Hooray-as-Hooray

Ad Reinhardt wurde am 24. Dezember 1913 geboren. Sein hundertster Geburtstag soll Anlass sein für eine Würdigung seines Werks, das Gemälde, Collagen, Karikaturen und Schriften umfasst. Seine vielfältigen Tätigkeiten im New York der Jahrhundertmitte liefen stets in eine Stoßrichtung: Ad Reinhardt war Maler und als solcher um eine Bestimmung der Essenz von Malerei bemüht.

Ad Reinhardt, Leserbrief anlässlich des Jubiläums von Art News, 1963

Ad Reinhardt, Leserbrief anlässlich des Jubiläums von Art News, 1963

Die Gratulation greift ein „Hooray“ von Reinhardt aus dem Jahr 1963 auf: Zum 60-jährigen Bestehen der Zeitschrift Art News trat Reinhardt selbst als Gratulant auf (Abb.1). Sein „Hooray“ wirkt lustlos und ironisiert, da es sich angefangen bei den Art News über Kunst auf Leben und Leute erstreckt und in dieser Generalisierung selbst den Betrieb einschließt, dem gegenüber Reinhardt sich sonst kritisch äußerte. Dass ausgerechnet China und Albanien, die kurz nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Albanien und der Sowjetunion 1961 ein enges Bündnis eingingen, vom Hurra-Ruf ausgeschlossen sind, verdeutlicht das Interesse am Weltgeschehen des Zeitungslesers Ad Reinhardt. Der Bezug auf Politik und Gesellschaft in seiner Malerei erfolgte jedoch nicht auf direkte, illustrierende Weise. Vielmehr war er sich der Gesellschaft und, aufgrund seines Berufs, der Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs bewusst, den er in seinen Karikaturen für die liberale New Yorker Zeitschrift PM sowie zahlreichen Schriften kritisierte. Reinhardts Position war stets umstritten und sein Werk fand spät Anerkennung. Nach wie vor ist die Rezeption verhalten: Vor der letzten großen Ausstellung seines Werks 2011 wurde Reinhardts Oeuvre zuletzt 1990 umfassend präsentiert.1 Die frühe Rezeption zu Lebzeiten des Malers ist eine Melange aus mystifizierenden Interpretationen, Ablehnungen beispielsweise durch das Attribut „dekorativ“ und Vereinnahmungen seitens der Conceptual und Minimal Art. An dieser Stelle kann Barbara Rose’ Artikel ABC Art von 1965 als Beispiel für die Kontextualisierung der Gemälde Reinhardts in die Minimal Art herangezogen werden, eine Stellungsnahme, die die Autorin 1970 revidierte: „In the sixties many, including myself, viewed the black paintings as the precursors of minimal art.“2 Diese Lesung brachte zugleich mit sich, dass der Malerei Reinhardts mit der zunehmenden Festigung der Minimal Art im Kunstbetrieb größere Aufmerksamkeit zuteilwurde, wie Lucy Lippard in ihrer Monographie anmerkt.3 Nichtsdestotrotz rührten diese Kontextualisierungen nicht an der grundlegenden und bemerkenswerten Sonderstellung von Ad Reinhardts Werk. Gabriel Ramin Schor findet in Zusammenhang mit der These einer bewussten Opposition des Künstlers zur Modernismuskonzeption Clement Greenbergs den treffenden Ausdruck einer „ahistorische[n] Stasis“ zur Beschreibung dieser Sonderstellung.4 Diese Stasis lässt sich einerseits in Negation eines linearen Geschichtsmodells verstehen, andererseits aber auch in Hinsicht auf die konkrete Wahrnehmungssituation vor einem black painting Reinhardts. Obwohl sich eine solche quadratische, 60 mal 60 Zoll messende und mit schwarzer Ölfarbe bearbeitete Leinwand dem Blick zunächst als unmittelbar zu erfassende Einheit darbietet, differenziert sich die Oberfläche bei längerer Betrachtung in Binnenflächen aus, die nicht durch deutlich wahrnehmbare Konturen, sondern lediglich durch das Aufeinandertreffen chromatisch annähernd gleicher Felder entstehen. Ein solches Gemälde zu reproduzieren, bietet sich nicht an, weswegen hier auf eine Abbildung verzichtet wird. Der Künstler schließt die Möglichkeit sogar prinzipiell aus: „Dieses Bild kann nicht kopiert, reproduziert, dupliziert werden.“5 Die Dehnung eines Zeitpunkts bei der Bildbetrachtung beschrieb Barbara Rose bereits 1970.6 Das Verharren vor einem black painting findet eine Parallele in dem Verharren dieser Werkgruppe am gewissermaßen „verlängerten Ende“ vom Gesamtwerk des Künstlers. Die thematische Ausstellung Black Paintings 2006 in München zeigte schwarze Gemälde von Ad Reinhardt, Robert Rauschenberg, Frank Stella und Mark Rothko, verbunden mit der These vom Übergang. Diese Scharnierfunktion der schwarzen Gemälde konnte lediglich bei Reinhardts Oeuvre nicht festgestellt werden, deren black paintings es vorzögen, „in diesem Stadium zu verharren, sich das Wesen des Übergangs einzuverleiben“.7 Reinhardt malte von 1953 bis zu seinem Tod 1967 black paintings, ab 1960 dann zum Teil betitelt mit ultimate painting.8 Reinhardt äußerte sich 1966 in einem Interview wie folgt: „Ich mache einfach nur das letzte Bild, das eben irgend jemand machen kann.“9

