Die Fliege im Bernstein

Teil I[1]

Abb. A: Alexander Kluge.

Abb. A: Alexander Kluge.

Gawan Fagard traf Alexander Kluge am 20. Februar 2012 in dessen Münchner Wohnung in der Friedrichstraße. Anlass des Gesprächs war ein unvollendetes Filmprojekt zwischen Andrei Tarkowski (1931 – 1986) und Alexander Kluge (geb. 1932), in dessen Mittelpunkt die Akasha-Chronik von Rudolf Steiner (1861 – 1925) gestanden hätte. Steiner hatte zwischen Juli 1904 und Mai 1908 eine Reihe von Aufsätzen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Lucifer-Gnosis publiziert, die seit 1939 auch in Buchform unter dem Titel Aus der Akasha-Chronik aufgelegt wurden.

Abb. B: Andrei Tarkowskij.

Abb. B: Andrei Tarkowskij.

Für Kluge und Tarkowski war dieses Buch stillschweigend die Gesprächsgrundlage, als sie sich im Dezember 1984 in West-Berlin trafen, um über eine mögliche Verfilmung des „Stoffes“ nachzudenken. Zwei Jahre später verstarb Tarkowski. Die geplante Kollaboration hinterließ nur eine marginale Spur in Form einer kurzen Erzählung, die Kluge in den zweiten Band seiner monumentalen Chronik der Gefühle aufnahm. Der Text gleicht zunächst einem Nachruf auf Tarkowski: „In einem Berliner Zimmer, das an eine Küche grenzte, saß (oder war hingesetzt von den befreundeten Seelen, die ihn versorgten) Andrei Tarkowski. Einer der wenigen Großen unter den Filmregisseuren der Welt, vom sowjetischen Filmverband verstoßen, in Hollywood unbekannt.“[2]

Abb. C: Rudolf Steiner.

Abb. C: Rudolf Steiner.

Das Gespräch hatten Dritte organisiert und so galt es zunächst einige Meinungsverschiedenheiten über die Produktionsbedingungen beizulegen. Kluge favorisierte einfache, unkomplizierte und vor allem kostengünstige Drehbedingungen; Tarkowski „[…] hatte dagegen im Sinn, dass die Dreharbeiten an einem herausgehobenen Ort, z.B. an Kreuzwegen zwischen Himalaya und Karakorum, d.h. auf tibetanischem Gelände, stattfinden sollten.“[3]

Das Gespräch verwickelte sich in die Diskussion möglicher Drehorte, Szenarien und Jahreszeiten. Es galt, gemeinsam den „Kairotopos rechter Orte und Zeiten“[4] zu ermitteln. Ein Brunnen, südlich von Neapel, den bereits Ovid erwähnte, sollte als Ausgangsszenario dienen. Ein Hinweis auf Tibet erwies sich als Übersetzungsfehler für gewisse Täler und Gletscher im Hindukusch. Von einer Besichtigung der Grenzflüsse Oxus und Jaxartes war die Rede. Kluge übersetzte Tarkowskis topologische Suche in die absolute Metapher des Gartens, des hortus conclusus. Diesen müsse man aber nicht unbedingt an der Pamirseite der Sowjetunion aufsuchen, wandte Kluge ein. „Dann müssen wir die Hindukusch-Seite wählen, die zu Indien gehört, antwortete Tarkowski. Allein das Himmelszelt über diesen trockenen Bergen, einige Quadratmeter Boden, die kein Mensch je betrat – das wären Bilder. Gegen die Planer von Moskau gerichtet.“[5]

„Wir können ebensogut“, entgegnete Kluge, „Elementares verfilmen: den ersten Windstoß des Herbstes, den längsten Moment des Winters, die Morgenröten, von denen jede verschieden ist. Wenn es bei Homer heißt: ‚Scharf wehend das Aug wie der Nordost’, dann ist das schwer zu verfilmen, weil ja das Auge weht und nicht der Wind. Das könnten wir aber im Kalkstein der Alpen und an der See weit im Norden eher filmen als bei einer Expedition in ein antikes Land, das weder Sie noch ich kennen.“[6]

Keine der beiden Expeditionen fand letztlich statt. Im folgenden Gespräch schreiben Kluge und Fagard eine Geschichte weiter, von der man zwar nicht genau sagen kann, wovon sie handelt, in der aber über Steiner und Tarkowski hinaus zunehmend deutlich wird, dass sie auf einer Metaebene eine Theorie der Imaginationen und des spekulativen (dialektischen) Bildes in der Moderne verhandelt. Die Rede ist von Ikonen und Youtube-Bildern, Vor- und Nachbildern, Ikonoklasten und Ikonodulen, und der Figur Steiners aus der jeweiligen Sicht Kluges und Tarkowskis. Beider Annäherung an Steiner unterscheidet sich von der affirmativen beziehungsweise ablehnenden Textlektüre der meisten Anthroposophen und Kritiker Steiners dadurch, dass für Kluge und Tarkowski die Erfahrung des Films über das zu Dokumentierende entscheidet.

Das folgende Gespräch sowie dessen Fortsetzung in der kommenden Ausgabe ist Teil einer Recherche für einen Spielfilm zweiter Ordnung[7], der weder das Ziel verfolgt ein unvollendetes Projekt im Nachhinein zu vollenden, noch die historische Konstellation des Berliner Gesprächs als solche dokumentiert, sondern sich vielmehr auf die Spuren einer Topologie begibt, deren Orte wohl selbst nur in der Erfahrung des Films und der kinematographischen Imagination hergestellt wurden.

Toni Hildebrandt


Gawan Fagard: Lassen Sie uns damit beginnen, über die Beziehung von Steiner und Tarkowski nachzudenken. Wie würden Sie die gegenseitige „Einflussnahme“ beurteilen?

Alexander Kluge: Das war mir zunächst rätselhaft als ich Tarkowski traf. Er ist ein hochindividueller Mensch. Ein großer Künstler ganz eigener Art. Wenn ich es nicht gewusst hätte, wenn es mir nicht von Haus aus gesagt worden wäre, hätte ich nicht vermutet, dass er sich für Steiner interessiert. Tarkowski ist sehr ernst in der Suche und mir hat es sehr gefallen, als er sagte, dass es in der Nähe des Vesuvs einen Eingang zu einer Höhle gibt, von der aus man in die Unterwelt käme. Nun weiß ich von Homer, dass Odysseus in der Nähe von Gibraltar den Eingang zu der Unterwelt fand.[8] Anderseits muss ich Ihnen sagen, dass dieses Gelände so etwa östlich von Neapel mit seinen Höhlungen schon sehr eigenartig ist. Unter der Lava befindet sich nicht das Herculaneum und Pompeji, sondern alles mögliche Andere und zwar nicht unter Lava, sondern unter dem Bett der Geschichte. Und das sind die Dinge, die Tarkowski in seinen Filmen immer wieder hervorhebt. Es gibt eine unsichtbare Welt. Die ist gegenwärtig.

Abb. 1: Andrei Tarwkowski, Zeichnung für Ebbo Demant, 1984.

Abb. 1: Andrei Tarwkowski, Zeichnung für Ebbo Demant, 1984.

Es gibt eine Grammatik der Bilder. Die Aktualität und die Momentaufnahme realisiert die Kamera fast von selbst. Das ist die Grundformel des Films, aber darin ist Vergangenheit und Zukunft, die Möglichkeitsform, der Konjunktiv – das Subjonctif. Daneben gibt es aber in der griechischen Antike noch die grammatische Form des Optativs. Meine Wünsche sind total antirealistisch und bilden eine Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit kann hart wie Beton sein, aber diese Wünsche sind eben auch hart wie Beton. Sie sind aber auch flexibel, plastisch, gummiartig, das heißt: Sie sind der Wirklichkeit überlegen.

Gawan Fagard: Dann findet man in der Unterwelt also sowohl etwas Hartes wie etwas Zartes?

Alexander Kluge: Ja, das sind zwei Eigenschaften, die der Ursprung der Materie mit Gewissheit hat, die wir gewissermaßen in unseren Zellen aufbewahren. Die Plastizität und Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns zum Beispiel. Da sitzen Milliarden Beamte hier oben und verkennen die Wirklichkeit total. Was diese Gehirnzellen tun und abbilden und als Zeichen setzen, hat nichts zu tun mit einem Sternenhimmel, mit einer Wand, einem Menschen oder einer andersartig verfestigten Konstellation. Evolutiv haben sich aber die gesammelten Irrtümer unserer Gehirne und die gesammelten verfestigten Verhältnisse außen so an einander gewöhnt, dass wir wahrnehmen – übrigens in der Figur des Blinden bei Homer etwas besser als im Falle eines Sehenden.

Gawan Fagard: Wäre das dann etwa vergleichbar mit Steiner, der sich als ein „Sehender“ verstand?

Alexander Kluge: Ja, davon versteht er etwas. Eine kritische Distanz fände ich hier unangemessen. Ich halte es für dogmatisch zu sagen: „Aha, hier an dieser Stelle ist er zu widerlegen, da flunkert oder übertreibt er… Wo hat er das her?“ Das ist vollkommen uninteressant. Für mich ist er zunächst einfach ein ahnungsvoller Poet. Das würde mir zunächst reichen. Er wäre dadurch sozusagen mit Kassandra ebenso verwandt wie mit einem Religionsstifter.

Gawan Fagard: Was bedeutet das dann aber für die Wirklichkeitserzeugung eines Bildes?

Alexander Kluge: Was ist „wirklich“? Wir Menschen sind auf eine „Wirklichkeit“ angewiesen. Da wir eine Haut haben, die uns zusammenhält; da wir ein Haus haben und die Vorstellung eines Gemeinwesens entwickeln, bilden wir gemeinsam eine Vorstellung von Wirklichkeit. Diese ist selbstverständlich eine Illusion, die nichts zu tun hat mit wirklichen Verhältnissen. Wenn sie einer Gehirnwäsche unterliegen, oder plötzlich irgend ein Absturz oder eine Katastrophe erfolgt, dann spürt man, wie diese „wirklichen Bilder“ erschüttert werden.

Jetzt gibt es also offenkundig viele Wirklichkeiten. Die subjektiven Wirklichkeiten haben ein anderes Aussehen, bilden andere Monster und Engel als die objektiven. Dieses Zusammenleben ist ein Art Konzert, das wir Wirklichkeit nennen. Ich hätte also keinerlei Schwierigkeiten, mit verschiedenen Wirklichkeiten umzugehen. Wenn ich mir also vorstelle, wie Steiner in der Adventszeit 1908 in Schweden einen Vortrag hält,[ix] dann folge ich zunächst diesem Vortrag und höre ihm heute zu. Das ist meine Umgangsform. Die Frage wäre dann, warum meine Neugier durch ihn so sehr angestachelt wird. Die Frage ist also nicht, ob er mich als Mathematiker überzeugt.

Der Gott Apoll ist aber sowohl der Gott der Musik als auch der Mathematik. Und er ist ein brutaler, erbarmungsloser Töter. Er tötet die elf Kinder der Niobe, oder wie viel es sind… Er ist aber auch ein Wahrsager, ein gnädiger Gott. Wir haben es also mit einer Vielfalt von Göttern zu tun, die in diesem einen Bild aufgehoben sind. Damit geht meines Erachtens Steiner um; Tarkowski auf seine Weise dann auch.

Gawan Fagard: Nun gibt es bei Tarkowski natürlich den Film. Das Dispositiv des Films hat ein Objektiv. Dadurch ergibt sich ein anderes Sehen; eine andere Form, die an bestimmte Gesetze gebunden ist.

Alexander Kluge: Es gibt aber keinen Film, der nicht außerhalb der Kadrierung wiederum etwas hat. An der Schnittstelle des Films, wo die eine Einstellung der anderen begegnet, setzt die Montage ein.

Gawan Fagard: Wie ließe sich das Verhältnis des nur Sichtbaren zu einem übersinnlich Unsichtbaren im kinematographischen Medium denken? Die Aufzeichnung der Kamera scheint vielleicht einem spirituellen oder übersinnlichen Sehen entgegen zu stehen.

Alexander Kluge: Ich bin mir nicht sicher. Sie sprachen ja eben von der Wirklichkeit. Die ist sozusagen die Konvention unserer Sinne, die wir durch die Sinne anderer Menschen auf das adaptieren, was wir glauben zu sehen oder zu hören; die wir eben als Außenhaut unserer Erfahrung benutzen. Es ist meines Erachtens so: Die Kamera verfügt hier über ein sogenanntes „optisches Unbewusstes“. Das ist ein Ausdruck von Walter Benjamin. Die Kamera nimmt etwas auf, was gegen den Gewohnheitsblick geht. Wir sind erstaunt, was wir sehen. Die Kamera hat sozusagen unsere Aufmerksamkeitsstruktur unterlaufen. Das ist die eine Seite.

