ALL CAPS

“Basquiat – The Unknown Notebooks”, Brooklyn Museum

Das Brooklyn Museum zeigte vom 3. April bis zum 23. August acht Notebooks von Jean-Michel Basquiat. Die Ausstellung lenkt den Blick damit auf eine bisher kaum erforschte Werkgruppe des 1988 verstorbenen Künstlers, deren vollständiges Ausmaß nach wie vor ungeklärt bleibt. Sie versteht sich aber nicht nur als Startpunkt einer zukünftigen Auseinandersetzung, sondern gleichsam als Neuperspektivierung der medialen Bedingungen des Gesamtwerks.

Die aus dem schwarz-weiß gemusterten Umschlag der Composition-Books herausgetrennten Seiten finden sich aufgereiht in Glasvitrinen oder voneinander durch Rahmungen separiert an der Wand hängend. Vor dem Eingang des einzigen Ausstellungsraums ist an prominenter Stelle die Mitgliedskarte des Brooklyn Museums des sechsjährigen Jean-Michel platziert, die unmissverständlich die Verbindung von Ort und Künstler, Institution und Werk offenlegt. Außer diesem historischen Dokument verzichtet die Ausstellung auf eine emotionalisierende Darstellung Basquiats, was gerade in Hinsicht auf die ohnehin gegebene Intimität des präsentierten Mediums folgerichtig erscheint. Die ca. 24x19cm großen, linierten, weißen Blätter werden in Dialog mit großformatigen Gemälden, zwei bemalten Holzplatten und einem mehrseitig bemalten Holzwürfel gesetzt. Eine Kontextualisierung, deren Sinn nicht in der Bestimmung der Notebooks als Skizzen oder Vorstudien liegt, sondern die vielmehr auf Basquiats Umgang mit medienspezifischen Eigenschaften von Bildträgern und der damit einhergehenden Auflösung von Grenzziehungen zwischen den Medien hinweist. Auch der Umgang mit Text, Schrift und ihrer grafischen Gestaltung, die von Anfang an im Mittelpunkt von Basquiats Schaffen steht und nicht nur dessen Ursprung markiert, wird durch das Ausstellungskonzept neu lesbar.

Die Verwandtschaft zum malerischen Werk ist an einigen Stellen evident. Die Übernahme von Schriftzügen, einzelnen Wörtern oder Figuren ist wohl leicht nachvollziehbar und kaum überraschend. An Beat-Literatur angelehnte Gedichte, auf verschiedenste Weise durchgestrichene Sätze, das in drei horizontale Striche zerlegte E und das als Label und Signatur fingierende SAMO©, dessen Auftauchen in New York ab den späten 70er-Jahren von Henry Flynt photographisch dokumentiert wurde,[1] sind nur einige Elemente, die zu einer spontanen Vertrautheit mit den Notebooks führen. Die Ähnlichkeiten sollten jedoch keineswegs zu einer schablonenartigen Betrachtung verführen. Wie ich im Folgenden zeigen werde, wohnt den Unterschieden das deutlich größere Potenzial inne. Sie lassen nicht nur Rückschlüsse auf die Funktion der Notebooks selbst, sondern auch auf das Gesamtwerk zu.

„Der Wand-Künstler respektiert die Wand wie er den Rahmen seiner Staffelei respektiert[,]”[2] schreibt Jean Baudrillard in Kool Killer und obwohl Basquiats frühe Graffiti-Arbeiten aus ästhetischer Perspektive nur wenig mit dem zu tun haben, was spätestens 1983 durch Charlie Ahearns Film Wild Style einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurde, scheint die Frage nach der Materialität und Medialität zentral für die Positionierung der Notebooks zu sein. Auch wenn Dieter Burchhart im Ausstellungskatalog in Referenz auf Joseph Beuys und Leonardo Da Vinci die Autonomie des Notiz- oder Skizzenbuchs proklamiert, zeigt die Auswahl der Werke, dass das neue Material keineswegs vom Himmel gefallen ist. Der Nachweis künstlerischer Filiation zwischen Basquiat und Leonardo gerät genau da ins Wanken, wo die Eigenarten der Medien unterschlagen werden. Um die Autonomie der Notebooks zu unterstreichen, werden auf kunsthistorisch gängige Weise zwei Bilder nebeneinandergestellt, deren Affinität veranschaulicht werden soll. Der verfolgte Effekt stellt sich auch ein, allerdings vergleicht Burchhart eine Notizbuchseite Leonardos mit einem Gemälde Basquiats. Die Nichtbeachtung von Format und Material verstellt den Blick auf die Notebooks, die ihren Autonomiestatus eben nicht durch Bezugnahmen auf eine eurozentrische Kunstgeschichte erhalten. Erst das Betrachten ihrer formalästhetischen Eigenschaften und der Vergleich mit dem malerischen Werk lassen erkennen, wieso ihnen besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte.