Wie ist Reinhardts Position in Zusammenhang mit der Rede vom Ende der Malerei zu verstehen? Douglas Crimp überschreibt 1981 einen Essay in der Zeitschrift October mit The End of Painting. Er bindet gesellschaftlich funktionstragende Malerei an die Vormoderne, die in der Moderne seit 1800 und spätestens mit dem Aufkommen der Fotografie zur Mitte des 19. Jahrhunderts um ihre Legitimität ringen muss und sich im Zuge dieser Defunktionalisierung zur Kunst als zeitloser Entität enthistorisiert. Crimp empfindet einen solchen Idealismus in Folge von Minimal und Pop Art als reaktionär.10 Johannes Meinhardt unterscheidet dieses materialistisch-historische vom ontologischen Verständnis vom Ende der Malerei und ordnet Ad Reinhardts Haltung in letztere Kategorie ein, in der die Frage nach der ahistorischen Essenz der Malerei im Zentrum steht. „Die Malerei der Moderne ist keine neue oder andere Malerei; sie ist die analytische Arbeit der Malerei an sich selbst.“11 Das Ergebnis einer solchen Analyse seien letzte Bilder, die zugleich reine Bilder seien und am strengsten in weißer oder schwarzer Monochromie zur Anschauung kommen.12 Diese Entleerung und Reinigung erfolge im Zuge einer Befreiung von Materialität: Bis zum Postminimalismus der 1960er Jahre galt die Sublimierung des Materials als Paradigma der bildenden Kunst; der Künstler wirkte als dem Ideellen zugewandter Beherrscher des Materiellen, unabhängig von seinen Arbeitswerkzeugen. An dieser Stelle seien die Positionen von Piet Mondrian und Barnett Newman genannt, da beide wichtige Akteure der New Yorker Kunstszene zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren. Piet Mondrian selbst äußerte sich zu immateriellen Materialien in seinem Essay Home – Street – City, der 1926 erstmals auf niederländisch erschien und die Vision einer „denaturalisierten Materie“ entwirft: „Surfaces will be smooth and bright, which will also relieve the heaviness of the materials.“13 Barnett Newmans Anspruch Materialität zu überwinden, kommt in einer Aussage von 1963 zum Tragen: „For me, the material, whether canvas or paint, has to be inert, so that I myself can create the sense of life.“14 „Inert“ ist das Adjektiv, mit dem Newman bevorzugt seine Arbeitsmaterialien beschreibt – das Leinen, die gespannte Leinwand, die Farbe – sowie das Format. Die Bedeutung reicht von „reglos“, „passiv“ über „träge“ und „undifferenziert“, hin zu „charakterlos“. Newman zeigt mit der Forderung, den Widerstand des Materials brechen zu wollen, die klassische Haltung eines autonom handelnden Künstlers.

Im bereits erwähnten Interview von 1966 äußerte sich Ad Reinhardt dementsprechend zu seiner Malerei: „[…] sie hat mit Materialien nichts zu tun“.15 In einer 1964 in der Zeitschrift Art International publizierten Schrift fordert Reinhardt die Autonomie einer der niederen Materie enthobenen Kreation ein: „Kunst-als-Kunst ist eine Schöpfung […] Künstler-als-Künstler schätzen sich selbst danach ein, wovon sie sich frei gemacht haben und was sie sich zu tun weigern.“ Auf derselben Seite zielt Reinhardt auf die Essenz von Malerei: „Kunst-als-Kunst ist eine Konzentration auf die wesentliche Natur der Kunst.“16Nach einem immanenten Ende der Malerei kann es nur noch unwesentliche Malerei geben.17 So gesehen verharren Ad Reinhardts black paintings konsequenterweise an einem in die Länge gezogenen Endpunkt der Malerei, nach dem keine anspruchsvollen Gemälde mehr möglich seien. Der Denkweise eines ontologischen Endes der Malerei folgend, formuliert Reinhardt den höchstmöglichen Anspruch für seine ultimate paintings.

