Was hätte Virginia Woolf dazu gesagt?

Buchauszug

Ich stöbere meine Bücherregale durch und frage mich: Was schreiben Frauen heute über Frauen? Was schreiben Frauen heute über die Lage der Frauen? Was schreiben sie über die Bedingungen, zu produzieren, darüber, eine Produktivkraft zu sein?

Ich frage mich: Welche Bücher haben Euphorie bei mir ausgelöst? Und weiß nicht so recht, wo anfangen. Frauen haben mittlerweile viel geschrieben, was sie schreiben füllt ganze Bücherschränke, ganze Bibliotheken, sie haben sich in allen Schattierungen ausgedrückt und die Umschläge ihrer Bücher sind in allen Farben bedruckt. Ich blicke also wie gebannt auf meine bunte Bücherwand, so intensiv, dass diese vor meinen Augen zu verschwimmen beginnt und die Farben durcheinanderfließen – als es plötzlich an der Tür klingelt. Aufgeschreckt laufe ich hin und öffne. Ich blicke in das zarte Gesicht einer Dame. Mir fallen die durchscheinende Haut und das feine unmerkliche Lächeln auf. Irgendwie kommt mir das Gesicht bekannt vor. Ich blicke sie an, von oben bis unten. Sie ist zierlich und auffällig altmodisch gekleidet und wirkt sehr distinguiert. Die elegante Dame fragt, ob sie hereinkommen könne. Und dann dämmert es mir…

– Guten Tag, ich bin Virginia Woolf.

– Sie sind doch tot, rutscht es aus mir heraus.

Sie lächelt ihr feines Lächeln und ich kriege es ein bisschen mit der Angst zu tun, aber meine Neugierde überwiegt meine Furcht. Und ich bitte sie herein und führe sie in mein Arbeitszimmer. Virginia ist neugierig. Es sprudelt aus ihr heraus:

– Frauen haben ein Zimmer für sich allein? fragt sie, auf mein Arbeitszimmer deutend. Schreiben Frauen? Was schreiben Frauen und wie schreiben sie?

– Ja, Frauen schreiben, sage ich. Sie schreiben über alles und jedes. Es gibt großartige Schriftstellerinnen und es gibt berühmte Schriftstellerinnen. Aber ich zweifle daran, ob schreiben, denken und dichten selbst noch eine große Bedeutung haben. Was heute den Geist der Zeit bewegt, sind Zahlen, nicht Texte.

– Bei all den Büchern in diesem Raum? Wie kommen Sie denn zu diesem Schluss?

– Wissen Sie, Sie hatten von den alten Gebäuden der Universität geschrieben. Davon, wie viel Geld in den Bau von Universitäten floss, als „das Zeitalter der Vernunft angebrochen war.“1 Sie schrieben, „dass derselbe Strom von Gold und Silber, der vorher aus der Schatulle des Königs in den Glauben floss, im Zeitalter der Vernunft aus den Truhen der Kaufleute und Fabrikanten, aus den Geldbörsen von Männern, die, sagen wir, als Unternehmer ein Vermögen gemacht hatten, in die Universitäten, an denen sie ihr Handwerk gelernt hatten, floss, um diese mit noch mehr Lehrstühlen, Stipendien und Stiftungen auszustatten.“2 Und weiter fügten Sie hinzu: „Daher die Bibliotheken und Labore, die Observatorien, die vorzügliche Ausrüstung mit teuren und raffinierten Instrumenten.“3 Und sie hatten notiert, dass das Fundament aus Gold und Silber wahrlich solide sei.

Leider muss ich Ihnen sagen, dass dieses Fundament wackelt, dass der Putz in vielen Universitäten von den Wänden bröckelt, und dass das Geld aufgehört hat zu fließen. Dass viele von denen, die an Universitäten arbeiten, ärmer sind als es ihre Hausangestellten waren.

– Aber wie ist das möglich, das Zeitalter der Vernunft braucht doch Universitäten, um sich zu legitimieren.