Die zweite Seite ist, dass gewissermaßen ein Film an der Montagestelle ein drittes Bild erzeugt. Sie sehen etwas, das beeindruckt, und während noch der Eindruck läuft, entsteht ein anderes Bild. Dieses ist kontrastiv. In der Lücke, wo nichts ist, wo sozusagen nur der Widerspruch zwischen zwei Einstellungen existiert, da entsteht in der Vorstellung des Zuschauers ein drittes Bild. Das nennt man Epiphanie. Diese Epiphanie ist die Grundform des Ahnungsvermögens. Jeder Esoteriker weiß, dass die Epiphanie erlaubt, durch die Dinge hindurch sehen zu können. Das ist das, was der weise Mann tut, was er kann. Was übrigens jedermann kann. Kinder können es besonders gut. Kinder unter drei Jahren, nach Steiner, haben ein natürliches Verhältnis zur Epiphanie, zum Ahnungsvermögen. Die Poeten reaktivieren als Erwachsene diesen Blick.

Gawan Fagard: Das hat Tarkowski wohl auch gemeint wenn er sagte, die Kinder verstehen am besten meine Filme.

Alexander Kluge: Ja.

Gawan Fagard: In dem mit Tarkowski geplanten Projekt hatten Sie die Figur eines Landvermessers berücksichtigt, sicher ein ganz deutlicher Hinweis auf Kafka. Daneben gibt es aber auch den Garten, der sich einer Überlieferung nach im Hindukusch befand und den keiner je betrat. Der Garten und die imaginäre Geographie spielen auch eine ganz wichtige Rolle in Ihrem Gesamtwerk.

Alexander Kluge: Es gibt ja diesen Garten wirklich – oder die Möglichkeit des Gartens. Britische und russische Geographen hatten in der spannungsgeladenen Zeit des Krimkrieges in Afghanistan Landvermessung betrieben. Sie legten einen langen Streifen zwischen Russland und Indien, in dem man im Grunde nicht angreifen durfte. Dieses Land ist von Menschen fast unbetreten. Es ist selbst jetzt vom Bürgerkrieg und der Okkupation nicht betroffen. Davon handelt die Geschichte. Sie spielt an einem Ort, der von Menschen nicht „entweiht“ wurde. Dieser Ort ist noch die Natur. Viel Natur gibt es nicht auf der Welt.

Der zweite Punkt ist, dass man einen völlig unbekannten Ort auch als hortus conclusus verstehen kann; als einen geschlossenen Garten. Den würde man dort suchen können. Jetzt muss man aber einen Moment lang überlegen was Garten eigentlich heißt. Paradies heißt ja auf Persisch „Garten“. Das ist ein Garten Eden, wie er im Alten Testament beschrieben wird. Auf der einen Seite gibt es Wüste, die vom Planeten selbst erzeugt wird. Wenn es trocken ist, gibt es Wüste und es ist dann immer zu viel Sand und zu wenig Leben (obwohl viel Leben in der Wüste ist, man soll das nicht unterschätzen). Aber es ist auf jeden Fall nichts für Menschen auf Dauer.

Auf der anderen Seite gibt es den Dschungel. Da ist zu viel an Pflanzen, eine Fülle von Natur die gewalttätig ist. Dazwischen liegt aber noch der Acker. Der Acker ist fast nur nützlich und muss potenziert und gegen den Nachbarn abgegrenzt werden. Er ist störend für das Gemeinwesen, er ist gleichgemacht und er erodiert den Boden. Der Acker ist auch nicht das Schönste, wenn es auch das Nützlichste ist. Die gesamte landwirtschaftliche Revolution, von vor zehntausend Jahren bis heute, das ist der Acker.

Jetzt gibt es noch etwas ganz anderes. Das wäre dann der Garten. Der Garten entnimmt der Wüste etwas, profitiert mitunter vom Nutzen des Ackers und bändigt den Überfluss des Dschungels. Der Garten ist luxuriös. Im Central Park in New York zum Beispiel könnten Sie kein Büro aufmachen. Die Englischen Gärten stellen im Grunde die largesse, die Großzügigkeit dar. Das einzige was der Adel je Positives hervorgebracht hat. Dieser Aspekt des Gartens hat noch mal eine Struktur, an der Tarkowski und ich extrem interessiert sind. Der Garten der mittelalterlichen Klöster, im 12. Jahrhundert meinetwegen, das ist die Bildung überhaupt; eine Art Transferstelle, wo die Antike in der Barbarei ihre Stellung hält und von der Europa gelernt hat. Die Mönche pflegten den hortus conclusus, den geschlossenen Garten oder den Mariengarten, wo man nur solche Pflanzen hegte, die sozusagen nach Merkur, oder nach wem auch immer – nach im Grunde esoterischer Tradition – Heilung bringen konnten. Das sind Pflanzen, die der Jungfrau entsprechen, die auf der Mondsichel sitzt. Das ist entweder Diana oder die Mutter Maria. Wahrscheinlich beide. Das sind nicht alle beliebigen Pflanzen; keinesfalls eine Tulpe, sondern harmlose Pflanzen, Geheimpflanzen.

All das gehört zum hortus conclusus als einem umschlossenen Garten. Der Garten ist eigentlich der Kern der Bildung, der Kern dessen, was wir in uns tragen, was wir gemeinsam haben.

Abb. 2: Andrei Tarkowski, (Polaroid), 1984.

Abb. 2: Andrei Tarkowski, (Polaroid), 1984.

Gawan Fagard: Deswegen gibt es da auch Bücher.

Alexander Kluge: Absolut! Ein Buch ist ein Garten. In der Arche Noah waren eben nicht Tiere, sondern die Arche war eine Truhe mit Büchern und die kam an am Berg Ararat. Daher ist sie als eine Botschaft erhalten geblieben. Davon handelt auch Steiner, danach sucht er. Und so auch Tarkowski. Diese Botschaft findet man unter Umständen in Dingen, in Quellen, in Brunnen, nicht notwendigerweise in Büchern. Der spiegelnde Brunnen bei Neapel ist ein solches Buch. Was wir herumtragen seit vielen Millionen Jahren und wie wir unsere sechzehn Vorfahren mit uns herumtragen, das ist auch ein Buch: das genetische Buch. Ein sehr interessantes, wo lauter Mönche, die nicht sichtbar sind, Texte schreiben, kleine Veränderungen anbringen, über die Generationen hinweg. Das ist die Evolution.

Gawan Fagard: Dann gibt es noch die Sterne…

Alexander Kluge: …und die arbeiten. Die Sterne sind genau so lebendig wie wir. Stellen wir uns vor, was ein blauer Riesenstern wie der Sirius ist. Generös verströmt er sich in Millionen Jahren. Ein ganz kurzes Leben – und doch ganz riesenhaft. Nachdem er sich in einer Explosion verstreut hat, sammelt sich das Zerstreute neu und drei Sonnen gehen unter. Dann entsteht die Materie, aus der wir gebaut sind. Das ist schon eine ganz schöne Verklärung der Natur.

Man muss das vergleichen mit der Überlieferung, dass aus Ägypten ein Volk ausgewandert sei. Es wurden Steine im Boden gesetzt, damit man zurückfinden konnte und man außerdem auch wissen konnte, wo sich die Brunnen befinden. Diese Steine wandern dann bis nach Prag und daraus wird der Golem gemacht, 1348, als die Judenschlacht die Juden ausliefert. Dann sind die Steine also schon da und man kann einen Golem daraus machen. Das sind alles Wirklichkeiten!

Gawan Fagard: Aus dem kosmischen Gedächtnis.

Alexander Kluge: Es sind Überlieferungen, und ich habe jetzt extra mal von den Sternen bis zu einem Stein und bis zu einer Judenschlacht in Prag gesprochen – in Prag, wo jetzt auch ein Astronom sitzt und die Sterne schon wieder betrachtet. Das heißt, diese Sterne sind wirklicher als alles was wir sind. Das könnte man schon so behaupten. Tarkowski würde das wahrscheinlich nicht viel anders erzählen.

Gawan Fagard: Vielleicht können wir hier noch einmal einen Schritt zurück zum Garten gehen. Gibt es einen Unterschied zwischen dem normalen Garten, den Sie hortus conclusus nannten, und der Idylle, die im Griechischen als eidolon, also als ein „kleines Bild“ bezeichnet wird?

Alexander Kluge: Ich glaube, dass ein hortus conclusus nicht ein normaler Garten ist. Er ist als geschlossener Garten das Konzentrat der Idee des Gartens. Er hat eine ganze Menge seelischer Eigenschaften erhalten während er gestaltet wurde. Schloss Elmau oder der englische Garten sind so nicht ganz identisch. Klein sind diese hortus conclusus-Anlagen nicht, da sie ja untereinander verbunden sind. Stellen Sie sich nur 7000 Klöster vor, und unterirdisch fließt ein Strom. Dann haben Sie noch die Texte und auf der Rückseite des heiligen Testaments ist der Text Ovids, den derselbe Mönch schreibt. Also klein sind diese Bilder nicht.

Abb. 3: Unbekannter Deutscher Meister aus Westphalen, Jungfrau mit Kind im Hortus Conclusus, ca. 1410, Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza.

Abb. 3: Unbekannter Deutscher Meister aus Westphalen, Jungfrau mit Kind
im Hortus Conclusus, ca. 1410, Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza.

Vor allen Dingen: Was heißt „klein“? In YouTube sind Bilder von Minutenlänge enthalten, die mich sehr entzücken und die ich für Nachbilder der Minutenfilme um 1902 halte. Die Filmgeschichte kehrt so auf YouTube wieder. Wenn ich aber diese Bilder auf meinem Laptop mit unter die Bettdecke nehme, dann betrachte ich eigentlich ein briefmarkengroßes Bild, aber ich mache das Bild dennoch groß.

Deswegen haben wir in Venedig zum Beispiel Minutenfilme auf 65-mm vorgeführt. Zu Ehren von YouTube. Nach der Filmgeschichte ist es nun möglich, auch unter den vielen YouTube-Bildern einige wenige Glücksfunde zu machen. Auf dem Festival, wo sie hin gehören, werden sie einmalig große Bilder. Mit einem handtellergroßen Negativ. Das würde Tarkowski gefallen. Und wenn sie dann die Kerze auspusten in einem der Filme, dann ist der Docht, der nachglüht, mannsgroß. Und es ist keine Frage, ob dann der Beifall kommt – natürlich kommt Beifall, aber es ist auch wichtig, dass man so etwas kleines, ein eidolon, wie einen verglühenden Docht real in die Filmgeschichte einbringt. Insofern ist „klein“ und „groß“ eine Sache, die man unter dem Gesichtspunkt der Potenz sehen muss. Dieses Kleine kann ich mir groß vorstellen. Und das große Propagandabild eines Reichsparteitags ist nachträglich betrachtet so klein mit Hut.

Wenn wir von Garten sprechen, dann müssten wir auch vom Brunnen sprechen. Der Garten ist horizontal. Der Brunnen ist tief – tief, wie ein Bergwerk. Brunnen ist der Ausdruck Tarkowskis: „Brunnen der Götter“.

Abb. 4: Andrei Tarkowski, Stalker (Filmstill), 1979.

Abb. 4: Andrei Tarkowski, Stalker (Filmstill), 1979.

Gawan Fagard: Das hat er gesagt?

Alexander Kluge: Ja, das hat er gesagt. Das war es, nachdem wir forschen sollten. Solch ein Brunnen sieht nicht aus wie irgendeine Wasserstelle, wo ich mit einem Eimer Wasser schöpfe, sondern es ist der Spiegel, das Spiegelbild, das ist die Tiefe, das ist die Dunkelheit des Brunnens; und es ist die Erwartung, dass da ganz unten nicht nur eine Kröte sitzt. Es existieren dort Brunnenschätze und Durchgänge zu einer anderen Wirklichkeit. Wenn sie nicht glauben, dass das möglich ist, dann können sie mit Tarkowski nicht kommunizieren. Das setzt er voraus. Wenn ich mir vornehme, wie ein Naturwissenschaftler zu denken, wäre es doch dogmatisch zu sagen, „Das kann es nicht geben. Das kann er nämlich nicht wissen.“

Gawan Fagard: Da wir jetzt von den Naturwissenschaften reden, möchte ich noch einmal auf die Sterne zurückkommen – das kosmische Kino, wie Sie es in Ihren Geschichten vom Kino erwähnen.

Alexander Kluge: Das ist ja eine Tatsache. Felix Eberty, ein österreichischer Jurist, hatte einen sehr naheliegenden Gedanken.[x] Wenn das, was auf der Erde geschieht, als Licht abstrahlt, dann müsste es auf einem Nachbargestirn möglich sein, dieses Licht zu sammeln. Wenn zum Beispiel eine Photoemulsion in Form eines Planeten dort existiert, dann könnte das gefilmt werden. Dann könnte man, falls man diese Strahlung wieder zurückbekommt, zum Beispiel den Untergang der französischen Flotte vor Abukir erneut sehen. Einstein hat das sehr ernst genommen. Diesen Grundgedanken fand er sehr faszinierend und auch überzeugend. Er zagte lediglich mit dem Gedanken, dass man das Licht auch wieder zurückbekäme. Es ist unmöglich, dass wir in irgendeiner Zeit die Ereignisse zurückholen können und auf diese Weise sozusagen, wenigstens in der Betrachtung, in der Zeit reisen könnten. Diese Vorstellung ist aber nicht ganz stimmig. Wir wissen heute, dass die dunkle Energie eine negative Bewegung hat und sehr wohl in der Lage wäre, gegen die Schwerkraft gerichtet zu sein, ohne die Lichtgeschwindigkeit zu verletzen und die Dinge wieder zurückzubringen.