Ad Reinhardt muss den Kunstbetrieb als geradezu feindliche Umgebung für seine absolute Malerei empfunden haben, was sich aus seinen zahlreichen lautstarken Kritiken, Manifesten und Streitschriften ablesen lässt. Reinhardts Schriften sind Sebastian Egenhofer zufolge als „funktionale Elemente von Reinhardts Werk“ zu verstehen, da sie die Stelle markieren, an denen die Gemälde mit der Umgebung, also der Gesellschaft, in Kontakt treten.18 Am Ende dieses Promemorias steht die Forderung, Ad Reinhardts Gemälde abseits jeglicher mystifizierender Verklärung im historischen Kontext des New Yorker Kunstbetriebs zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Die Position dieses Malers letzter Bilder, dem es um die Essenz der Malerei ging, lässt sich in Zusammenhang mit der ontologischen Rede vom Ende der Malerei womöglich erhellen. Ad Reinhardt sicherte seine Alleinstellung auch dadurch, dass er sich von KollegInnen distanzierte. 1954 beendete Reinhardt einen Vortrag mit – und hier sind die Malerkollegen gemeint, mit denen er nicht in Zusammenhang gebracht werden wollte: „nicht mit den Kerlen da“.19


1 Josef Albers Museum Quadrat Bottrop (Hg.), Ad Reinhardt. Letzte Bilder (Kat.), Düsseldorf 2011, S. 6.
2 Barbara Rose, ABC Art [1965], in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hg. von Gregor Stemmrich, Dresden/Basel 1995, S. 280-308, hier: S. 293. Barbara Rose, The Black Paintings, in: Marlborough Gallery (Hg.), Ad Reinhardt. Black Paintings 1951-1967 (Kat.), New York 1970, S. 16-22, hier: S. 20.
3 Lucy Lippard, Ad Reinhardt, New York 1981, S. 192-193.
4 Gabriel Ramin Schor, Ad Reinhardts Para-Modernismus, in: Aurel Scheibler (Hg.), Ad Reinhardt. Paintings 1943-1950 (Kat.), Berlin 2007, S. 35-41, hier: S. 39.
5 Ad Reinhardt, Schriften und Gespräche, hg. von Thomas Kellein, München 1984, S. 145.
6 Rose 1970, S. 20.
7 Haus der Kunst München (Hg.), Black Paintings (Kat.), Ostfildern 2006, S. 79.
8 Yve-Alain Bois, The Limit of Almost, in: The Museum of Contemporary Art Los Angeles (Hg.), Ad Reinhardt (Kat.), New York 1991, S. 11-33, hier: S. 12.
9 Reinhardt 1984, S. 207-208.
10 Douglas Crimp, The End of Painting, in: October, Vol. 16, 1981, S. 69-86, hier: S. 74.
11 Johannes Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, in: Kunstforum International, Vol. 131, August-Oktober 1995, S. 210-246, hier: S. 205.
12 Ebd., S. 210.
13 Piet Mondrian, The new art – The new life. The collected writings of Piet Mondrian, hg. von Harry Holtzman und Martin S. James, New York 1993, S. 211.
14 Barnett Newman, Selected Writings and Interviews, hg. von John O’Neill, Berkeley 1992, S. 252.
15 Reinhardt 1984, S. 208.
16 Ebd., S. 151.
17 Meinhardt 1995, S. 208. Während Meinhardt auf S. 226 Reinhardt als „streng idealistische[n] Platoniker“ umschreibt, vertritt Yve-Alain Bois in seinem Katalogbeitrag von 1991 eine alternative Sicht, die einen Schwebezustand zwischen dem Pathos des Künstler-Künstlers und dem „opposite of major art“ (S. 25) mit „Almost“ (S. 11), also dem Begriff des Beinahe zu fassen versucht.
18 Sebastian Egenhofer, Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, Paderborn 2007, S. 203.
19 Reinhardt 1984, S. 40. Ein Catalogue Raisonné des Werks von Ad Reinhardt ist momentan in Bearbeitung und wird verantwortet von der Ad Reinhardt Foundation: http://adreinhardt.org/reinhardtfoundation/index.cfm/fa/c.raisonne [01.08.2013].
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Der negative Raum oder die andere Seite des Lichts

Als negativer Raum wird in der Malerei und in der Fotografie jener Bereich bezeichnet, der nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit darstellt und somit den Hintergrund oder auch die Grundfläche in der Figur-Grund-Beziehung beschreibt. Im dreidimensionalen Raum verweist der Begriff negativer Raum nach Rudolf Arnheim auf den Raum, der die Dinge umgibt, aber auch auf die Hohlräume in den Objekten selbst: „(…), ‚negative space‘ refers to the opposite of solid objects.“[1] Der negative Raum ist in diesem Kontext der Raum zwischen den Dingen im Gegensatz zur festen Materie, die Raumgrenzen definiert. Analog stellen auch Schatten einen negativen Raum dar. Sie modellieren den beleuchteten Körper, setzen ihn in Szene und erleichtern die Orientierung im Raum. Mit den Schatten wird die sichtbare Welt erst zum eigentlichen Ganzen. Darüber hinaus können Schatten Raumstimmungen erzeugen, die das subjektive Empfinden berühren.

