste Sektion sei Ferrum, da sie einen mit der Degeneration der Sprache konfrontiert und das Lesen zu einer offenen Frage im Umgang mit Fragmenten und Leerstellen macht.11 Diese Art zu lesen gestaltet sich als eine Form der Trauerarbeit; dabei ist die sich um die Buchstabenfragmente schlängelnde Stille artikuliert und präzise, wie zugleich der Willkür des Tötens entsprechend zufällig arrangiert. Zong! fordert auf, unterschiedliche Stillen zu hören: verschweigende, auslassende, trauernde – anerkennend, dass die ganze Geschichte nicht erzählt werden kann.12 Philip sagt: „[…] honour that larger Silence, that the noise of knowledge attempts to drown out.“13 Sie setzt das Umschreiben gewaltvoller Geschichte als poetologische Methode des Reflektierens ein, bestimmt durch die Fragilität der Geschichtsschreibung und Zweifel an ihrer Darstellbarkeit. Philips Form der forensischen Linguistik14 macht Zong! zu einem Unterfangen poeto-forensischer Ozeanographie: Sie bedient sich dabei nicht des Verfahrens einer hermeneutischen Interpretation des Textes Gregson v. Gilbert, sondern erarbeitet ein Um-Schreiben der Geschichte von Zong, wie sie zum einen im Rechtsstreit dokumentiert ist und zum anderen der Autorin von Setaey Adamu Boateng, einer afrikanischen Gottheit, erzählt wurde. Auffällig ist die Entkoppelung von Poetik und Hermeneutik im Prozess des underwriting; die Passagen, die der Autorin am nächsten gehen, sind jene, die sich der Verständlichkeit entziehen15 – beziehungsweise der Sichtbarkeit: In der letzten der poetischen Sektionen, Ebora, steigert sich die Überlagerung der nun verblassten hellgrauen Buchstaben und Wortfragmente bis zur Unleserlichkeit. Philip beschreibt diese Prozesse: „I white out and black out words (is there a difference?).“16 Oder jene Abschnitte, in denen der Gesetzestext wie ein Grabstein forensisch aus sich heraus spricht und sich in all seiner Posthermeneutik zeigt17. „[T]he legal report is the tomb stone which speaks“18 – allerdings auf spektrale19 Weise – als eine Form des trauernden, heulenden, seufzenden, schreienden Gesangs mit Ausrufezeichen: song! oder Zong!.
Durch die Leerstellen dieser poetischen Kartographien kann in produktivem Unverstehen navigiert werden: lesend wie zuhörend, die fragmentierten Sätze betrachtend oder das Konzept reflektierend. Sind die Leerstellen zwischen den Buchstaben, Silben, Wörtern und Phrasen äquivalent zu den Verzerrungen und Auslassungen der ZeugInnenaussage, welche nach Derrida die Möglichkeit der Fiktion beinhaltet?20 Forensische Methoden entstanden komplementär zur Bezeugung durch Subjekte, nicht dem Zeugnis (testimony) entgegengesetzt. „Testimonial memory is the ghost that haunts the interstices of historical discourse.”21 Erinnerung aus mündlicher ZeugInnenschaft gilt Forensic Architecture wiederum aufgrund der Nähe des Traumas zum Vergessen, zu Irritationen, Widersprüchlichkeiten und Leerstellen als ambivalent. Hatten es die postkoloniale Kritik und Wissensproduktion mit der Unsicherheit abwesender kolonialer Archive zu tun,22 so findet Forensic Architecture veränderte Produktionsbedingungen in Bezug auf gegenhegemoniale Wahrheitsfindung und kartographische Erinnerungsarbeit der Gegenwart vor: Ihr Rekonstruktionsakt basiert nicht auf einem Spuken mündlicher Überlieferungen, sondern auf Methoden des „cross-referencing“ zugunsten der Relationalitäten von Ereignissen, visuellen Fundstücken und Daten. ZeugInnenaussagen durchlaufen einen metabolischen Prozess und werden Teil eines Architektur-Medien-Kontinuums.
Die Forschungseinrichtung verfährt scheinbar entsubjektiviert über mediale und architektonische Beweisstücke, wohingegen Philip wake work betreibt, die aus unmittelbarer Betroffenheit eines being Black geschieht. In beiden Fällen trifft Trauer nicht unvermittelt auf ihren Gegenstand. Vielmehr sind es ästhetischer Verfahrensweisen, die neue Formen der Trauerarbeit, aber auch der Empathie ermöglichen: Bei Forensic Architecture handelt es sich gewissermaßen um eine posthumane23 Empathie mit sensorischer Materie, die ein gesteigertes Empfindungsvermögen24 aufweist. (Liquide) Architektur ist „aestheticized to its environment“25 und der Ozean als elektromagnetisches Feld26 im Fall des Left-to-Die Boat ein driftender Akteur medialen Untodes.