Gawan Fagard: Es sind also nicht die Dinge, die zurückgebracht werden sollen, sondern die Abbildungen.

Alexander Kluge: Ja. Die aufgenommenen Abbildungen hätten Eberty und auch durchaus meiner Neugierde gereicht. Das wäre ein universaler Film, eine ubiquitäre Präsenz, etwas was wirklich die Idee des Films potenziert.

Es gibt so ein paar Dinge, die ich Tarkowski noch gerne erzählt hätte: In 1,5 Millionen Kilometern hinter unserem Erdball gibt es einen Lagrange-Punkt, wo sich die Kräfte des Mondes, der Sonne und der Erde genau aufheben, sodass ein Himmelskörper oder ein Gegenstand genau stehenbleibt. So ziehen wir hinter uns her ein Fernrohr. Es handelt sich um eine Art Infrarot-Fernrohr, das extrem gekühlt sein muss, da es sich sonst selbst filmen und immer nur sich selbst sehen würde. Es müsste also kühler sein als die Hintergrundstrahlung von drei Grad Kelvin, die im Weltall die kältesten Punkte bildet. Das ist die Lebenszeit, dieses Gerät. Nur zwanzig Minuten am Tag innerhalb von 24 Stunden kann man den Kontakt damit aufnehmen. Es gibt gewisse Agenten dieses Geräts, also Physiker, die diese zwanzig Minuten nutzen, um das Ding wieder in Gang zu bringen. Denn das stockt manchmal – die Computer müssen resettet werden.[xi]

Das Zentrum unserer Galaxie, um die wir in 125 Jahren kreisen mit unserem Sonnensystem können wir optisch ja nicht sehen, aber mit Infrarot schon. Mit dem Gerät können Sie es sehen, es ist also imaginär. Da ist ein Auge, das anderes sieht als unsere Augen.

Unsere Augen würden Infrarot gar nicht erst wahrnehmen. Ein Mausauge würde etwas sehen, aber nicht in 1,5 Millionen Kilometer hinter uns herlaufend. Und dieses eigenartige Gerät, mit dem wir sozusagen elektronisch kommunizieren, verbindet uns mit Sternen, die wir sonst nicht sehen könnten – und so mit der ganzen weiten Welt des Infrarots.

Gawan Fagard: Das geht vorbei an aller Optik.

Alexander Kluge: Das geht über alle Teleskope hinaus. Vor allem deswegen, weil es was ganz anderes sieht.

Gawan Fagard: Genau, das ist eine andere Sehform.

Alexander Kluge: Und das ist dann wie das Auge unseres Planeten, der ja sozusagen selber ganz blind ist. Der ist schön, aber er ist eigentlich seiner Umgebung unkundig.

Gawan Fagard: Deswegen braucht man dafür den Menschen und das Kino.

Alexander Kluge: Diese Art von Kino kommt der Theorie von Eberty nicht nahe. Das ist ein ganz anderes Konzept, aber es bereichert es. Jetzt würden wir schon zwei Augen haben. Vom Eberty-Auge und davon, die dunkle Energie lesen können, die circa 70% der Substanz im Weltall ausmacht, hat zu Steiners Zeiten ja keiner gewusst. Die Vorstellung einer „dunklen Materie“, die vermutlich 30% davon ausmacht, und das x-Feld hätte Steiner mit dem „Äther“ benannt. Das impliziert, dass alles in einem Bett liegt und gehalten wird, als wäre es Gottes Hand. 70% bleiben da noch übrig als dunkle Energie, die die Galaxie vor sich hertreibt und in Gegenbewegung zur Gravitation läuft. Es wäre interessant, den Eberty zu rehabilitieren und Tarkowskis ahnungsvollen, neugierigen Instinkt zu reaktivieren.

Abb. 5: Rudolf Steiner, Die Bildung des menschlichen Ätherleibes aus dem Kosmos (Wandtafelzeichnung), aus GA 212, Vortrag vom 26.5.1922.

Abb. 5: Rudolf Steiner, Die Bildung des menschlichen Ätherleibes aus dem Kosmos (Wandtafelzeichnung), aus GA 212, Vortrag vom 26.5.1922.

Gawan Fagard: In Solaris gibt es ja den Gedanken, dass, wie weit man auch reist im All, man immer wieder auf einen Spiegel stößt, mit seinem eigenen Selbst und seinem eigenen Bewusstsein konfrontiert wird. Und wie dieses Bewusstsein möglicherweise erweitert wird, wenn die Liebe dazu kommt. Die Hauptperson Kelvin muss sich mit ihrer unbewussten und unverarbeiteten Liebesgeschichte auseinandersetzen.

Alexander Kluge: Und er bringt seine Geliebte, wenn er sie nicht haben will, in die Umlaufbahn. Das heißt – das finde ich so phantastisch – dass Tarkowski einen fast zynischen und grotesken Blick (der zu Rabelais passt) gleichzeitig mit einer lebendig planetarischen Perspektive kombiniert. Steiner sagt ja: Unsere Erde war früher einmal ein Lebewesen und ist jetzt allmählich erkaltet. Das hätten wir versucht, darzustellen.

Nach meiner Methode kann man das immer nur indirekt darstellen. Da würde er mit mir übereinstimmen. Er würde schon erstmal versuchen ob man, wenn man lang genug wartet, es doch aufnehmen kann. Er ist handgreiflicher, direkter. Er ist ein ganz klein bisschen gewalttätiger, als es meinem Temperament entspricht.


Toni Hildebrandt studierte Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar, der Universität Rom „La Sapienza“ und am „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ in Neapel. Er war von 2010 bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am NFS Bildkritik „eikones“ und ist im akademischen Jahr 2013/2014 Resident Fellow am Istituto Svizzero in Rom.

[1] Die Fortsetzung dieses Gesprächs folgt in einem zweiten Teil in der Ausgabe Nummer 7 von all-over im Herbst 2014.
[2] Alexander Kluge, Die Brunnen der Götter. Akasha-Filmprojekt mit Andrej Tarkowski, in: Ders., Chronik der Gefühle, Bd. 2., Frankfurt am Main 2004, S. 472 – 478, hier S. 472.
[3] Kluge 2004, S. 473.
[4] Herbert Holl, ‚[…] lang ist die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre’: Ereignisgewässer in Alexander Kluges ‚Heidegger auf der Krim’, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung: Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 269 – 294, hier 270 f.
[5] Kluge 2004, S. 477.
[6] Ebd.
[7] The Fountains of Gods (Arbeitstitel), ein Film von Jake Zervudachi, Pieter-Jan De Pue und Daria Belova mit Drehbuch von Gawan Fagard, Produktion Peter Krüger, Inti Films, Brüssel (in Vorbereitung).
[8] Vgl. Homer, Odysseus, 11. Buch, 90 – 118. Der „Eingang zur Unterwelt“, auf den Kluge hier anspielt, könnte auch verbunden werden mit Vergils Aeneas, wo die Hauptfigur den Eingang zur Hölle in Cunae, etwas westlich von Neapel findet. Vgl. Vergil, Aeneas, 6. Buch.
[9] Rudolf Steiner hielt nicht in der Adventszeit, sondern bereits im Februar 1908 eine Reihe von Vorträgen in Malmö, Uppsala und Stockholm.
[10] Anonym [Felix Eberty], Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit, Breslau 1846. Für die Neuausgabe verfasste Albert Einstein ein Geleitwort, vgl. Felix Eberty/Albert Einstein/Gregorius Itelson, Die Gestirne und die Weltgeschichte. Gedanken über Zeit, Raum und Ewigkeit, Berlin 1923.
[11] Alexander Kluge redet hier über das sogenannte Herschel Space Observatory, ein im Jahr 2009 von der ESA entwickeltes Infrarotweltraumteleskop.

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Macht und Anerkennung

I.

Es ist offensichtlich, dass die wohlhabenden neuen Eliten Kunst und Kultur als identitätsstiftend entdeckt haben. Doch die Kunstszene muss überrascht feststellen, dass sich am Golf, in China oder Südamerika kaum jemand für ihr Bekenntnis zum Multikulturalismus, für Bürgerrechte und Toleranz interessiert. Die ehemaligen Peripherien halten sich als neuerdings einflussreiche Kunst-Akteure jedenfalls nicht damit auf.[1]

Die Kunstkritikerin Catrin Lorch stellt den identitätsstiftenden Charakter von Biennalen und Großausstellungen in nicht-westlichen Regionen anhand der Sharjah Biennale 2013 heraus. Die Ausstellungen entwickelten sich zu Image- und Lifestyleereignissen für wohlhabende BesucherInnen. Lorch kritisiert die Präsentation politischer Kunst in Kontexten, die diese zu Prestigeobjekten verklären. Hier stellt sich die Frage, welche Symbole sich auf solchen Großereignissen manifestieren: Transportieren sie kulturelles und symbolisches Kapital eines westlichen Anerkennungssystems?[2] Oder stehen die präsentierten Objekte in einem vom Westen unabhängigen Kapitalsystem?

Seit den späten 1980er Jahren ist die Teilhabe nicht-westlicher KünstlerInnen im Kunstausstellungskontext gestiegen.[3] Diese Entwicklung ist auf die durch die Globalisierung beförderte Zunahme von Biennalen und Großausstellungen zurückzuführen, die nicht-westliche KünstlerInnen integrieren und deren verhältnismäßig geringe Präsenz thematisieren, wie etwa die Ausstellung The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989 (17. September 2011 – 5. Februar 2012, ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe).[4]

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich das Interesse von KunsttheoretikerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen von der Möglichkeit, nicht-westliche Kunst sichtbar zu machen, hin zu den so genannten Gatekeeper-Positionen derjenigen, die über den Eintritt von KünstlerInnen in Kunstwelten entscheiden, richtet. Der Blick wendet sich dem Selektionsprozess zu, der auf der einen Seite nicht-westliche Kunst in temporären Ausstellungen und auf dem Kunstmarkt zulässt, auf der anderen Seite jedoch dieser Kunst den Weg in die Museumssammlungen erschwert.[5]

Anhand der Ausstellung The Global Contemporary wird untersucht, ob die zunehmende Sichtbarkeit nicht-westlicher KünstlerInnen im Ausstellungsbetrieb die Aufhebung der westlichen Dominanz bewirkt oder ob dadurch lediglich die Machtverhältnisse auf eine neue Ebene, nämlich auf jene der KuratorInnen, KunstkritikerInnen und MuseumsdirektorInnen, verschoben werden. Die Bedingungen, unter denen nicht-westliche KünstlerInnen in Ausstellungen integriert werden, werden im Folgenden herausgestellt, um herauszufinden, wer in den Kunstwelten tonangebend agiert. Dazu wird der Frage nachgegangen: Welche Rolle spielt die Kunstwelt, die nach Arthur Dantos Definition die KunstkritikerInnen, KunsthistorikerInnen, GaleristInnen, SammlerInnen und KuratorInnen eines westlichen Kunstsystems umfasst – jene AkteurInnen, die den Kunstdiskurs steuern und den Markt beeinflussen?[6]

Es gilt zu erläutern, inwiefern sich die Sichtbarkeit der nicht-westlichen KünstlerInnen erhöht hat, da sie bislang offenbar dennoch nicht hinreichend symbolisches Kapital erlangt haben, um Eingang in die Museumssammlungen und die westlich dominierte Kunstgeschichtsschreibung zu finden. Mit Augenmerk auf ihren transkulturellen Charakter wird das Verständnis zeitgenössischer Kunst untersucht und ihr Potenzial als Global Art zu agieren diskutiert.[7]

II.

Die Auswirkungen und Mechanismen der Globalisierung werden im Kunstfeld vor allem durch den postkolonialen Diskurs in neuer Weise aufgegriffen und diskutiert. Die Verhältnisse von Herrschenden und Beherrschten, von Zentrum und Peripherie veränderten sich nach dem Ende der Kolonisation. Manche KritikerInnen meinen, eine Wende hin zur Gleichberechtigung zu erkennen, andere sehen eine Stärkung der bestehenden und vom Westen dominierten Machtverhältnisse. In beiden Fällen werden die Kriterien von Macht und Herrschaft erneut diskutiert.