– Ich bin mir nicht so sicher, ob wir noch im Zeitalter der Vernunft leben: Die Marktwirtschaft braucht die Vernunft nicht. Sie braucht die industrielle Produktentwicklung, ja. Ich muss aber zugeben, dass die technische Entwicklung weiter boomt und dass technische Universitäten hingegen nicht allzu sehr unter Budgetkürzungen leiden müssen.

Aber dort, wo der soziale Fortschritt zur Debatte steht, dort, wo ephemeres Denken stattfindet, kommen die Bürokraten mit der Heckenschere oder lassen den Garten ganz einfach verwildern, denn das verkauft sich nicht so gut. Und es kann sogar gefährlich werden, wenn das Denken tiefer geht – wenn es die Fundamente der Marktwirtschaft selbst in Frage stellt. Die einfachste Weise dieses lästige Denken loszuwerden ist, nicht dafür zu bezahlen. Wie sie selbst so klug geschrieben haben: „Geld verleiht Dingen Würde, die unbezahlt als frivol gelten“4 – und das vor allem in Zeiten, in denen Geld der Maßstab aller Dinge ist. Leider adelt das häufig frivole Dinge und nicht soziale oder intellektuelle Entwicklungen.

– Sie meinen, meine literarischen Werte, Shakespeare und Austen, haben heute keinen Wert mehr? Und was meinen Sie, was muss man tun?

– Frau Woolf, ich weiß nicht, warum Sie gerade mich aufsuchen, ich bin nur eine kleine unbekannte Schreiberin, und kann Ihnen nicht die Wahrheit über meine Zeit erklären. Aber, wenn es Ihnen lieb ist, kann ich natürlich Vermutungen anstellen…

– Erzählen Sie mir doch bitte von den großartigen Autorinnen Ihrer Zeit!

– Ich kann Ihnen gerne eine in meinen Augen großartige Autorin vorstellen; aber diese ist eine sehr persönliche Wahl. Und nach einer kurzen Sprechpause sage ich zu Virginia:

– Setzen Sie sich doch bitte, und zeige auf einen Sessel. Nachdem sie sich gesetzt hat, mache ich es mir auf meinem unbequemen Bürosessel, den ich neben sie schiebe, bequem. Sobald ich sitze, fällt mir auf, wie unhöflich ich gewesen sein muss und ich frage schleunigst:

– Möchten Sie etwas trinken?

Doch zu meiner Erleichterung, denn ich will mich nicht erheben, winkt sie ab und ich fahre fort.

– Können Sie sich noch daran erinnern, dass Sie geschrieben haben, man müsse die Geschlechter zusammendenken? Mann und Frau müssen ein Team bilden. Sie müssen zusammenarbeiten. Und zwar nicht nur als Personen, sondern als Prinzipien im Geiste. Sie schrieben: „Bevor der Schöpfungsakt vollbracht werden kann, muss im Geiste eine Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau stattfinden. Eine Form von Hochzeit der Gegensätze muss vollzogen werden. Der Geist muss als Ganzes weit offen stehen, wenn wir das Gefühl bekommen sollen, dass der Schreiber uns seine Erfahrung in vollkommener Fülle vermittelt.“5 Und an anderer Stelle hatten Sie diesen Gedanken noch vertieft, Sie schrieben, „ein großer Geist sei androgyn“6 und damit meinten Sie nicht eine Festschreibung bestimmter geschlechtlicher Merkmale, die sich in einem Verhältnis der Balance ausgleichen sollten, sondern eine geistige Verfasstheit, die mitschwingend, durchlässig, ungehindert Gefühle vermittelnd, schöpferisch, weißglühend und ungeteilt sei.7 Ich denke, dass diese Position hochaktuell ist, aber leider eine Utopie, auch wenn sich die Ideen dahinter von Zeit zu Zeit hartnäckig bemerkbar machten und machen. Meines Erachtens hat diese Idee der Androgynität indirekt ein Buch beeinflusst, das für eine – meine – Generation von Frauen von großer Bedeutung war. Nur: Wo ist es noch gleich?