Zunächst ist auffällig, dass Basquiat nur in den wenigsten Fällen die Versoseite verwendet. Bis auf vier Ausnahmen beschriftet er ausschließlich die Rectoseite, was die Hängung im Brooklyn Museum plausibel macht. Wie ein Graffiti kennen auch Basquiats Notebookseiten keine Rückseite. Erstaunlich ist darüber hinaus die Wahl von linierten Blättern, die sich in den klassischen Schulheften finden. Die Linien werden von Basquiat respektiert, weder übertritt er die rote Korrekturlinie, noch die einzelnen Zeilen.[3] Nur drei der rund 200 Seiten sind im Querformat gestaltet und anders als in den ausgestellten Gemälden, zum Beispiel Untitled von 1986, werden Text und Zeichnung überwiegend getrennt.[4] Dabei handelt es sich um den wohl evidentesten Unterschied zu dem bisher bekannten Basquiat, der kontinuierlich Text und Bild ineinanderfließen lässt, Textblöcke kombiniert, mit Symbolen versieht und in Beziehung zu gemalten Elementen setzt, beziehungsweise die klare Trennlinie zwischen Gemaltem und Geschriebenem auflöst. Die Handschrift ist keinen allzu großen Änderungen unterworfen. Basquiat schreibt in Groß- bzw. Blockbuchstaben, ALL CAPS, und wenn er von der auch in seinen Gemälden angewandten Schrifttype, die er sein gesamtes Werk über beibehält, abweicht, dann offensichtlich nur, um Telefonnummern, Daten, Uhrzeiten oder Einkaufszettel zu notieren.[5] Die Farbpalette ist äußerst beschränkt, neben schwarzem und blauem Kugelschreiber werden kaum andere Farben verwendet. In diesem strengen und auf wenige Ausdrucksmöglichkeiten beschränkten System wirkt der Fußabdruck auf Blatt 89 mehr als ein Unfall denn als künstlerisch beabsichtigtes Gestaltungsmittel. Die acht ausgestellten Notebooks, die einen Großteil von Basquiats Schaffen in den 80er-Jahren umfassen, zeugen von großer formaler Strenge und lassen sich im Kontext des Werks eben nicht als Hefte für Vorstudien lesen. Worin aber liegt das Wesen der Notebooks, wenn sie nicht zur Generierung neuer Schrifttypen, der Elaborierung eines bestimmten Sujets oder dem Austarieren einer Bildkomposition dienen?

Das Verhältnis zwischen dem Tanz an der Leinwand, der immer wieder in Tamra Davis’ Dokumentarfilm The Radiant Child (2010) gezeigt wird, und der Versenkung in das Liniensystem der Schulhefte, auf deren Titelblattrückseite stets Tabellen für Noten und Leistungsnachweise gedruckt sind, lässt sich schlichtweg nicht auf dasjenige von Studie und Ausführung reduzieren. Auch die Isolierung der Werkgruppen wäre unterkomplex und würde Basquiats Handschrift nicht erschließen.

Abb. 1: Jean-Michel Basquiat, Untitled, 1986, Acryl, Collage und Oilstick auf Papier auf Leinwand, 239x346,5cm, Collection of Larry Warsh.

Abb. 1: Jean-Michel Basquiat, Untitled, 1986, Acryl, Collage und Oilstick auf Papier auf Leinwand, 239×346,5cm, Collection of Larry Warsh.

„Just remember, ALL CAPS when you spell the man name”[6] – die Konstante, die Leinwand, Mauer und Papier zusammenhält, sind die Großbuchstaben. Sie sind zugleich leicht identifizierbare Handschrift und merkwürdig entpersonalisiert, mechanisch. Sie sind der ständige Hinweis auf Basquiats künstlerische Wurzeln in der Graffitiszene. Sie sind expressiv und monoton, undifferenziert und von grafischer Qualität, allgemein und intim, für BetrachterInnen und das Selbst.

Die im Dispositiv des Mediums angelegte Intimität des Notebooks bringt Basquiat zu einer reduzierten Expressivität. Das Schulheft bildet einen Antipol zum üblichen Arbeitssetting, in dem Basquiat zu Ravel und Bebop tanzend, die Zigarette im Mundwinkel, mit schnellen und ausholenden Gesten die Quadratmeter der Leinwand füllt und füllt. Dem horror vacui schwört er in den Notebooks keineswegs ab, er erzeugt die dichten Strukturen jedoch auf medial abgestimmte Weise. Nicht die einzelne Seite wird gefüllt, sondern Seite um Seite. Der Eindruck, der sich ad hoc beim Betrachten der Gemälde einstellt, wird in den Notebooks verzeitlicht. Die Konfrontation mit einer überfordernden Masse von Bild- und Textelementen stellt sich erst mit Blick auf die vielen aufeinanderfolgenden Blätter ein. Der Reiz von Basquiats Vorstellung eines Daumenkinos liegt in der materialsemantischen und medienspezifischen Ausrichtung, die vor allem im Kontext des Gesamtwerks zu Neuperspektivierungen führt.

Abb. 2: Jean-Michel Basquiat, Untitled Notebook 1, Tinte auf liniertem Papier, 24,4x19,4cm, Collection of Larry Warsh.