Im aktuellen Diskurs lassen sich insbesondere zwei Strömungen unterscheiden: die Imperialismustheorie und die Netzwerktheorie. Die VertreterInnen der Imperialismustheorie neigen zu der Annahme, die Globalisierung sei die Ausbreitung westlicher Interessen und im speziellen des liberalen, US-amerikanischen, kapitalistischen Wirtschaftssystems. Man geht von einem in Zentrum und Peripherie geteilten System aus, wobei das Zentrum durch den Westen besetzt ist und über die größere Macht verfügt.[8] Die AnhängerInnen der Netzwerktheorie dagegen verstehen die Globalisierung als ein Netzwerk, das einen gemeinsamen Hybrid hervorbringt. Interaktion und gleichwertiges Zusammenwirken verschiedener Kulturen werden hier betont. Beide Strömungen besitzen eine anfängliche Übereinstimmung. Sie gehen davon aus, dass sich seit dem Beginn des neuzeitlichen Kolonialismus westliche Machtstrukturen gefestigt haben und die westliche Kultur in die Welt exportiert wurde. Die Auswirkungen und Machtstrukturen sind für die AnhängerInnen der Imperialismustheorie noch immer aktuell. Die NetzwerktheoretikerInnen vertreten dagegen die Ansicht, der Westen habe in den letzten Jahrzehnten soweit an Macht verloren, dass es anderen Staaten möglich sei, Macht und dadurch auch Einfluss zu erlangen. So habe sich eine netzartige Interaktionsstruktur herausgebildet, in welcher alle TeilnehmerInnen eine gleichwertige Stellung einnehmen.[9] Im Gegensatz dazu sieht die Imperialismustheorie keine deutlichen Verschiebungen der Machtzentren, auch wenn voranschreitende geografische Veränderungen, wie etwa die weltweite Biennalisierung, im Kunstfeld zu erkennen sind. Die zunehmende Sichtbarkeit nicht-westlicher Kunst und KünstlerInnen bedeute nicht zwangsläufig auch eine Veränderung des Machtzentrums. Nach Bourdieus Feldtheorie, die im Sinne der Imperialismustheorie gelesen werden kann, kann eine Veränderung der Macht nur aus der Umverteilung von symbolischem Kapital resultieren. Da es nicht-westlichen KünstlerInnen jedoch nicht allein durch eine verstärkte Präsenz im Kunstfeld gelingt, mehr symbolisches Kapital zu gewinnen, können Bourdieu zufolge alte Machtstrukturen weitestgehend beibehalten werden.[10]

Eine Möglichkeit, die Sichtbarkeit von KünstlerInnen im internationalen Ausstellungsdiskurs zu messen, bietet die Plattform artfacts.net. Diese veröffentlicht jährliche Rankinglisten von KünstlerInnen in Abhängigkeit von ihrer internationalen Sichtbarkeit. Wird den Erhebungen von artfacts.net Glauben geschenkt, kann anhand der Top 100 Artists Rankinglist festgestellt werden, dass zunehmend nicht-westliche KünstlerInnen in Ausstellungen führender Museen und Ausstellungshäuser präsent sind.[11] Aber auch unter räumlichen Kriterien zeichnet sich eine Ausbreitung ab: Weltweit lässt sich eine anwachsende Zahl neuer Biennalen beobachten, auf denen zunehmend KünstlerInnen aller Nationen ausgestellt werden. Wird diese Entwicklung einer genaueren Betrachtung unterzogen, stellt sich die Frage: Wer stellt diese KünstlerInnen aus und unter welchen Bedingungen erhalten sie Anerkennung?

III.

Trotz den Bestrebungen, die stets vorhandenen dominanten westlichen Machstrukturen aufzulösen, sind die Mechanismen des Modernismus tief in den politischen wie kulturellen Strukturen verwurzelt. Auch wenn NetzwerktheoretikerInnen die Ansicht vertreten, die Globalisierung habe die Machtverhältnisse verändert, sind doch weiterhin Ungleichheiten zu finden. Die Kuratorin Maria Hlavajova beschreibt dies wie folgt:

Offensichtlich betrachtete der so genannte Westen den Zusammenbruch des Kommunismus als endgültigen Triumph der kapitalistischen Demokratie über ihren einzigen ernsthaften ideologischen Konkurrenten. In seiner Siegestrunkenheit hat dieser Westen die gewohnte Dreiteilung der Welt aus dem Kalten Krieg beibehalten. Er verhält sich auf symbolischer und realpolitischer Ebene weiter wie ein ‚erster’ unter drei doch angeblich gleichen Teilen der imaginär geeinten – gemeinsamen – Welt.[12]

Die Vormachtstellung äußere sich auch in der kuratorischen Praxis, die die Repräsentation nicht-westlicher Kulturen im Westen anstrebt, wobei die Definitionsmacht von Kunst und Anerkennung westlichen KuratorInnen vorbehalten bleibt. Diese Praxis wurde lange Zeit unreflektiert vollzogen. Seit geraumer Zeit jedoch scheint sich ein Wandel dahingehend abzuzeichnen, dass die eigene kuratorische Position stärker reflektiert wird.[13] Festzustellen ist, dass seit den 1970er Jahren der Kurator oder die Kuratorin den internationalen Kanon bedeutender mitbestimmt. ExpertInnen, wie etwa die Kunstwissenschaftlerin Beatrice von Bismarck und der Philosoph Oliver Marchart, beschreiben diese Entwicklung mit dem Verweis auf einen Wandel der kuratorischen Tätigkeit seit Harald Szeemann. Er deklarierte Ausstellungen als Gesamtkunstwerke und rückte die Subjektposition – den Status des Kurators oder der Kuratorin – in den Fokus einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dadurch konfrontierte er das Tätigkeitsfeld mit neuen Aufgaben. Auch im Sinne Bourdieus hat der Status des Kurators oder der Kuratorin seit den 1970er Jahren an symbolischem Kapital gewonnen. Der Handlungsrahmen hat sich von einer rein organisatorischen Tätigkeit hin zu einer bedeutungsstiftenden gewandelt und steht folglich in einem Spannungsverhältnis zur Position der Kunstschaffenden. Die AgentInnen des Kunst- und Kulturfeldes befinden sich also Bourdieu zufolge in einem permanenten Positionierungskampf. Sie seien stetig um die Gewinnung und Anhäufung von kulturellem und symbolischem Kapital bemüht. Die ständige Bewegung, das immerwährende Spiel bilde neue Handlungsräume heraus und fordere die Agenten zur Interaktion auf.[14] So waren es Künstler wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Lawrence Weiner, die in den 1970er Jahren begannen, die professionellen Rollen im Kunstbetrieb zu hinterfragen und die Grenzen der klassischen Aufgabenbereiche von KünstlerInnen als KunstproduzentInnen und jene der KritikerInnen, KuratorInnen und KunsthistorikerInnen als Kontextschaffende zu hinterfragen und neu zu denken. TheoretikerInnen wie Lucy R. Lippard, Seth Siegelaub oder auch Harald Szeemann arbeiteten ähnlich grenzüberschreitend, indem sie Ausstellungen mit künstlerischem Werkcharakter kuratierten. Die gegenseitige Annäherung beider Felder äußert sich in Bourdieus Feldtheorie als Wettstreit im Anspruch auf Autorschaft, Kreativität und symbolisches Kapital. Im aktuellen Diskurs erscheint dieser Kampf als hemmender Prozess – wenn sich KünstlerInnen und KuratorInnen mehr als KonkurrentInnen denn als MitstreiterInnen verstehen.

IV.

Die Ausstellung am ZKM wurde vom österreichischen Kunst- und Medientheoretiker und Direktor des ZKM, Peter Weibel, und der deutschen Kuratorin Andrea Buddensieg kuratiert und ging aus dem Forschungsprojekt Global Art and the Museum (GAM) hervor. GAM ist ein 2006 von Weibel und dem deutschen Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting initiiertes Projekt, das sich der Untersuchung und Dokumentation der umstrittenen Grenzen von Kunstwelten widmet. Die GAM Mitglieder verstehen „Kunstwelten“ im Unterschied zu Danto als mehrere Welten, die jeweils von ihrer regionalen Lage abhängig sind. Das übergeordnete Interesse des Projektes spiegelt sich in dem Bestreben wider, eine globale Kunstgeschichtsschreibung zu etablieren. In diesem Sinne wird eine Bestandsaufnahme der bestehenden Kunstinstitutionen und Produktionsstätten erhoben. Besonders wird der Einfluss der Globalisierung auf die Kunst, ihre Produktionsbedingungen, ihre Verbreitung und Präsenz untersucht, um die Entwicklung der letzen 20 Jahre herauszustellen. Im Mittelpunkt des Forschungsprojektes steht die Fragestellung, wie diese Reflexionen zur Globalisierung auf die Arbeitsweisen und Methoden der Präsentation von zeitgenössischer Kunst Einfluss nehmen können.[15]

Im Rahmen des GAM Projektes fand die Ausstellung The Global Contemporary statt. Mit künstlerischen Positionen und dokumentarischen Materialien wurde die Globalisierung einerseits hinsichtlich ihrer dominanten Marktmechanismen und andererseits betreffend ihrer Utopien der Vernetzung untersucht.[16] Der Ausstellungstitel bezieht sich auf das Jahr 1989 als Ausgangspunkt einer globalen Kunstbetrachtung und verweist auf Ereignisse wie die Vereinigung Deutschlands, das Ende des Kalten Krieges, den russischen Abzug aus Afghanistan oder die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Studentenbewegung. Zudem fand 1989 im Centre Pompidou die Ausstellung Magiciens de la terre statt, die als Schlüsselereignis im postkolonialen Ausstellungsdiskurs wahrgenommen wird. Seither, so der Tenor, würde weltweit das zeitgenössische Kunstsystem neu konfiguriert werden. Besonders deutlich zu erkennen sei dies sowohl an den vielen neuen Museumsbauten für zeitgenössische Kunst als auch an der steigenden Zahl der Biennalen.[17]

The Global Contemporary versuchte, die Grenzen eines Kunstbegriffs auszuloten, der lange Zeit so stark vom Westen geprägt wurde, dass er zur Eintrittsbarriere für nicht-westliche KünstlerInnen wurde. Auch teilte die Ausstellung die Kritik der Imperialismustheorie am Modernismus: Es wird davon ausgegangen, dass sich nicht-westliche KünstlerInnen entweder rigoros an den modernen Kunstbegriff anpassen oder die künstlerische Auseinandersetzung auf die eigene Tradition beschränken müssen, um als VertreterInnen einer bestimmten lokalen Kunst Eingang in westliche Kunstwelten zu finden. Die Ausstellung verwendete den Begriff der Global Art als Synonym für eine zeitgenössische Kunst, die sich mit globalen und postkolonialen Situationen auseinandersetzt und diese geschichtlichen Barrieren aufzuheben sucht.[18]

Positiv herauszuheben ist die offene und sehr kritische Einstellung der InitiatorInnen gegenüber dem, was heute als zeitgenössische Kunst verhandelt wird. Besonders wenn der Fokus auf die Ausstellungsformen gerichtet wird: Hier verbleiben die Untersuchungen nicht bei der Diskussion um die weltweite Biennalisierung als Zeichen für globale Kunstsysteme, sondern erforschen, wie es sich mit den Museen als deutlich stärkeren Gatekeeper-Institutionen verhält. Belting stellt die Hürden der permanenten Aufnahme von nicht-westlicher Kunst in westliche Kunstwelten und Museumssammlungen heraus, wenn er schreibt:

„The presence of non-Western contemporary art in biennials and private collections is not a clear indication of whether its institutionalization in permanent and public collections will follow or whether, on the contrary, the new art production will undermine the profile of the museum. In other parts of the world, art museums either lack any history or are suffering from the history of colonialization.“[19]

Eine mögliche Ursache für diese Barrieren ist die institutionelle Trägheit, die die Erweiterung und Neustrukturierung von Sammlungen erschwert und Museen nur eingeschränkt auf Wandlungen in zeitgenössischen Kunstfeldern reagieren lässt. Dies liegt nicht allein am Budget für Sammlungserweiterungen, sondern ist vielmehr Ausdruck von starrer Identitäts- und Profilpolitik, wodurch Ankäufe von zeitgenössischer nicht-westlicher Kunst verhindert werden. Im Gegensatz dazu greifen temporäre Kunstausstellungen, wie etwa die weltweiten Biennalen, Veränderungen leichter auf und zeigen regionale nicht-westliche Kunst. Diese schnelle Inklusion führt nicht zwangsläufig auch dazu, nicht-westliche Kunst auf lange Sicht in die Kunstwelten zu integrieren. Im Sinne Bourdieus können die KünstlerInnen mit diesen temporären Ausstellungen nicht ausreichend symbolisches Kapital erwerben, um die Schnelllebigkeit zu überstehen.

Das GAM Projekt stellt davon ausgehend die Frage, unter welchen Kategorien nicht-westliche KünstlerInnen verhandelt werden, die erst kürzlich Zugang zum Kunstmarkt gefunden haben. Belting zum Beispiel äußert sich deutlich zur aktuellen Situation von nicht-westlichen Künstlern im Kunstmarkt und hebt in seinem Artikel Contemporary Art and the Museum in the Global Age besonders die chinesischen Kunst-AkteurInnen hervor. Den Eintritt nicht-westlicher Kunst in den Kunstmarkt stellt er als bedeutendes Ereignis für alle Kunstwelten heraus:

„[N]ow newcomers from the former ,third’ world are taking the lead in the course of events. At least, nothing of similar importance in terms of its impact on the market is present in the West. Take only the Chinese invasion and its hot acclamation by Western collectors.“[20]

Die Frage, ob nicht-westliche Kunst den Schwankungen des Kunstmarktes widerstehen wird und Eingang in die Museen für zeitgenössische Kunst finden wird, bleibt letztlich jedoch unbeantwortet.