An_klagen in der middle voice
Auf dem Buchcover als „anti-narrative lament“ ausgewiesen, ist Trauer in Zong! mit Agency ausgestattet, die in einer Verschränkung von Leidensform (passiv) und Tätigkeitsform des Sprechens/Singens/Lamentierens (aktiv) besteht.
Im Reader zur documenta 14 erschien der Aufsatz From the Subject of the Crisis to the Subject in Crisis: Middle Voice on Greek Walls von Maria Boletsi. Ausgehend von Rhetoriken der Krise in Griechenland seit 2009 analysiert sie das auf den Wänden auftauchende Wort vasanizomai, das sich nicht einfach ins Englische übersetzen lässt – „I suffer“ oder eher „I am in torment“ –, im Verhältnis zu verschiedenen Subjektivitätsfigurationen.27 Im Altgriechischen gibt es die Unterscheidung zwischen aktiver, passiver und medialer, wörtlich übersetzt mittlerer Stimme.28 Die Schwierigkeit in der Übersetzung beruht auf dem dritten Modus, der im Englischen nicht existiert und den Boletsi auf die Subjektposition umlegt: „The subject of vasanizomai is not a disempowered victim: her agency emerges from the (literal) inscription of her vulnerability as it erupts in public space.“29 Die dabei hervorbrechende Verletzlichkeit bildet ein Gegengewicht zur hegemonialen Wahrheit.30 Diese prekäre Wahrheit31 ist in Zong! wie Left-to-Die Boat vertreten, obwohl sie in der Forensis einen möglichst zu reduzierenden Sachverhalt darstellt. Die animierte virtuelle Kartographie von Left-to-Die Boat fusioniert dokumentarische Strategien im Arrangement von Found-Footage (auf Ton- und Bildebene beispielsweise finden sich Einblendungen von Protesten im Rahmen des Arabischen Frühlings), kontrastiert ein Statement eines Marinekommandanten (offizielles NATO Video) mit dem eines Überlebenden, graphische Visualisierungen mitsamt Legende und didaktisch aufbereiteter Information. Wo verbirgt sich darin vasanizomai?
Die Forensis, die nicht einfach die poststrukturalistische Kritik mit ihrer Betonung des Faktisch-Fiktiven und dem Hochhalten von Ambiguität und Ambivalenz ablöst, produziert womöglich neue Formen von vasanizomai. In Left-to-Die Boat verarbeitete Forensic Architecture sensorische Daten zu einer zusammenhängenden Historie. Die Leerstellen und Auslassungen des Konstruktionsaktes werden möglichst klein gehalten und dabei dieser Akt als ‚Investigative Ästhetik’ an der Oberfläche des Sichtbaren vollzogen. Um ihre Kredibilität im politisch-wissenschaftlichen Feld zu wahren, muss die Agentur zwar die Schwachstellen des forensischen Ansatzes offenlegen32, zugleich aber Distanz zu Fiktion und künstlerischer Ambivalenz halten – verpflichtet, wahrhaftig zu sein, anstatt zwischen Authentizität und Erfindung zu oszillieren. Forensic Architecture wie auch NourbeSe Philip sprechen in diesem Sinne mit der radikalen Stimme der Unentscheidbarkeit: „The middle voice would thus be the ‚in-between‘ voice of undecidability and the unavailability or radical ambivalence of clear-cut opposition.“33 Wenn die middle voice allerdings durch eine unklare Agency definiert ist,34 die research-agency aber als quasi-institutionelles Kollektiv auftritt, funktioniert ihre middle voice nach dem Prinzip der Fuge. Diese basiert auf dem Kompositionsprinzip der Polyphonie mit versetzter Wiederholung und Imitation. Die middle voice unterhält eine (begriffliche) Nähe zur middle passage – dem migrantischen Transit als Interimszeit und -raum. Vasanizomai vereint in dessen Kielwasser Verletzlichkeit und Widerständigkeit und schließt sich so der Butler’schen Denkbewegung an, ein post-souveränes Subjekt mitzuentwerfen.35 Das Gespenstische36 kann dabei als wesentlicher Aspekt von Medialität beziehungsweise der middle voice betrachtet werden: In der zeitlichen Verzögerung realisieren sich mediale Fundstücke konstant wieder, rekonstituieren und transformieren sich auf phantomhafte Weise.