Ich erhebe mich und suche mein Bücherregal ab. Virginia folgt mir mit ihren Augen.

Es ist lila, daran kann ich mich genau erinnern, sage ich zu Virginia.

– Ach, das war schon im 19. Jahrhundert die Farbe der Frauenbewegung. Das hat sich also erhalten?

– Mich hat es damals eher geärgert, dass der Verlag mit einem lila Einband so plakativ auf die Frauenbewegung verweist und das Buch damit stigmatisiert. Ah, da ist es. Judith Butlers Werk Das Unbehagen der Geschlechter8. Zumindest hilft die Farbe des Einbands bei der Suche.

Virginia lächelt ihr unmerkliches Lächeln. Ich nehme das Buch aus dem Regal, reiche es Virginia und setze mich wieder. Sie schlägt es auf und blättert darin. Die Seiten sind mittlerweile ziemlich vergilbt, stelle ich mit einem Blick über ihre Schulter in das aufgeschlagene Buch fest.

– Das ist ja ein altes Buch, ruft sie empört aus. Ich suche etwas Aktuelles.

– Das Buch stellt immer noch einen Wendepunkt feministischen Denkens dar und mein Exemplar sieht so zerfleddert aus, weil ich es so häufig in die Hand genommen und gelesen habe. Leider hat die weitere gesellschaftliche Entwicklung ganz ungeahnte neue Kombinationen der Macht hervorgerufen, die Butler so damals nicht hätte voraussehen können und die all die hoffnungsvollen Ideen in ihrem Buch aus heutiger Sicht weniger glanzvoll erscheinen lassen.

Virginia schlägt das Buch auf und liest:

– „Die feministische Theorie ist zum größten Teil davon ausgegangen, dass eine vorgegebene Identität existiert, die durch die Kategorie ‚Frau(en)’ bezeichnet wird. Die feministische Kritik muss begreifen, wie die Kategorie Frau(en), […] gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht […] wird.“9

Virginia schaut auf. Sichtlich beeindruckt, sagt sie:

– Also dass Frauen in der Lage sind, so kompliziert zu schreiben, so unpoetisch doch umso rationaler und abstrakter als ich das je von einer Frau gelesen habe… Das ist ja wirklich beachtlich!

– Butler ist Philosophin, sage ich.

– Es gibt also Philosophinnen! Nicht nur ungebildete Autorinnen wie ich eine war. Sie hält inne und strahlt dabei übers ganze Gesicht, Frauen schreiben und sie schreiben Texte, die man nur einem Mann zugetraut hätte und dennoch scheint dieser Text ganz augenscheinlich nicht von der Hand eines Mannes geschrieben zu sein. Schon in den ersten Thesen ist sie sehr radikal… Aber was meint sie genau, wenn sie schreibt, dass Frauen nicht sie selbst sind, sondern ein Produkt?

– Denken Sie an Charlotte Brontes Begehren, daran, wie sie an ihre Grenzen stieß, aber diese ihr auferlegt waren. Es waren Grenzen, die ihr das enge Leben als Frau auf dem Lande aufgebürdet hatte. Erinnern Sie sich daran, dass Sie geschrieben hatten, ihr Geist sei nicht frei gewesen, weil er von den Bedingungen einer sehr beschränkten Erfahrungswelt begrenzt war. Butler geht es nun um noch mehr als nur darum, Frauen nach London oder um die Welt zu schicken, um ihren Erfahrungsschatz zu erweitern. Entschuldigen Sie, wenn ich damit Ihr Denken verkürze.

– Das ist in Ordnung, wenn es unserer Erkenntnis dient.

– Also Butler argumentiert, dass in einer Welt, in der das Patriarchat als universell gilt, das heißt grenzenlos ist, Frauen überall davon eingeholt werden. Es geht Butler daher darum, das Patriarchat nicht nur als Produktionsstätte sogenannter weiblicher Werte, sondern als Produktionsstätte des Subjekts Frau, der Frau an sich, zu entlarven, ob dies nun auf dem Lande oder in London sei.