Weitere Kritik am GAM Projekt muss besonders auf den Ebenen der Zusammensetzung der InitiatorInnen geübt werden: Bestehend aus Peter Weibel, Hans Belting und Andrea Buddensieg, die alle westlich sozialisiert sind, wird erneut die Vormachtstellung des Westens auf der Leitungsebene deutlich. Auch die Untersuchung zu den 27 AutorInnen der Publikationen Contemporary Art and the Museum. A Global Perspective und Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, ergab, dass nur 11 von ihnen nicht-westlich sozialisiert und in nicht-westlichen Kontexten zu leben und zu arbeiten angeben.

Durch das Forschungsprojekt GAM und die Ausstellung The Global Contemporary wurde die Kritik an der Kunstgeschichtsschreibung, an der hegemonialen Stellung des Westens und an der modernen Museumsgeschichte erneut angegangen. Beide Unternehmungen eröffneten einen neuen Verhandlungsraum und damit einhergehend auch den Diskurs über neue Begriffe wie den der Global Art. Obwohl die inhaltliche Zielsetzung der Global Art eher als theoretische Definition funktioniert, als dass sie sich in der Praxis in den Kunstwelten tatsächlich durchgesetzt hätte, so öffnet der Begriff doch einen Spielraum für die Ausdifferenzierung der Kunstwelt in mehrere Welten. Gleichzeitig appelliert GAM an ein komplexes Verständnis zeitgenössischer globaler Kunst und daran, den aktuellen Paradigmenwechsel sorgsam nachzuvollziehen. Denn nur dadurch könnte der Impuls, die Kunstgeschichtsschreibung zu ändern, weitergeführt werden. Zukünftige Kunstgeschichte sollte weniger auf der Zentralstellung westlicher Entwicklungen und Perspektiven beharren, sondern im Gegenzug eine multiperspektivische und global orientierte Sichtweise zu eröffnen versuchen. Leider geriet bei dem Projekt die generelle Tatsache aus dem Fokus, dass auch die Korrekturen am stets modernistisch geprägten Kunstbegriff vom Westen angestrebt werden – etwa dann, wenn der Westen sein postkoloniales Verständnis durch großangelegte Ausstellungen und Forschungsprojekte in der Welt verbreitet.[21]

Positiv ist jedoch anzumerken, dass ein Ruf nach Veränderung hörbar wird: Es zeichnet sich ein deutliches Verlangen ab, nicht so weiterzumachen wie bisher – auch wenn noch nicht klar ersichtlich ist, wie die Praxis in der Zukunft aussehen soll. Es scheint die Zeit eines Paradigmenwechsels gekommen, in der die alte Form der Macht in Frage gestellt werden kann, ohne dass sich bereits eine neue Form der Macht oder des Machtgefüges abzeichnen muss. Die Zukunft erscheint als ein ungleich größeres Feld offener Handlungsmöglichkeiten, in dem dazu noch ein grundlegend neues Verständnis von Welt etabliert wird. Dazu bedarf es neuer Methoden, die sich nicht strikt aus einer westlichen Kunstgeschichte ableiten lassen. Vielmehr wird eine globale Kulturwissenschaft erforderlich, die Raum für globale Disziplinen und Werkzeuge schafft. Dies ist jedoch nicht einfach damit getan, mit Ausstellungsprojekten wie The Global Contemporary weitere Kapitel postkolonialer Geschichte zu schreiben, vielmehr gilt es die Bestrebung zu befeuern, die Kunstgeschichte der letzten Jahre neu zu untersuchen. Dies verlangt, die künstlerischen und theoretischen Ereignisse mit Hilfe globaler Methoden, die sich nicht der dominanten Linearität und der eurozentrischen Deutung unterwerfen lassen, neu zu lesen.


[1] Catrin Lorch, Blick von Süden durch die Weltkugel, in: Feuilleton Süddeutsche Zeitung, Nr. 64, 2013, S. 13.
[2] Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982, S. 150 – 161; 212 – 213; 365.
[3] „Westen“ meint hier Europa und die USA. Diese Definition fokussiert im Sinne Stuart Halls eine gesellschaftliche Konstruktion verbunden mit der geografischen Lage.
[4] Vgl. Monica Juneja, Global Art History and the „Burden of Representation“, in: Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, hg. v. Hans Belting et al., Ostfildern 2011, S. 274 – 275.
[5] Vgl. Yvette Mutumba, Die (Re-) Präsentation zeitgenössischer afrikanischer Kunst in Deutschland, Stuttgart 2008, S. 61 – 78.
[6] Vgl. Arthur Danto, The Artworld, in: Journal of Philosophy, Vol. 61, Nr. 19, 1964, S. 571 – 584.
[7] Vgl. Belting et al. 2011.
[8] Unter „Macht“ wird hier vor allem ein hohes Maß an kulturellem und symbolischem Kapital (Bourdieu) verstanden, welches es den InhaberInnen ermöglicht, Einfluss auszuüben, den Kanon zu stiften sowie In- und Exklusionsregeln aufzustellen.
[9] Vgl. Ulf Wuggenig, Das Empire, der Nordwesten und der Rest der Welt. Die „internationale zeitgenössische Kunst” im Zeitalter der Globalisierung, 2002. URL: http://www.republicart.net/disc/mundial/wuggenig02_de.htm [23.03.2013].
[10] Vgl. Bourdieu 1982.
[11] Etwa in der Tate Modern, London, dem Museum of Modern Art, New York, und dem Centre Pompidou, Paris. Vgl. URL: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/199561/umfrage/fuehrende-kunstmuseen-weltweit-nach-anzahl-der-besucher/ [12.08.2013].
[12] Maria Hlavajova, Former West, Ausstellungsbroschüre, HKW, Berlin 2013, S. 7.
[13] Vgl. Ausstellungsprojekte wie Former West am HKW, Berlin oder The Global Contemporary am ZKM, Karlsruhe.
[14] Vgl. Bourdieu 1982, S. 174 – 175; 212 – 213; 355 – 366.
[15] Vgl. Belting, et al. 2011.
[16] Vgl. ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. ebd.
[19] Hans Belting, Contemporary Art and the Museum in the Global Age, Ostfildern 2007, S. 16.
[20] Ebd., S. 21.
[21] Vgl. Anne Schreiber, The global Art World. Audiences, Markets, and Museums, 2009. URL: http://www.artnet.de/magazine/hans-belting-und-andrea-buddensieg-hg-the-global-art-world-audiences-markets-and-museums/ [24.03.2013].

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Zwischen Imagination und Geopolitik

Als Svetlana Alpers 1984 den „kartographischen Impuls“ in der Produktion von Bildern beschrieb, eröffnete sie einen Diskurs im Spannungsfeld zwischen Kartographie und Kunst, der weit über die von ihr in erster Linie untersuchte holländische Malerei des Goldenen Zeitalters hinausging.[1] Im Folgenden soll dieser Schnittstelle anhand von Max Ernsts 1933 entstandenem Werk Europa nach dem Regen (Abb. 1) nachgespürt werden.

Max Ernst, Europa nach dem Regen, 1933.

Abb. 1: Max Ernst, Europa nach dem Regen, 1933.

Hierbei handelt es sich um ein Gipsrelief, das eine Landkarte darstellt. Ernst bedient sich im Hinblick auf Farbgebung und Symbolik konventioneller kartographischer Zeichen, sodass eine klare begriffliche Abgrenzung zwischen den Medien „Bild“ und „Landkarte“ nur schwer möglich ist und vielmehr danach gefragt werden muss, inwiefern mithilfe kartographischen Vokabulars das vorliegende Werk sprachfähig wird.

Zu erkennen ist eine physische Landkarte, die beinahe an Satellitenbilder erinnert, weshalb es auf Anhieb recht leicht zu fallen scheint, die Karte zu lesen: Meere, Flüsse und Seen sind in Blau gehalten, wobei die verschiedenen Sättigungen Tiefenunterschiede des Wassers suggerieren, Gebirge und Wälder sind mit den aus Schulatlanten bekannten konventionellen Einfärbungen braun bzw. grün gekennzeichnet. Die überwiegende Farbigkeit ist in einem grau-beigen Farbton gehalten, was Rückschlüsse auf eine nicht sehr fruchtbare Landschaft zulässt.

Auf den Gewässern sind rote gestrichelte Linien zu sehen, die Schifffahrtsrouten sein könnten, sowie schwarze gestrichelte Linien auf dem Land, die den Symbolen für nationale Grenzen ähneln. Zudem lassen sich an einigen wenigen Stellen schwarze Kreise ausmachen, die auf Siedlungen oder Städte schließen lassen. Obwohl man beim flüchtigen Betrachten zunächst das Mittelmeer oder die dänische Halbinsel zu erkennen meint, ist die Darstellung an sich sehr befremdend. Weder die iberische Halbinsel noch Italien oder das französische Héxagone sind auszumachen. Zudem könnte man meinen, Europa sei an der Nord-Süd-Achse gespiegelt, sodass sich das Schwarze Meer nun im Westen befindet.

In der Sekundärliteratur, aber auch bereits von Zeitgenossen, wurde die veränderte Gestalt Europas zumeist auf den politischen Kontext der Zeit bezogen (das heißt vor allem auf die Machtergreifung Hitlers), sodass die Karte als Prophetie der Katastrophen des Zweiten Weltkrieges interpretiert wurde. Jedoch zeigt sich in einer präzisen Analyse von Europa nach dem Regen, dass eine Interpretation, die sich rein auf die Machtübernahme des nationalsozialistischen Regimes stützt, nicht überzeugend ist. Vielmehr erweist sich Ernsts Auseinandersetzung mit Kartographie als Bezugnahme auf geopolitische Diskurse der 1920er und frühen 1930er Jahre.

Gleichzeitig rekurriert Ernst mit seinem Werk auf kunsttheoretische und kunsthistorische sowie philosophische Positionen, die mit Rücksicht auf die Genese des Bildmotivs auf das Imaginationspotenzial der Landkarte verweisen. So beruft er sich beispielsweise auf Leonardo da Vincis Diktum der imaginationsstimulierenden Funktion von Mauern, zitiert die Metaphysischen Interieurs von Giorgio de Chirico und verweist gleichzeitig auf Friedrich Nietzsches nautische Metaphorik in der Fröhlichen Wissenschaft.

Bei dem Bildträger von Europa nach dem Regen handelt es sich um ein objet trouvé. Ernst hatte die mit Gips beworfene Sperrholzplatte am Set zu Luis Buñuels Film L’Age d’Or aus dem Jahr 1930 gefunden, in dem Ernst selber mitwirkte. Ursprünglich hatte die Platte dazu gedient, die Wände der zu Beginn des Films gezeigten Räuberhütte auszukleiden; Ernst aber sah in den Gipskonturen eine Landkarte und arbeitete diese heraus.

In dieser Hinsicht bezieht sich der Künstler auf eine weit zurückreichende Tradition in der Kunstgeschichte, die bereits vorhandene Elemente wie strukturierte Mauern oder Wolken als Inspirationsquelle für den Aufbau von Bildern nimmt. Als einer der bekanntesten Vertreter dieser Position in der westlichen Kunst seit der Frühen Neuzeit kann Leonardo gelten, auf den Ernst sich in seinem 1936 erschienenem Text Au-delà de la peinture auch selber bezieht. Retrospektiv bekennt er über den Fund der Sperrholzplatte:J’étais donc de nouveau devant le fameux mur de Léonard de Vinci qui a joué un si grand rôle dans mes ‘Visions de demi-sommeil’.“[2]

Das Medium der Landkarte nimmt eine zentrale Position in Ernsts Werk ein, deren Komplexität sich aus der Engführung mit mehreren Paradigmen ergibt. Mithilfe der Karte thematisiert Ernst seine eigenen kunsttheoretischen und -praktischen Überlegungen bezüglich des Ähnlichkeitssehens und konstruiert eine kunsthistorische und -philosophische Ahnenreihe, während er gleichzeitig einen Kommentar zu den geopolitischen Diskursen der Zeit abgibt und sich mit Exil und Emigration auseinandersetzt.

László Moholy-Nagy, Funkturm, Berlin, 1928.

Abb. 2: László Moholy-Nagy, Funkturm, Berlin, 1928.

Der verstärkte kartographische Impuls der Zwischenkriegszeit hing nicht nur mit propagandistischen Forderungen zur Erweiterung des Lebensraumes zusammen, sondern kann auch als Reaktion auf die Entwicklung der Luftfotografie gesehen werden, die eine Verschiebung der Perspektive mit sich zog, die sich als Aufstieg in die Vertikale manifestierte.[3] Während des Ersten Weltkrieges wurden Luftaufnahmen vor allem zu militärischen Zwecken verwendet, um über aktuelle Bilder des Geländes und der Schlachtfelder zu verfügen, nachdem konventionelle Landkarten in der durch Schützengräben und Materialschlachten völlig zerstörten Landschaft obsolet geworden waren.[4] Ebenso bedienten sich aber auch avantgardistische Künstler wie z.B. André Kertész oder László Moholy-Nagy der Luftfotografie. Das „Neue Sehen“, das die Vogelperspektive ermöglichte, ließ neuartige formale Relationen sichtbar werden (Abb. 2) und näherte die Luftaufnahmen der abstrakten Kunst an.