Abb. 2: Jean-Michel Basquiat, Untitled Notebook 1, Tinte auf liniertem Papier, 24,4×19,4cm, Collection of Larry Warsh.

Befragt man die Notebooks nach ihrem Status innerhalb dieses Werks, ist es unausweichlich, es auf Diskontinuitäten sowie durchgehende Stränge zu untersuchen. Einige davon wurden bereits angerissen: Die Großbuchstaben und die Texte selbst finden sich in beiden Medien, während die Einhaltung des linierten Ordnungssystems und die fast durchgehende Trennung von Text und Bild aus Sicht der Malerei Basquiats als untypisch bezeichnet werden muss. Gemälde wie Untitled (1986) (Abb.1) orientieren sich auf kompositorischer Ebene mehr an dem, was man heute als mindmap bezeichnet oder früher in den Notizen Leonardos findet. Das Überschreiten oder gezielte Nicht-Einhalten von Grenzen beschränkt sich jedoch nicht auf die Bildfläche, auch in Hinsicht auf die Wahl des Materials spielt dies eine Rolle. Basquiat, die Bildmaschine, die von ihrem Bewunderer Andy Warhol aufgrund ihrer Schnelligkeit beneidet wurde, machte vor nichts halt. Ob die Mauern, Häuser und Türen in Manhattan, den Holzwürfel oder einen Kühlschrank, alles bemalte er. Kein Format, an dem er sich nicht ausprobiert hätte. Von den Postkarten, die der bald tote Warhol als eine Art erste Liebespost erwarb, den großformatigen Leinwänden oder den Notebooks.[7] Die Bildmaschine, die nicht davor scheute Jazzmusiker, Popstars, Comicfiguren, Renaissancemaler, französische Filmregisseure und das Copyrightsymbol auf einem Bild zusammenkommen zu lassen, fühlte sich ausgerechnet in dem Medium, dessen Funktion explizit darin liegt das unfertige Werk, den noch genauer zu fassenden Gedanken oder die eine oder andere Schnapsidee in sich aufzunehmen, der Linie verpflichtet, trennte Text und Bild und überließ das Rausreißen der Seiten den Kuratoren. Zumindest teilweise ließe sich hinzufügen – dass das Verhältnis von Notebooks und Malerei für Basquiat selbst ein Experimentierfeld darstellte, lässt sich an einer Collage von 1982/83 ablesen: Einzelne DINA4-Blätter werden flächendeckend auf die Leinwand aufgeklebt und dienen anschließend als eine Art Hintergrund für Gebilde aus Ölkreide, mit denen sie übermalt werden. Basquiat stellt so nicht nur die Dichotomie von Vorder- und Hintergrund zur Disposition, er nutzt die Leinwand als Ort eines Mediensammelsuriums, als Labor, in dem Medienspezifik und ihre Grenzen ausgelotet werden. Die Leinwand erfüllt so eine Funktion, die von den präsentierten Notebooks nicht übernommen wird. Das in der Ausstellung ermöglichte vergleichende Sehen bildet die Grundlage für das Entdecken und Entziffern der Notebooks.

Die Ausstellung im Brooklyn Museum demonstrierte auf eindrucksvolle Weise die Komplexität eines Werks, das sich finalen Zuschreibungen und Deutungen verschließt und Diskontinuitäten aufweist, die nicht als Mangel an künstlerischer Kohärenz gedeutet werden können. Das Potenzial von Basquiats Werk liegt in genau diesen Bruchlinien, die man nicht zusammenflicken, sondern zu ihrem Recht kommen lassen sollte.


[1] Henry A. Flynt Jr., VIEWING SAMO©, 1978 – 1979. URL: www.henryflynt.org/overviews/samo.htm

[2] Jean Baudrillard (Hg.), Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 34.

[3] Die Ausnahmen – wie etwa Blatt 91 – bestätigen die Regel und den Gesamteindruck.

[4] Kombiniert werden sie beispielsweise in einer auf dem Blatt selbst als Vorstudie bezeichneten Skizze zu den Famous Negro Atheletes, deren Leinwandausführung ebenfalls in der Ausstellung gezeigt wurde.

[5] Vgl. Blatt 40 – 43, bezeichnenderweise die letzten Seiten des ersten Heftes.

[6] MF DOOM & Madlib are Madvillain, All Caps, Madvillainy 2003.

[7] Umso bereichernder ist Basquiats Ter Borch-Bezug in Szene gesetzt. Das Gemälde vereint die Zusammenführung von Text und Bild, wirft Fragen nach den Zitier- und Bezugsmöglichkeiten der zeitgenössischen Kunst auf und legt Fährten zur Relation von imaginären Bild und historisch-kulturell bedingtem Bildgedächtnis – kurzum: Basquiats Werk in a nut shell.

Simon Vagts ist Mitglied der Graduate School am eikones Institut für Bildkritik Basel und arbeitet an einer Promotion über Godards medienarchäologische Methoden.
Dieser Artikel erscheint in der Kategorie Ausgabe 9, Essays. Permalink.