Ich nehme Virginia das Buch aus der Hand, blättere darin und zeige auf eine Textstelle:

– Schauen Sie, hier fragt Butler: „Lässt sich die Besonderheit der Frauenkultur unabhängig von ihrer Unterdrückung unter die hegemonialen maskulinen Kulturen denken?“10

Virginia überlegt. Sie sieht angestrengt dabei aus, denke ich, und dann sagt sie:

– Die Frage ist sehr prägnant, so hätte ich die Frage selbst noch nicht stellen können. Ich hatte noch von Werten geschrieben, die bei Frauen einen ganz spezifischen Sinn erhalten. Aber ich sehe schon, was sie meint: dass diese Werte nicht genuin weiblich sind, sondern als solche im Patriarchat produziert werden.

– Butler hat auch erkannt, dass sich daraus eine grundlegende und weitreichende Problematik für feministische Praktiken ergibt. Der feministische Repräsentationsdiskurs stolpert über das Subjekt, das er repräsentieren will. Denn, warum sollten sich Frauen mit einem feministischen Subjekt identifizieren, wenn sie als Subjekte – als mit Handlungsvermögen und Begehren ausgestattete Subjekte, denn auch Frauen dürfen im Patriarchat in bestimmten Grenzen handeln und begehren – hervorgebracht wurden? Wie sollen sie sich da von einem feministischen Subjekt repräsentiert fühlen?

– Wirklich eine kluge Frau, diese Judith Butler. Ich hätte es damals gar nicht gewagt, solche Fragen anzusprechen. Ich habe mich vielmehr davor gedrückt, die wahre Natur der Frauen zu behandeln, indem ich mich auf die materiellen Bedingungen für ihr Schreiben zurückgezogen habe und damit insgeheim gehofft habe, eine Vielstimmigkeit weiblichen Schreibens anzuregen.

– Das haben Sie auch sehr meisterlich gemacht! Ich bewundere Ihr Buch, aber hören Sie zu, Frau Woolf, Butler geht in ihrem Buch noch weiter. Aber dafür muss ich jetzt noch weiter ausholen und auf eine andere großartige Frau zu sprechen kommen, ohne die Butlers Werk nicht hätte entstehen können. Diese andere Frau ist Simone de Beauvoir.

Ich stehe auf und suche im Bücherregal ihr Buch Das andere Geschlecht11. Es ist nicht lila, daran kann ich mich noch erinnern, aber glücklicherweise sehr viel dicker als Butlers Buch und so werde ich auch diesmal bald fündig.

– Simone de Beauvoir? Der Name kommt mir bekannt vor… Hat sie nicht schon zu meiner Zeit gelebt?

– Ja, und sie beruft sich auf Sie in ihrem Buch, Frau Woolf.

– Oh, sagt Virginia Woolf verlegen.

Ich fahre fort, denn ich will den Faden meiner Gedanken nicht verlieren und Virginia nicht in ihrer Verlegenheit vorführen:

– Das Buch von Simone de Beauvoir ist nur acht Jahre nach Ihrem Tod erschienen und wurde eines der berühmtesten Werke der Frauenbewegung, mit weitreichenden Auswirkungen bis hin zur zweiten Frauenbewegung…

– Eine zweite Frauenbewegung? Davon weiß ich ja gar nichts!

– Ach, das war in den neunzehnsiebziger Jahren. Es war eine sehr verheißungsvolle Zeit für Frauen in der sogenannten westlichen Welt. In Europa und Nordamerika gab es viele feministische Gruppen, die aktionistisch das Patriarchat angegriffen haben – so wie die Suffragetten etwa. Nur waren ihre Themen andere, denn das Wahlrecht hatten Frauen fast überall in den liberalen Demokratien der westlichen Welt erobert.

– Und was forderten sie dann? Entschuldigen Sie, aber war ein Zimmer für sich allein da noch eine wichtige Forderung?