Man Ray, Elevage de poussière, 1920.

Abb. 3: Man Ray, Elevage de poussière, 1920.

Die Verfremdungseffekte, die durch diese Verschiebung des Augpunktes ausgelöst wurden, manifestieren sich besonders deutlich in der Staubzucht, Man Rays Fotografie von Marcel Duchamps La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Abb. 3). Die Nahaufnahme des Großen Glases lässt zunächst vermuten, dass es sich bei den Bleiruten um eine Industrie- oder Fabriklandschaft handelt.[5] Diese Unsicherheit in Bezug auf den Maßstab begegnet einem ebenso in Europa nach dem Regen.

Verrätselungen und Verfremdungseffekte bilden einen eminenten Teil von Ernsts Werk. Seine halbautomatisierten Techniken wie die Collage oder die Frottage reizen sowohl die Imaginationsräume des Künstlers wie auch jene der BetrachterInnen aus. Die auf Papier durchgeriebenen Strukturen der Fundstücke in dem Frottagewerk Histoire Naturelle aus 1926 regen die Phantasie des Gegenübers an, indem die „natürlichen“ Maßstäbe aus den Angeln gehoben werden: Eine Holzmaserung wird zum gefurchten Ackerboden, Baumrinden verwandeln sich in Pferde oder Nashörner und Blätter in Libellenflügel. Ralph Ubl erkennt in der Horizontalität des Entstehungsprozesses eine neue Ästhetik der (Ober-)Fläche, die sich auch in Ernsts „topographischem“ Gipsrelief niederschlägt.[6]

Die enge Verknüpfung zwischen Europa nach dem Regen und der Histoire Naturelle legt nahe, dass dieser Regen nicht als zerstörerische Macht zu verstehen ist, sondern eher tiefgreifende Veränderungen bezeichnet. Regen steht bei Ernst demnach nicht so sehr in einem apokalyptischen Zusammenhang denn in Verbindung mit der Umwälzung von Sehgewohnheiten. In seinen Autobiographischen Notizen weist er explizit darauf hin, dass sowohl die Visionen, die er 1919 durch die Entdeckung des Kölner Lehrmittelkatalogs erfuhr, als auch jene, die 1925 zur Entwicklung der Frottage führten, an einem regnerischen Tag stattfanden („par un temps de pluie“, „un jour de pluie“)[7]. Passend dazu ist auch das erste Blatt aus der Histoire Naturelle mit La mer et la pluie übertitelt. Die repetitive Verknüpfung von Regen und Imagination sowie die Tatsache, dass Ernst das Wasser- beziehungsweise Regenmotiv immer wieder aufgreift, führen dazu, dass auch Europa nach dem Regen in Zusammenhang mit dieser Thematik steht.[8]

In seinen Schriften entwickelte Ernst eine ganze Rhetorik des Ähnlichkeitssehens, in der er sich vor allem auf Leonardo bezog. In diesem Sinne begreift er sein eigenes künstlerisches Verfahren als eine „mise en pratique[9], ausgehend von Leonardos Anekdote, in der er seinen Schülern rät, Mauerstrukturen oder Wolken als Ausgangspunkt für ihren Bildaufbau zu Hilfe zu nehmen. Bezogen auf das Gipsrelief bedeutet dies, dass das objet trouvé als Grundlage für die imaginative Praxis des Künstlers dient.

Bezeichnend ist, dass Ernst ganz explizit dem Ähnlichkeitssehen in Europa nach dem Regen „nachhilft“, da er in weiten Teilen in die ursprüngliche Gestalt des Reliefs eingegriffen hat. Die scharf geschnittenen Kanten der Küstenlinien lassen darauf schließen, dass er die Konturen mit einem Messer begradigt hat.[10] Wider Erwarten verfährt Ernst bei dieser Prozedur jedoch nicht vollständig konturengetreu: Bei der „Ausmalung“ der von ihm zugeschnittenen Gipsstrukturen respektiert er zum Teil die „Küstenlinien“ nicht, sodass sich das Land auch bis in die (eigentlich den Gewässern vorbestimmte) Tiefebene erstreckt.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ernst das Gipsrelief ganz dezidiert veränderte, ist es wahrscheinlich, dass er sich des imaginativen Potenzials von Landkarten durchaus bewusst war. Jedoch lassen sich vermeintlich hervortretende figürliche Formationen nur sehr schwer und unter Vorbehalt ausdeuten, sodass die schrundige Oberflächengestaltung gerade aus ihrer Ambivalenz zu schöpfen scheint. Ubl zieht daraus den Schluss, dass Ernst hier „das Ähnlichkeitssehen einer reflexiven Negation [unterwerfe]“[11]. Gerade aufgrund der Tatsache, dass sich in Europa nach dem Regen keinerlei figürliche Darstellungen zu erkennen gäben, würde Ernst in dieser Verweigerung der Imagination eine neue aisthetische Praxis kreieren, die über die von den Surrealisten propagierte revolutionäre Kraft des „Ähnlichkeitssehens“ hinausginge.

Anonym, Surrealistische Weltkarte, veröffentlicht in Variétés. Le Surréalisme en 1929.

Abb. 4: Anonym, Surrealistische Weltkarte, veröffentlicht in Variétés. Le Surréalisme en 1929.

Insbesondere in ihrer Funktion als imaginationsevozierendes Medium führte die Kartographie bei den Surrealisten zu einer starken Auseinandersetzung, da Landkarten für sie die Überschreitung tatsächlicher geographischer Grenzen bedeuteten, aber auch die Transgression ästhetischer und geistiger Schranken symbolisierten.[12] Das ausgeprägte Interesse an der Psychoanalyse sowie an automatisierten schöpferischen Verfahren wie der écriture automatique, die Ernst in Form von Collage und Frottage für die bildende Kunst produktiv gemacht hatte, demonstrieren das radikale Bedürfnis, normative Sehgewohnheiten und gesellschaftliche Direktiven aufzubrechen. Die Surrealistische Weltkarte (Abb. 4), die 1929 in der belgischen Revue Variétés erschien, kann als paradigmatisch für diese Verschiebung gesehen werden: Die eurozentrierte Kartographie wird dekonstruiert, indem der pazifische Ozean ins Zentrum des Bildes rückt und die Proportionen der Länder und Inseln je nach künstlerischer Relevanz dieser Regionen für die Surrealisten alterieren. Die Landkarte spielt mit den Größenverhältnissen und den konventionellen Techniken der kartographischen Repräsentation (wie zum Beispiel der winkeltreuen Mercator-Projektion) und könnte in dieser Hinsicht eine Stellungnahme zu beziehungsweise eine Offenlegung der konstruierten Natur von Weltbildern sein, die immer nur eine von vielen möglichen Weltsichten zulassen.

Abb. 5: Herman Sörgel, Illustration des Atlantropa-Projekts.

Abb. 5: Herman Sörgel, Illustration des Atlantropa-Projekts.

Neben ästhetischen Grenzüberschreitungen spielten jedoch auch tatsächliche geographische und geopolitische Diskurse eine Rolle, die sich mit der Erweiterung des Lebensraumes und der „Natürlichkeit“ nationaler Grenzen befassten. Die im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen des Deutschen Reiches wurden von dem Geographen Karl Haushofer als „ungeheuerlicher Raub“ und „Verstümmelung des eigenen Volksbodens“[13] empfunden. Gewann diese Form der geopolitischen Propaganda vor allem in den 1930er-Jahren an Schärfe, so imaginierte der deutsche Architekt Herman Sörgel eine pazifistisch angedachte Expansion der europäischen Grenzen. Unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sah er mit seinem realutopischen Projekt Atlantropa (Abb. 5) fundamentale Eingriffe in der europäischen Topographie vor und versprach sich hiervon eine umfassende Neuausrichtung der Wirtschaft und Industrie Europas gen Afrika sowie eine Erweiterung des europäischen ‚Lebensraumes‘. Sein Hauptanliegen war hierbei die Senkung des Mittelmeerspiegels, die einerseits kultivier- beziehungsweise bebaubares Neuland schaffen und andererseits beide Kontinente einander annähern sollte, um die von Afrika nach Europa laufende Rohstoff- und Energieversorgung so effizient wie möglich zu gestalten.[14]

Die ähnliche Motivik der Atlantropa-Illustrationen und Europa nach dem Regen legt nahe, dass Ernst diese Debatten bekannt waren, jedoch überwiegen die kunsttheoretischen beziehungsweise kunsthistorischen Bezugnahmen. Die veränderte europäische Landschaft kann somit eher als Verwirklichung des surrealistischen dépaysements gelesen werden, welches die aktive Suche nach Entfremdung und Entwurzelung bezeichnet und sich zugleich auf ästhetischer und geistiger Ebene manifestiert. Zudem erfährt Max Ernst diese Entwurzelung aber auch am eigenen Leib in Form der Emigration beziehungsweise des Exils.[15]

Abb. 6: Giorgio di Chirico, Mélancolie du départ, 1916

Abb. 6: Giorgio di Chirico, Mélancolie du départ, 1916

In dieser Hinsicht bilden die prominent auf der Karte verzeichneten Schifffahrtsrouten eine wichtige Referenz: Ernst bezieht sich hier auf Giorgio de Chiricos metaphysische Interieurs, die während des Ersten Weltkrieges entstanden. In dem Bild Mélancolie du départ (Abb. 6) malt de Chirico ebenfalls eine Landkarte mit gestrichelten Schiffswegen. Beide Künstler können aufgrund ihrer bewegten Biographien als Entwurzelte begriffen werden, wodurch die iterierenden Schiffswege zur Versinnbildlichung von Heimatlosigkeit werden. Das dépaysement wird dabei als Transgression bisheriger ästhetischer Normen empfunden.[16]

In dieser Hinsicht scheint Max Ernst Bezug auf Friedrich Nietzsche zu nehmen, der in seiner Fröhlichen Wissenschaft mithilfe von nautischer Metaphorik eine Loslösung von alten Denkmustern fordert: Die Schifffahrt bedeutet für ihn die Manifestation eines befreienden und die „Freiheit [wahrenden Denkens]“[17]. Es ist demnach gerade die Reise, die von Bedeutung ist; und nicht die Her- beziehungsweise die Ankunft.

In Europa nach dem Regen hat Max Ernst das Oszillieren zwischen Imagination und politischer Wirklichkeit, zwischen Eindeutigkeit und Polyvalenz auf komplexe Weise verbunden. Das stetige Überschreiten von Grenzen, das nicht nur seine Werke sondern auch seine Biographie charakterisiert, wird von Ernst selbst in seinen Schriften gezielt theoretisiert und inszeniert. Die von ihm artikulierten komplexen Bezüge, künstlerischen Genealogien und Referenzen gilt es hingegen präzise zu analysieren und zu hinterfragen. Europa nach dem Regen in diesem Sinne als ein prophetisches Werk zu deuten, griffe zu kurz. Im Gegenteil reflektiert Ernst im Medium der Landkarte aus der Perspektive des Jahres 1933 heraus das aktuelle Zeitgeschehen, das ihn als in Frankreich lebenden deutschen Künstler unmittelbar betraf. Darüber hinaus situiert er sich mit diesem Werk aber auch innerhalb einer – in ihrer Selektion freilich hochgradig konstruierten – kunsthistorischen und kunstphilosophischen Genealogie. In diesen vielschichtigen Bezugnahmen kreiert Ernst ein Geschichtsmodell, das sich einem linearen Fortschritt widersetzt und vielmehr eine Historiographie vorschlägt, die eine Gleichzeitigkeit mehrerer ‚Geschichten‘ zulässt. Gerade in diesem Skeptizismus gegenüber den Geschichtswissenschaften, der von Michel Foucault als Verfechter einer kritischen Genealogie theoretisiert wurde, wird Ernsts Werk an Nietzsche anschlussfähig, dessen Lektüre für ihn einen wichtigen Katalysator darstellte, um Geschichtlichkeit anders zu denken.[18]


[1] Vgl. Svetlana Alpers, The art of describing. Dutch art in the seventeenth century, Chicago 1984.
[2] Max Ernst, Ecritures, Paris 1970, S. 427: „Ich befand mich also erneut vor der berühmten Mauer Leonardo da Vincis, die eine so große Rolle in meinen ,Halbschlaf-Visionen‘ gespielt hatte.“ (Übersetzung d. A.)
[3] Vgl. Centre Pompidou Metz (Hg.), Vues d’en haut (Kat.), Metz 2013.
[4] Vgl. Bernhard Siegert, Luftwaffe Fotografie. Luftkrieg als Bildverarbeitungssystem 1911 – 1921, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Jg. 12, Heft 45/46, 1992, S. 44.
[5] Vgl. Georges Didi-Huberman, Penser penché, in: Centre Pompidou Metz 2013, S. 196 – 207.
[6] Vgl. Ralph Ubl, Max Ernst und die surrealistische Poetik des Liegens, in: Sigmund Freud Museum Wien (Hg.), Die Couch. Vom Denken im Liegen (Kat.), München 2006, S. 103 – 114.
[7] Ernst 1970, S. 242, 30.
[8] Ralph Ubl, Prähistorische Zukunft. Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes, München 2004, S. 78f.
[9] Ernst 1970, S. 242.
[10] Für die konservatorische Einschätzung danke ich Jens Baudisch von der Kunsthalle Karlsruhe.
[11] Ubl 2004, S. 174.
[12] Vgl. Elza Adamowicz (Hg.), Off the map. Surrealism’s uncharted territories, in: Dies., Surrealism. Crossings/Frontiers, Bern 2006, S. 197 – 216, hier S. 202.
[13] Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung, 2. Aufl. Heidelberg 1939, S. 12; zit. nach Aram Mattioli, „Volksgrenzen“ oder Staatsgrenzen? Wissenschaft und Ideologie in der Debatte um die Hochrheingrenze (1925 – 1947), in: Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jahrhundert), hg. v. Guy P. Marchal, Zürich 1996, S. 285 – 311, hier S. 287.
[14] Vgl. Wolfgang Voigt, Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, 1. Aufl. Hamburg 1998.
[15] Vgl. Julia Drost, Europas neue Nomaden. Max Ernst zwischen Welterkundung und Vertreibung, in: Jahrbuch für europäische Geschichte, Nr. 11, 2010, S. 139 – 159.
[16] Vgl. Jacqueline Munck, Cartographies, in: Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (Hg.), Giorgio de Chirico. Fabrique des rêves (Kat.), Paris 2009, S. 61 – 66.
[17] Günter Figal, Nachwort, in: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Stuttgart 2012, S. 316.
[18] Vgl. Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders., Schriften, Frankfurt a. M. 2000, 4 Bde., Bd. 2, S. 166 – 191.