Womöglich ist es die postfaktische37 Ära, die auf symptomatische Weise mediale Artefakte hervorbringt, die zu Beweisen werden. Susan Schuppli, Forschende bei Forensic Architecture, bezeichnet diese als „material witness”38. Der „crisis of unknowing“39 der traumatischen Moderne des 20. Jahrhunderts steht die Forensis als „crisis of knowing“ gegenüber. Nicht verwaiste Archivbilder, sondern Daten mit raumzeitlich eingeschriebenen Metadaten können collagiert und zueinander übersetzt zu einer Simulation führen. Glitches (Bildstörungen) oder gespenstischen Leerstellen können in Form von „negative evidence“40 zur Information werden. Sie oszillieren an den Schwellen von Fühlbarkeit und Sichtbarkeit. Aufgrund jenes „threshold of detectability“41 ist der Oszillationsraum der Kunst, in dem die Kartographien von Forensic Architecture und NourbeSe Philip auf große Resonanz stoßen, so von ausgeprägtem Interesse für derlei poeto-forensische Praktiken.
Das „Undienlich-machen“ des Gesetzestextes als solchem und die Übersetzung in einen Gedichtband verwehrt sich der Verfügung der Versklavten über die sie betreffenden legalen Dokumente. 42 Die Vorsilbe des An- verschränkt die Anklage in juristischen Verfahren mit einer betrauernden und zergliedernden Klage, die auch als Anklage zu lesen ist. Die Poeto-forensische Ozeanographie ist in diesem Sinne auch als Rechtskritik in der middle voice zu verstehen: im Sinne einer visuellen Übersetzung rechtlicher rhetorischer Verfahren – über den Hinweis, Recht müsse ebenso Uneindeutigkeiten konfrontieren, hinausreichend.
1 Jacques Derrida, Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin, in: Michael Wetzen/Herta Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 13.
2 “[…] forensis is used to interrogate the relation between the two constitutive sites of forensics—namely fields and forums. […] The forum […] is a composite apparatus. It is constituted as a shifting triangulation between three elements: a contested object or site, an interpreter tasked with translating ‘the language of things,’ and the assembly of a public gathering.”, Eyal Weizman, Introduction: Forensis, in: Forensic Architecture (Hg.), Forensis. The Architecture of Public Truth, Berlin 2014, S. 9.
Die Forensis impliziert eine Verschiebung von der Ära der Zeug_innen (als Subjekte) hin zu einer forensischen Ära, in der Investigationen zu internationalen Verbrechen anhand unterschiedlicher Beweisobjekte durchgeführt werden. Siehe: Thomas Keenan/Eyal Weizman, Mengele’s Skull. The Advent of a Forensic Aesthetics, Berlin 2012.
3 Der Fall Left-to-Die Boat, durchgeführt von Charles Heller und Lorenzo Pezzani von Forensic Architecture in Kollaboration mit SITU Research, führte 2011 zur Gründung des Forensic Oceanography Projektes. Siehe: http://www.forensic-architecture.org/case/left-die-boat/.
4 M. NourbeSe Philip (author)/Setaey Adamu Boateng (contributer), Zong!, Middletown 2008.
5 Philip 2008, S. 201.
6 Siehe Christina Sharpe, In the Wake. On Blackness and Being, Durham/London 2016.
7 Philip 2008, S. 191.
8 Im April 2017 eröffnete eine Großausstellung zu Forensic Architecture am Museu d‘Art Contemporani de Barcelona (MACBA), die den vielsagenden Titel Towards an Investigative Aesthetics trägt.
9 Es handelt sich um lateinische Begriffe, die folgendermaßen übersetzt werden können: Os = Knochen, Sal = Salz, Ventus = Wind, Ratio = Erklärung/Methode/Vernunft, Ferrum = Eisen, Eboracum =York.
10 „In the musical sense of the word, Zong! is a counterpointed, fugal antinarrative […]“ (Philip 2008, S. 204). Die Vorsilbe anti- verweist auf Philips Verweigerung gegen eine verständliche Narration: „being dissatisfied when the poem becomes too comprehensible“, Philip 2008, S. 192, Kursivierung im Original.