– Ihre Forderung ist, glaube ich, immer noch wichtig, aber ich denke, Frauen stellten damals fest, dass sie erst einmal herausfinden mussten, was es heißt, kein Zimmer für sich allein zu haben. So gründeten sie vor allem in den großen Städten der USA Consciousness Raising Groups. Das waren Gruppen, in denen Frauen ihre Erfahrungen untereinander austauschten, um gemeinsam herauszufinden, wo sie unterdrückt werden. Sie erfanden so die unglaublich radikale Forderung ‚Das Persönliche ist politisch‘.

– Und diese Gruppen existieren noch?

– Nein, aber lassen Sie mich vielleicht erst einmal wieder zu Butlers Buch zurückkehren, denn sie weist darauf hin, dass die Vorstellungen hinter der Forderung ‚Das Persönliche ist politisch‘ nicht so radikal waren, wie sie es für nötig hielt. Sie schreiben sich in die Logik ein, dass es eine Unterscheidung zwischen biologischem und kulturellem Geschlecht, zwischen Sex und Gender, gebe, um die sogenannten weiblichen Werte, das Persönliche, in Frage zu stellen. Damit besteht das weibliche Geschlecht aus einem unabänderlichen Referenten, dem Körper, und einem veränderbaren anerzogenen kulturellen Referenten. Und Butler hat das kritisiert. Simone de Beauvoir hatte die Geschlechtsidentität zwar für eine Konstruktion gehalten, doch Butler weist darauf hin, dass de Beauvoirs Formulierung einen Handlungsträger, ein cogito, das die Geschlechtsidentität irgendwie übernommen oder sich angeeignet hat, voraussetzt.12

– Entschuldigen Sie, dass ich Sie schon wieder unterbreche, aber ich bin ganz entzückt, dass Frauen sich aufeinander beziehen. Ich habe den Eindruck, dass sie es geschafft haben, ein eigenes Gedankengebäude zu errichten, mit Zinnen, Türmen und Arkaden, eine Tradition, in der sie sich miteinander vernetzen können. Aber fahren Sie bitte fort!

Ich lächele bei der Vorstellung, wie sich de Beauvoir und Butler um das Turmzimmer streiten, will Frau Woolf aber unbedingt die Bedeutung von Butlers Buch vermitteln und schließe folgendermaßen an:

– Butler zufolge geht de Beauvoir nicht weit genug, denn mit dem Verweis auf ein cogito führt sie in den Augen Butlers das Wesen der Frau weiterhin auf einen unveränderbaren Referenten zurück und Butler stellt diesen in Frage. Sie behauptet etwa, dass auch unser Körper eine patriarchale Konstruktion ist.

– Sie hält unsere Körper für eine patriarchale Konstruktion? Das heißt für künstlich, oder? Welch’ verwegener Gedanke! ruft Virginia mit aufgerissenen Augen aus.

Sie schaut an ihrem zierlichen Körper herab. Vielleicht um die Spuren des Patriarchats daran zu entdecken, denke ich ein wenig amüsiert.

– Vielleicht ist es präziser zu sagen, dass Butler die Determinierung des Körpers als heterosexuell für konstruiert hält. Sexualität ist ihr zufolge nicht biologisch, sondern kulturell bestimmt. Wir Frauen sind eben nicht nur über bestimmte Werte und einen Verhaltenskodex konstituiert, sondern auch mit einem bestimmten Begehren ausgestattet.

Jetzt leuchten Virginias Augen:

– Es ist möglich geworden, Heterosexualität anzugreifen?! Ich hatte damals noch gemutmaßt, ob ich bei der Autorin Mary Carmichael (dabei zwinkert sie, denn Mary Carmichael war ja nur ein Pseudonym für sie selbst gewesen) das erste Mal in der Geschichte der Literatur auf eine Frau gestoßen war, die eine andere Frau mochte (liebte). Chloe mochte Olivia, aber eine offene Kritik an der heterosexuellen Ordnung hätte ich nicht gewagt. Man lebte ja so manches, aber offen darüber sprechen, das taten wir nicht.