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Bilder auf Leben und Tod

Abb. 1: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht mit Skulpturen von Caius Gabriel Cibber, Ende des 17. Jahrhunderts.

Abb. 1: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht mit Skulpturen von Caius Gabriel Cibber, Ende des 17. Jahrhunderts.

Besucherinnen und Besucher der Ausstellung Géricault. Bilder auf Leben und Tod in der Schirn Kunsthalle (Frankfurt am Main) betreten die Schau in der Rolle von Geisteskranken: Um zu den Exponaten vorzudringen, müssen sie zuerst zwei lebensgroße Skulpturen des dänischen Bildhauers Caius Gabriel Cibber passieren, die einst das Eingangsportal von Bethlem (auch Bedlam genannt) – eines Hospitals für psychisch Kranke in London – zierten (Abb. 1). Die linke männliche Figur stellt eine Personifikation der in sich gekehrten Melancholie dar, während die gegenüberliegende einen Zustand extrovertierter Tobsucht (oder Manie) verkörpert, weshalb sie auch Armfesseln trägt. Ob allen Besucherinnen und Besuchern die Rolle bewusst ist, die ihnen hier durch die beiden Skulpturen angetragen wird, steht zu bezweifeln (im Ausstellungskatalog wird erst ab S. 168 auf die zwei Werke eingegangen).

Abb. 2: Théodore Géricault, Der verletzte Kürassier zieht sich aus dem Gefecht zurück (Studie) [Le Cuirassier blessé quittant le feu], 1814, Öl auf Leinwand, 55,2 x 46 cm, Brooklyn Museum, New York.

Abb. 2: Théodore Géricault, Der verletzte Kürassier zieht sich aus dem Gefecht zurück (Studie) [Le Cuirassier blessé quittant le feu], 1814, Öl auf Leinwand, 55,2 x 46 cm, Brooklyn Museum, New York.

Bereits vor dem Durchqueren des von den Skulpturen gebildeten Tores wird man direkt vom Blick der Figur auf dem Brustbild eines Karabiniers mit seinem Pferd (1814/15) an der gegenüberliegenden Wand adressiert. Kann man hier anfangs spekulieren, ob sich dieses Bild nur aufgrund dieser unmittelbaren Adressierung vis-à-vis dem Eingang befindet, so wird von ihm auf einen zweiten Blick doch bereits eine der zentralen Fragen der Ausstellung angestoßen: die nach dem Status des Porträts. Zwar bleibt der Karabinier anonym und ist deshalb auch kein Porträt im Sinne eines repräsentativen Abbilds einer identifizierbaren, bekannten Person, gleichzeitig trägt sein Gesicht aber stark individuelle Züge. Man könnte also sagen, dass in diesem Bild ein unbekanntes Individuum Porträtwürde erlangt hat. Schon im Eingangsbereich der Ausstellung werden so mit den beiden Skulpturen und dem Bild des Karabiniers zwei Dimensionen gegenübergestellt, deren Kontrastierung eines der kuratorischen Anliegen ist: typisierter, lesbarer Ausdruck einerseits (Melancholie und Manie) – individuelle, oft schwer lesbare Gesichtszüge andererseits (Karabinier). Zudem sind in dem Brustbild zwei der wesentlichen Themen enthalten, um die sich das Werk Théodore Géricaults dreht: Soldat und Tier.

Wendet man sich vom Brustbild des Karabiniers nach rechts, betritt man den ersten der vier Themenbereiche Kämpfe, Körper, Köpfe und Krisen, deren tautogrammatische Aneinanderreihung so nur im Deutschen funktioniert. Diese Bereiche sind auf sieben Räume aufgeteilt, aber in ihren Grenzen nicht explizit ausgewiesen, da sich die Thementexte nicht plakativ am Eingang, sondern eher unscheinbar seitlich an den Wänden innerhalb der Räume befinden. Dies ist einerseits gut, weil sich fließende Übergänge zwischen den Themen erkennen lassen, andererseits schlecht, weil man oft lange nicht weiß, in welchem inhaltlichen Rahmen man sich bewegt.

In den ersten beiden Räumen begegnet man Kämpfen verschiedenster Art, an prominenter Stelle Szenen aus den napoleonischen Kriegszügen zu Beginn des 19. Jahrhunderts (worin man öfter das Gesicht des Karabiniers aus dem Eingangsbereich wiederzuerkennen glaubt). Was sich hier mitunter zeigt, ist eine formale Parallelisierung von Mensch, Tier und Natur, die eine übergreifende Ordnung produziert. So entsprechen sich in der Studie zum verletzten Kürassier, der sich aus dem Gefecht zurückzieht (1814) die ausgestreckten Beine von Pferd und Kürassier sowie das Schwert (Abb. 2), während im Kürassier von Waterloo (1822) der Helmbusch des Soldaten und der Schweif des Pferdes, beziehungsweise das angewinkelte Bein desselben und der abgebrochene Ast rechts unten einander antworten (Abb. 3). Man könnte diese formalen Übereinstimmungen dahingehend interpretatorisch belasten, dass der Kriegszustand zu einer (oft unfreiwilligen) Verzahnung von Mensch, Tier und Natur führt.

Abb. 3: Théodore Géricault, Der Kürassier von Waterloo [Le Cuirassier de Waterloo], 1822, Öl auf Leinwand, 71 x 59 cm, Privatsammlung, Paris.

Abb. 3: Théodore Géricault, Der Kürassier von Waterloo [Le Cuirassier de Waterloo], 1822, Öl auf Leinwand, 71 x 59 cm, Privatsammlung, Paris.

Ist beim Kürassier, der sich aus dem Gefecht zurückzieht, zumindest äußerlich keine Verletzung sichtbar, so zeigen die Lithografien der vom Russlandfeldzug zurückkehrenden Soldaten Verstümmelungen verschiedener Art. Gegenüber an der Wand hängen vier Radierungen Francisco de Goyas aus den Desastres de la guerra (1810 – 1820), die zum Teil Gräueltaten napoleonischer Soldaten an der spanischen Bevölkerung zeigen und wogegen sich die Kriegsbilder Géricaults fast friedlich ausnehmen. Treten die französischen Soldaten bei Géricault eher als Opfer auf, so bei Goya mitunter auch als Täter. Bereits hier merkt man, dass die Schau, entgegen ihrem etwas reißerischen Titel, keineswegs als rein monographische Ausstellung konzipiert ist – im Gegenteil soll es um eine Einbettung der Arbeiten Géricaults in den künstlerischen und auch medizinischen Kontext um 1800 gehen.

Mit der Skulptur Satyr und Bacchantin (um 1817/18) in einer inmitten des Raumes aufgestellten Vitrine wird das Thema des intersexuellen Kampfes angesprochen. Die Bacchantin reagiert auf die gewaltsamen Avancen des Satyrs mit einer seltsamen Mischung aus Sträuben und Fügen (ein Moment des Zwiespalts, das öfter in Werken Géricaults zu diesem Sujet zu bemerken ist). Weiters finden sich in diesem Raum Darstellungen, die sich nicht unmittelbar mit dem Thema des Kampfes verbinden. So einige Werke von Géricaults Italienreise und Lithografien von seinem Aufenthalt in England. Das Rennen der Berberpferde in Rom (1817) könnte man im Zusammenhang mit dem Kampf des Menschen gegen die unbändige Kraft der tierischen Kreatur sehen, die arme Familie (auch italienische Familie genannt, 1816/17) in Verbindung mit einem sozialen Kampf der Mittellosen ums nackte Überleben. Von dieser gesellschaftlichen Dimension des Themas Kampf sind auch die englischen Lithografien geprägt, die körperlich eingeschränkte, verarmte oder arbeitende Menschen der unteren Schichten zeigen, die sich Tag für Tag im urbanen Lebenskampf durchsetzen müssen. Einziges Werk in diesem Bereich, das eher der Lebensfreude gewidmet scheint, ist Neapolitanischer Tanz: Tarantella (1817) mit einem phantastischen Chiaroscuro, das dem Schauspiel Lebendigkeit verleiht. Allerdings liegt über dem Ganzen ein melancholisch stimmendes Licht, durch das die allegre Szene wiederum konterkariert wird.

Geht man voran in den folgenden Raum, begegnet man weiteren Facetten des Kampfes: entweder Mensch gegen Mensch – in der kannibalischen Szene auf dem Floß der Medusa (1818/19) und in den Boxern (1818), wo ein Weißer gegen einen Farbigen antritt – oder Tier gegen Tier – in Löwe, ein Pferd verschlingend von 1823 und in Pferden, die in einem Stall kämpfen von 1818, wo sich die beiden Tiere ineinander verbeißen.

Passiert man schließlich Adolph Menzels toten Husar (1844), der wie die anderen ausgestellten Arbeiten Menzels einen skrupulösen Detailreichtum aufweist, der dem Werk Géricaults fremd zu sein scheint, gelangt man in die folgenden beiden Räume, die dem Thema Körper gewidmet sind.

Betritt man den ersten, finden sich zur Linken zwei Akte von Géricault und Eugène Delacroix, der erste (ein Rückenakt) um 1811 oder 1816 noch dem klassizistischen Körperkonzept verpflichtet, der zweite (in Frontalansicht posierend) für 1821/22 fast schon unzeitgemäß modern. Allerdings scheinen sich bei Géricaults Bild bereits Risse im klassizistischen Körpermodell abzuzeichnen: Einerseits löst sich der Schatten von der Figur (er kann genauer besehen gar nicht von ihr stammen) und wird zu einem unheimlichen Wiedergänger, andererseits sticht die Blöße am Hinterkopf des Mannes ins Auge.

Rechts neben der Aktdarstellung von Delacroix kann man Géricaults Studie des Skeletts und der Muskulatur eines rechten menschlichen Fußes mit einer Tafel aus Charles Monnets Études d’anamtomie à l’usage des peintres (1780) vergleichen und erkennen, dass Géricault diese Tafel fast vollständig (samt Beschriftung) abgezeichnet hat. Eine derart direkte Gegenüberstellung findet sich in der Ausstellung nur noch einmal, nämlich im Themenbereich Köpfe, wo die Studie eines Schädels von Géricault neben einer Tafel aus Giuseppe Del Medicos L’anatomia per uso dei pittori e scultori (1811) platziert ist.

Der auf dem Rücken liegende Muskelkörper auf einer Tafel aus Jacques Gamelins Nouveau recueil d’ostéologie et de myologie, dessiné d’après nature (1779) im nächsten Raum ähnelt manchen der Schiffbrüchigen auf den Studien von Géricault zum Floß der Medusa (1819), die daneben hängen.

An der Wand gegenüber sind mehrere Studien der Anatomie des Pferdes von Géricault den anatomischen Studien des englischen Pferdemalers George Stubbs beigesellt, die aus einer direkten Analyse von Tierkadavern entstanden. Géricault hingegen nahm selbst keine Sektionen vor, sondern zeichnete wiederum nach Vorbildern aus dem künstlerischen Lehrbetrieb.