11 Vgl. Paul Watkins, We can never tell the entire story of slavery: In conversation with M. NourbeSe Philip, in: The Toronto Review of Books, 30.04.2014. URL: http://www.torontoreviewofbooks.com/2014/04/in-conversation-with-m-nourbese-philip/ [25.05.2017].
12 „[T]he complete story does not exist. It never did. All that remains are the legal texts and documents of those who were themselves intimately connected to, and involved in, a system that permitted the murder of the Africans on board the Zong.“ (Philip 2008, S. 196)
13 Watkins 2014.
14 Forensische Linguistik beschäftigt sich mit der Sprache des geschriebenen Gesetzes, dem Spracheinsatz in juristischen Foren sowie der forensischen Analyse sprachlicher Beweise. Portale zur Disziplin finden sich u.a. hier: http://www.forensiclinguistics.net/index.html, http://www.languageandlaw.org. Etwa Lawrence Abu Hamdan hat sich in seinen Arbeiten mit dem forensischen Einsatz von Stimmaufzeichnungen in Asylverfahren in Großbritannien auseinandergesetzt; vgl. Markus Stickler, The Inflicted Voice. The Relationship between Sound and Power in Lawrence Abu Hamdan’s The Freedom Of Speech Itself, in: all-over 10, Frühjahr 2016, S. 16 – 21, besonders Abschnitt III, URL: http://allover-magazin.com/?p=2336 [17.10.2017].
15 „The ones I like best are those where the poem escapes the net of complete understanding —where the poem is shot through with glimmers of meaning.“, Philip 2008, S. 192, Kursivierung im Original.
16 Philip 2008, S. 193.
17 Dieter Mersch beschreibt diese Dynamik „[…] als Chiasmus zwischen Zeigen und Sichzeigen, als Chiasmus zwischen Signifikation und Materialität oder als Chiasmus zwischen Medium und Ex-sistenz. […] Posthermeneutik impliziert darum zugleich die Rehabilitierung der Aisthesis. Indem dieser sich eine Alterität zeigt, schließt sie gleichzeitig Ethik und Ästhetik zusammen. Posthermeneutisches Denken ist weniger dem Wissen und der theoria als ‚höchstem Glück‘ im Sinne des Aristoteles verpflichtet als diesem Primat einer Einheit des Ethischen mit dem Ästhetischen.“, Dieter Mersch, Posthermeneutik. Berlin 2010, S. 27.
18 Philip 2008, S. 192.
19 „Zong! is hauntological“, Philip 2008, S. 201.
20 Von der Glaubhaftigkeit der ZeugInnenaussage auszugehen, gleicht Forensic Architecture zufolge einer Fiktionalisierung. In ihrem Lexikon unter dem Eintrag „Testimony“ zitiert die Agentur Derrida: „[T]here is no testimony that does not at least structurally imply in itself the possibility of fiction, simulacra, dissimulation, lie, and perjury—that is to say, the possibility of literature […] if testimony thereby became proof, information, certainty, or archive, it would lose its function as testimony.“ (Jacques Derrida, zit. n. Forensic Architecture, Lexicon. URL: http://www.forensic-architecture.org/lexicon/testimony/ [01.05.2017].
21 Jean Fisher, In Living Memory… Archive and Testimony in the Films of the Black Audio Film Collective, in: Kodwo Eshun/Anjalika Sagar (Hg.), The Ghosts of Songs. The Film Art of the Black Audio Film Collective 1982-1998, Liverpool 2007, S. 17.
22 Kobena Mercer, Post-colonial Trauerspiel, in: Kodwo Eshun/Anjalika Sagar (Hg.), The Ghosts of Songs. The Film Art of the Black Audio Film Collective 1982-1998, Liverpool 2007, S. 46.
23 Die Verwendung von ‚posthuman‘ geschieht in Anlehnung an Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt am Main 2014.
24 Weizman spricht in diesem Zusammenhang von der „Hyperästhesie“ von Gebäuden. Vgl. Eyal Weizman, Forensic Architecture. Violence at the Threshold of Detectability, New York 2017, S. 52.
25 Weizman (2014, S. 14) beschreibt Architektur als „aestheticized to its environment“: „Aesthetics is originally understood as that which pertains to the senses, but in this context it designates not the human senses but rather the sensorial capacity of matter itself.”