In Woolfs Augen blitzte ein heller Schein auf, doch noch bevor ich sie auf ihre Liebesbeziehung zu Vita Sackville-West ansprechen kann, lenkt sie das Gespräch zurück zu Judith Butlers Buch:

– Und was steht weiter in dem Buch?

– Butlers Buch nimmt tatsächlich noch eine aufregende Wendung, sage ich, sie schlägt Praktiken vor, mit denen man diese Subjektivierungen subversiv unterlaufen kann. Wie man, wenn man selbst schon innerhalb der Grenzen eines heterosexuellen Regimes hervorgebracht wurde, mit ihnen spielen kann. Und zwar mit Mitteln der Parodie, der Travestie und einer Re-Inszenierung der Körper.

– Mit Mitteln der Parodie und der Travestie?

– Sie meinen, das klingt nicht sehr politisch?

– Nun, das klingt vielmehr amüsant, aber nicht sehr kämpferisch, nicht heroisch.

– Tja, an diesem Vorschlag haben sich seither auch viele feministische Akademikerinnen die Zähne ausgebissen. Denn es bleibt in der Schwebe, ab wann Parodie subversiv wird und ab wann sie aufhört, subversiv zu sein. Butler selbst räumte ein, dass Parodie nicht per se subversiv ist, behauptete aber, dass die Parodie ein politisches Potential hat, wenn, ich zitiere, „(d)ie Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität […] gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen sind, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.“13

– Das klingt jetzt wieder sehr kompliziert. Und wie interpretieren Sie das persönlich?

– Ich war damals wie gesagt ganz begeistert von dem Buch, auch wenn ich heute glaube, dass sein Reiz zum Teil in der Ungreifbarkeit lag, in einem Versprechen, das einem immer wieder durch die Finger gleitet, sobald man danach greift. Und das tut es für mich an dieser Stelle. Dennoch ist es sehr interessant, sich Butlers Vorschlag der Parodie vor der Folie der Mainstreamkultur anzusehen, denn dort hat die Re-Inszenierung des Körpers und vor allem des weiblichen Körpers eine breite Bühne gefunden. Frau wird heute gemeinhin als Inszenierung verstanden und nicht als naturgegebenes Wesen. Frauen spielen ihre Rolle. Das hat sie aber nicht davon entbunden, diese möglichst gut spielen zu müssen.

– Unglaublich, darf ich das noch einmal wiederholen? Sie meinen, dass es so etwas wie die Natur der Frau nicht mehr gibt, dass alle Wesenhaftigkeit als Schauspiel verstanden wird?

– Genau.

– Das ist ja eine Revolution!

– Wenn es nur nicht so wäre, dass von Frauen dennoch ständig verlangt werden würde, ihre Rolle perfekt zu inszenieren.

– Eine tragische Komödie!

– Schön wär’s.


Meike Gleims neueste Monografie „Was hätte Virginia Woolf dazu gesagt?“ erscheint im Herbst 2018 bei Martha Press, Hamburg in der Reihe „Substanz“. Ein herzliches Dankeschön an den Verlag für die freundliche Genehmigung dieses Vorabdrucks sowie an Jenny Dünser, Eva Schörkhuber und Mona Schwitzer für ihr Feedback, das die Entstehung dieses Beitrags mehr als nur phantomartig begleitet hat.

1 Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Stuttgart 2012, S. 13ff.

2 Woolf 2012, S. 13ff.

3 Woolf 2012, S. 13ff.

4 Woolf 2012, S. 89.

5 Woolf 2012, S. 59.

6 Woolf 2012, S. 134.

7 Vgl. Woolf 2012, S. 134.

8 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp 1991.

9 Butler 1991, S. 17.

10 Butler 1991, S. 19.

11 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Rowohlt 1992.

12 Vgl. Butler 1991, S. 25.

13 Butler 1991, S. 207.

Meike Gleim lebt und arbeitet in Brüssel. In ihrer künstlerischen und theoretischen Praxis beschäftigt sie sich mit Prozessen der Politisierung, Demokratie, Feminismus und Geschichtsschreibung.
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