Wichtig ist hier zu betonen, dass Géricaults Werke, deren Vorlagen und Vergleichsbeispiele – die Titel von Monnets und Del Medicos Publikationen weisen bereits darauf hin (…à l’usage des peintres bzw. …per uso dei pittori e scultori) – nicht primär aus einem human- oder veterinärmedizinischen Interesse entstanden sind (obwohl manche von ihnen durchaus in diesem Kontext ansiedelbar sein mögen), sondern aus einem künstlerischen Bedürfnis nach einer genauen Kenntnis der menschlichen und tierischen Anatomie, um die Oberfläche lebendiger Körper lebensecht darstellen zu können (so war auch Jacques Gamelin ein Maler und kein Mediziner, was man unmittelbar an den Posen seiner Körper erkennen kann).

Den Abschluss dieses einen Zweiges der Ausstellung bilden die drei Studien von abgetrennten Gliedmaßen, auch als Anatomische Fragmente bezeichnet (alle 1818/19 entstanden), die dieselben Körperteile aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Von diesen Gemälden schreibt die Ausstellung allerdings nur zwei Géricault zu (alternativ werden dem Künstler in der Forschung alle drei attribuiert), wobei jedoch dasjenige aus einer Privatsammlung hinsichtlich der künstlerischen Qualität einen derartig großen Abstand vom anderen aufweist, dass man auch hier die Zuschreibung an Géricault bezweifeln möchte. Mehreres an diesen Bildern bleibt rätselhaft beziehungsweise unbeantwortet. So etwa die Frage, aus welcher Prozedur die Teile tatsächlich hervorgegangen sind – aus einer Sektion? Warum beließ man dann aber den oder die Körper nicht ganz, was anatomischen Zwecken dienlicher gewesen wäre? Während eines der Beinfragmente noch eine glatte Schnittfläche aufweist, sieht der Arm hingegen eher ausgerissen aus (auch die abgetrennten beziehungsweise abgeschlagenen Köpfe Géricaults von 1818/19 weisen unregelmäßige Schnittkanten auf). Dem Teil des anderen Beines wurde wiederum die Haut abgezogen. Diese unterschiedlichen Zurichtungen verkomplizieren die Frage, warum die Körperteile so aussehen, wie sie dargestellt wurden. Auch das blutige Tuch um den Arm kann nicht wirklich zugeordnet werden. Ist es als prosaischer Verweis auf das Leichenhaus zu lesen? Als Reverenz an die Gattung des Stilllebens mit ihren Draperien? Oder doch als Dimension der Fremdberührung durch ein Textil, das auf der Haut aufliegt? Noch ein anderes Textil wirft hier Rätsel auf, nämlich das türkisfarbene Tuch, das zwischen den Gemälden und der Wand aufgespannt ist (es findet sich auch bei den Monomanenporträts im anderen Teil der Ausstellung wieder, wie in Abb. 5 zu erkennen ist. Die Farbe Türkis, in der die gesamte Ausstellungsarchitektur gehalten ist, hat zudem Eingang in die Kataloggestaltung gefunden). Sollte hier die Intention gewesen sein, bestimmte Arbeiten durch den Stoffbezug hervorzuheben, so ist die Rechnung leider nicht aufgegangen. Da das Tuch auffällig wird, indem es sich wellt oder nicht bündig mit der Wand abschließt, lenkt es die Aufmerksamkeit eher von den Werken ab als auf sie hin.

Zurück beim Brustbild des Karabiniers im Eingangsbereich eröffnet sich der andere Zweig der Ausstellung, der von den beiden Themenschwerpunkten Köpfe und Krisen gebildet wird.

Gleich zu Beginn wird die Gegenüberstellung vertieft, die sich – wie anfangs erwähnt – bereits im Eingangsbereich findet: Etliche Gemälde Géricaults, darunter Porträt eines Schiffbrüchigen, Porträt eines Afrikaners, Studie eines Modells und Studie eines Mannes, auch bezeichnet als Zimmermann der Medusa (alle 1818 oder 1819 entstanden), die allesamt zwischen Studie und selbstständigem Porträt anonymer Modelle schwanken, sind in Beziehung zu Ausdrucksköpfen gesetzt. Diese wollen emotionale Zustände oder Charakterzüge über eine physiognomische Typisierung eindeutig les- und ableitbar machen. Davor verschließen sich die Porträts Géricaults tendenziell, obwohl man auch darin – etwa im nach oben gerichteten melancholischen Blick der Modelle – einen bestimmten Typus erkennen könnte. Dies zeigt wiederum, dass die Grenzziehungen zwischen Studien- und Ausdrucksköpfen oft nicht so klar sind. Die faziale Kodifizierung findet in denZeichnungen Charles Le Bruns (ausgestellt ist Der Schrecken von 1668) einen Vorläufer im künstlerischen Bereich. Ein Jahrhundert später versuchte der Pfarrer Johann Caspar Lavater die Physiognomik als Wissenschaft zu begründen, Anfang des 19. Jahrhunderts gefolgt von der Phrenologie nach Franz Joseph Gall, einem Arzt. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Vorstellung, von äußeren Merkmalen wie Gesichtszügen oder der Form des Schädels unmittelbar auf innere Wesenszüge rückschließen zu können.

Abb. 4: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht.

Abb. 4: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht.

Inmitten des Raumes befindet sich ein Podest mit Köpfen beziehungsweise Schädeln aus unterschiedlichen Kontexten, darunter etwa die Büste Der Neger Selim (1807) von Johann Gottfried Schadow oder der Abguss eines Schädels mit Etiketten, welche die phrenologischen Zonen nach Gall bezeichnen (Abb. 4). Gerade in diesem Raum hätte man sich eine stärkere textbasierte Vermittlung gewünscht, vor allem angesichts der Unbequemlichkeit mit den Exponaten, die eine äußerst problematische Dimension der Kraniometrie beziehungsweise -skopie, der Vermessung und Beobachtung des Schädels, und deren Interpretation andeuten. Der Mangel an Text innerhalb der Ausstellung scheint kein erratischer Einzelfall, sondern ein systematisches Phänomen der gegenwärtigen Ausstellungspraxis zu sein, die verstärkt auf Audioguides und Kunstvermittlung setzt.

Abb. 5: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht.

Abb. 5: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausstellungsansicht.

Weitere Porträts – darunter eines von Géricaults eher unheimlich anmutenden Kinderbildnissen (Élisabeth Dedreux, 1817/18) – bilden den Übergang zum letzten Schwerpunkt, der dem Thema Krisen im Sinne des Wahnsinns oder der Geisteskrankheit gewidmet ist. Man findet hier vier der fünf bis heute bekannten Monomanenporträts von Géricault (alle um 1820 entstanden). Da das fünfte nicht ausgeliehen werden konnte, wurde es durch eine extra anlässlich der Ausstellung angefertigte Paraphrase von Marlene Dumas ersetzt (Abb. 5). Es stellt sich allerdings die Frage, ob man dieses Fehlen nicht anders inszenieren hätte können – zum Beispiel durch einen einfachen Hinweis und eine Reproduktion – beziehungsweise ob es überhaupt inszeniert hätte werden sollen. Zudem findet sich zum Dumas-Bild und dem Hintergrund seines Entstehens der einzige Text der Ausstellung, der erläuternd auf ein Einzelwerk eingeht.

Neben den Monomanen befinden sich Tafeln aus dem Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale, ou la manie (1801) von Philippe Pinel und der Abhandlung Des maladies mentales considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal (1838) von Jean-Étienne-Dominique Esquirol (der den Begriff Monomanie prägte), zwei Psychiatern am Hôpital Salpêtrière in Paris, die großen Wert auf das genaue Studium der Schädelform beziehungsweise der Physiognomie zur Erkundung psychischer Erkrankungen legten. Ein Studium, demgegenüber sich Géricaults Monomanen zu verschließen scheinen, gleichwohl sie – die von den Betrachtenden abgewandten Blicke unterstützen diesen Eindruck – Objekte der Beobachtung darstellen. Dieses Schicksal teilen sie mit den Psychiatriepatienten des Springfield Hospitals auf den gegenüber ausgestellten Fotos, die Hugh Welch Diamond um 1850 aufgenommen hatte. Bei bloßer Gegenüberstellung wird allerdings nicht klar, ob nun die Ähnlichkeit dieser Aufnahmen mit Géricaults Porträts (man achte auf die älteren Frauen mit Haube) oder nicht vielmehr deren irreduzible Differenz herausgestrichen werden soll.

Die Ausstellung unternimmt den Versuch, Théodore Géricault aus seiner Isolation als versponnener romantisch-morbider Künstler, in die er durch die Kunstgeschichte bisweilen gedrängt wurde, herauszulösen und seine Arbeiten in Kontakt mit zeitgenössischen Werken anderer Künstler oder medizinischen Diskussionen zu bringen. Dargestellt werden soll Géricault dabei als Künstler, der einem auf das Partikulare und Individuelle zielenden Realismus stark zugeneigt war, der keinen Widerspruch zu einer romantischen Haltung darstellen muss, sondern mit ihr eine Verbindung eingehen kann. Die Beziehungen, die von der Ausstellung in diesem Vorhaben hergestellt werden, sind jedoch gerade dann mit äußerster Vorsicht zu behandeln, wenn sich augenscheinlich Ähnliches in Form oberflächlicher visueller oder thematischer Übereinstimmungen auf einen genaueren Blick als unhintergehbar different erweist. Dies gilt für die Konfrontation der Werke Géricaults mit anderen künstlerischen Positionen ebenso wie für die Gegenüberstellung von künstlerischen Arbeiten und Objekten aus dem medizinischen Kontext. Zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für diese Problematik hätte die sonst sehr gelungene Ausstellung stärker beitragen sollen.

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Editorial

Eine Zusammenführung, die keiner vorgegebenen Komposition oder Richtung folgt und ihre einzelnen Elemente also keinem gemeinsamen Maßstab unterordnet – so das Strukturprinzip der all over Malerei, das eine Art ungeordnete Ordnung schafft, in der sehr Verschiedenartiges nicht nur nebeneinander bestehen kann, sondern miteinander in Beziehung tritt. Doch bleibt das entstehende netzartige Gewebe, wenn auch über alles hinweg laufend, doch an die meist rechteckige Bildform gebunden. Ähnlich ist die thematische Heterogenität unserer Beiträge durch formale, wissenschaftliche und redaktionelle Normen gebunden, die einen gemeinsamen Rahmen für die Diversität der Beiträge herstellen.

Dass eine derart feste Rahmung nicht zwingend nötig ist, um das Zusammenspiel innerhalb eines heterogenen und diversen Feldes zu ermöglichen, ist mitunter Thema dieser Ausgabe. Im sozialen Sinne kann die Loslösung von einem vorgegebenen Rahmen zu einem radikaleren Modell von Gemeinschaft führen. Gemeinschaft und soziale Interaktion sind dann nicht im Voraus geregelte beziehungsweise habitualisierte Praktiken, sondern arrangieren sich in einer offenen Choreografie zwischen den einzelnen TeilnehmerInnen immer wieder neu. So jedenfalls denkt Jean-Luc Nancy die Gemeinschaft und erklärt sie dadurch zu einem prozesshaften Geschehen, das die Grenzlinien und Berührungspunkte zwischen den Beteiligten laufend artikuliert und so eine Gemeinschaft zulässt, in der die Singularität und Inkommensurabilität des Einzelnen bestehen können. Die Formation einer solchen Gemeinschaft in der Tanzproduktion You’ve changed des Choreografen Thomas Hauert ist Thema von Mona de Weerdts Beitrag.

Auf ganz andere Weise stellt sich die Frage nach der Herausbildung von Grenzen und Gemeinschaft in Bezug auf die postkoloniale Kunstwelt. Vorab fixierte Hierarchien scheinen im globalen Maßstab die Bewegungen von Kunstmarkt und Kanonisierung zu bestimmen, wie Marenka Krasomil in ihrem Beitrag argumentiert.

Im Kontext des Surrealismus der 1930er-Jahre verbinden sich Überschreitungen und Verschiebungen ästhetischer und nationaler Grenzen. Max Ernst erprobt die imaginäre Kartografie als politisch-ästhetische Sprache, wie Maria Engelskirchen in einer Analyse seines Werks Europa nach dem Regen zeigt.

Den Topos eines von der Welt gänzlich abgeschlossenen und unberührten Bereichs – des hortus conclusus – besprechen Alexander Kluge und Gawan Fagard in einem Gespräch über eine geplante Kollaboration zwischen Kluge und Andrei Tarkovski. Das Gespräch, dessen erster Teil in dieser Ausgabe erscheint, wird in der kommenden Herbstausgabe weitergeführt.

Fragen zur Individualität und Typisierung in den Porträts von Théodore Géricault beschäftigen Gabriel Hubmann in seiner Besprechung der Ausstellung Géricault. Bilder auf Leben und Tod in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt.

Die Bildstrecke lightbox wurde diesmal von Elisabeth Greinecker gestaltet und erscheint an zwei Stellen im Heft. Die Fotos sind auf einer selbstgebauten Lichtbox entstanden und zeigen Materialien, Gegenstände und Verpackungen, mit denen Elisabeth Greinecker sonst skulptural und installativ arbeitet.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg | Barbara Reisinger
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