26 Über das Left-to-Die Boat schreiben Charles Heller und Lorenzo Pezzani: „The contemporary ocean is in fact not only traversed by the energy that forms its waves and currents, but by the different electromagnetic waves sent and received by multiple sensing devices that create a new sea altogether. Buoys measuring currents, optical and radar satellite imagery, transponders emitting signals used for vessel tracking and migrants’ mobile phones are among the many devices that record and read the sea’s depth and surface as well as the organisms that navigate it. By repurposing this technological apparatus of sensing, we have tried to bring the sea to bear witness to how it has been made to kill.“, Charles Heller/Lorenzo Pezzani, Liquid Traces: Investigation the Deaths of Migrants at the EU’s Maritime Frontier, in: Forensic Architecture (Hg.), Forensis. The Architecture of Public Truth, Berlin 2014, S. 658.
27 Vgl. Maria Boletsi, From the Subject of the Crisis to the Subject in Crisis: Middle Voice on Greek Walls, in: documenta/Museum Fridericianum (Hg.), The documenta 14 Reader, München/London/New York 2017, S. 434.
28 Vgl. ebd., S. 447.
29 Ebd., S. 452.
30 Vgl. ebd.
31 Vgl. ebd.
32 Dies betrifft beispielsweise die Verwendung niedrig aufgelöster Satellitenbilder, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. US-Spionsatelliten haben Zugang zu einer wesentlich höheren Auflösung. In dieser variierenden Auflösung manifestiert sich ein Machtungleichgewicht in Bezug von Sicht und Wissen, auf das counterforensics reagiert. Vgl. Weizman 2017, S. 29f.
33 Dominick LaCapra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2014 (2001), S. 20.
34 Vgl. Boletsi 2017, S. 449.
35 Die Rechtswissenschaftlerin Susanne Baer unterzieht das „post-souveräne Subjekt“ Judith Butlers (1997) einer symptomatischen Diagnose. Sie kritisiert, dass Butler den Rechtsdiskurs mystifiziert, ihn einzig als staatliches Instrument denkt und ihm Revision, Interpretation und Uneindeutigkeit abspricht. Vgl. Susanne Baer, Inexcitable Speech. Zum Rechtsverständnis postmoderner feministischer Positionen in Judith Butlers „Excitable Speech“, in: Antje Hornscheidt/Gabriele Jähnert/Annette Schlichter (Hg.), Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven, Opladen 1998, S. 229–252.
36 Das Gespenstische findet sich prominent in Derridas kritischer Figuration der hauntology (zwischen haunting und ontology) – siehe: Jacques Derrida: Spectres of Marx: The State of the Debt, the Work of Mourning, and the New International, New York 1994. Für Blanco/Peeren (vgl. 2013, S. 7) erschüttert das Gespenst als «non-present(ational) figure» das dichotome Denken. Siehe: María del Pilar Blanco/Esther Peeren, Introduction: Conceptualizing Spectralities, in: María del Pilar Blanco/Esther Peeren (Hg.), The Spectralities Reader: Ghosts and Haunting in Contemporary Cultural Theory, London 2013, S. 1–28.
37 Postfaktische Politik ist eine affektive und impliziert einen Vorwurf an normativ verfahrende Instanzen der Medienlandschaft. Das Wort ‚postfaktisch‘ sei irreführend, so Rothenberg: „It is not the salience and veracity of facts that has disappeared. Rather, we are witnessing profound challenges to truth within conditions of radical uncertainty. We are experiencing a trust crisis.“ David Rothenberg, The Trust Crisis: Whose „Facts“?, in: Brad Allenby/Joel Garreau, Weaponized Narrative: The New Battlespace, March 21, 2017, S. 21. Weaponized Narrative Initiative, URL: https://weaponizednarrative.asu.edu [09.05.2017].
38 Siehe v. a. gleichnamige in Kürze erscheinende Publikation von Susan Schuppli, Material Witness: Forensic Media & the Production of Evidence, Cambridge 2017.
39 Vgl. Mercer 2007, S. 53.
40 „This term indicates an absence of material evidence that is evidence in itself. Negative evidence can, potentially, be used to dismantle complex constructions and networks of knowledge. It is like an antibody to the practice of producing complex data assemblages.“ (Lexicon, in: Forensic Architecture (Hg.), Forensis. The Architecture of Public Truth, Berlin 2014, S. 749).
41 Vgl. Weizman 2017.
42 Vielen Dank an Jan Mollenhauer, der mich im Rahmen meines Vortrags zur Poeto-forensischen Ozeanographie auf der IFK-Akademie 2017 auf die Praxis des Sich-undienlich-Machens, die sich dem Prinzip der Dienstleistung entzieht, hingewiesen hat.