Eine besondere Stimmung vermittelt etwa die Abenddämmerung, der Eintritt in den Eigenschatten der Erde. Scheinbar vereinigen sich die Schatten des Tages zu einem großen Schatten im Übergang von Tag zu Nacht. In der Dämmerung wird der Erdschatten über gestreutes Sonnenlicht in höheren Schichten der Erdatmosphäre etwas aufgehellt. Die Schatten, die zuvor noch dem beleuchteten Objekt zuzuordnen waren, scheinen dann eigentümlich aufgelöst. Das Gesehene wird diffus und es entstehen Mehrdeutigkeiten. Der Stimmungsraum entfaltet sich zunehmend mit den Schatten, die das visuelle Bild der Raumbegrenzungen schwächen und die Raumimagination verstärken.

An der Schwelle von Helle zu Dunkelheit vollzieht sich im sehenden Menschen eine Veränderung, die seine Raumwahrnehmung entscheidend prägt. Die Dominanz des Sehsinns wird bei zunehmender Dunkelheit von den anderen Sinnen abgelöst.

Ist der Tagraum als Raum der Dinge und Distanzen zu verstehen, in dem auch der Mensch ein Ding darstellt, so ist die Beziehung Mensch-Raum im Nachtraum eine intimere und schließt die jeweilige Befindlichkeit des Menschen stärker mit ein.

Otto Bollnows Buch „Mensch und Raum“[2] ist eine systematische Darstellung des erlebten Raums. Im 4.Teil seines Werkes analysiert Bollnow unter dem Titel Aspekte des Raums die Unterschiede in der Wahrnehmung von Raum unter den Bedingungen von Tag und Nacht und den Übergangserscheinungen wie Dämmerung und Nebel. Der Tagraum ermöglicht nach Bollnow ein Übersehen[3] des gesamten Raums inklusive aller Gegenstände in ihm. Otto Bollnow erläutert diesbezüglich die Vorrangstellung des Tagraums, der für sehende Menschen immer ein Sehraum ist. Im Tagraum ist eine problemlose Bewegung im Raum möglich, die sich nicht nur in der Handlung selbst sondern auch in der visuellen Wahrnehmung über die Möglichkeit des „Visierens“[4] ausdrückt. Indem der Raum visuell in seiner Tiefe erfasst wird, vollzieht sich bereits eine Bewegung in ihm. Ganz anders verhält es sich für den sehenden Menschen im Nachtraum, weil er sich nun nicht mehr auf den Sehsinn verlassen kann.  Die für die visuelle Konstruktion von Raum notwendigen Parameter Horizont und Perspektive sind in der Nacht nicht mehr vorhanden. „Jeden Abend mit dem Einbruch der Dunkelheit verschwindet die Sichtbarkeit der Dinge im Raum. Und trotzdem bleiben wir im Raum. Nur hat dieser Raum einen völlig anderen Charakter.[5]

Bollnow argumentiert, dass es falsch wäre, den Nachtraum nur am Fehlen eines Handlungsspielraums wie er am Tag möglich ist, zu beurteilen.[6] Der Nachtraum wird im Unterschied zum Tagraum als gestimmter Raum wahrgenommen, der im Menschen Emotionen und Gefühle weckt. Am Beispiel der Atmosphäre des Nachtraumes lässt sich die Verflochtenheit von Mensch und Raum nachvollziehen, die tagsüber nicht offensichtlich ist.

Der Philosoph Gernot Böhme definiert Atmosphären aus philosophisch-anthropologischer Perspektive als „gestimmte Räume“: „Atmosphären sind etwas Räumliches und die werden erfahren, indem man sich in sie hineinbegibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren, bzw. uns zumindest anmuten.“[7]

Es ist demnach offensichtlich, dass Atmosphären auch Elemente der Architektur sind. Atmosphären werden immer subjektiv erfahren und entziehen sich großteils der objektiven Analyse. „Die analytischen Instrumente sind deshalb so schwer zu erzeugen, weil der atmosphärische Architekturraum sich an den Rändern der Rationalität ausbreitet und nicht mehr unter dem alten ehrwürdigen Aspekt der Ganzheit erfasst werden kann. Er wird ‚von innen‘ erfasst, als eine Gefühlsstruktur, leibbedingt, die wir mit uns herumtragen, und zugleich ‚objektiv‘, als eine Dingstruktur, die vor uns ausgebreitet ist, eben beides.“[8]

Die Dominanz des Sehens und die Übersichtlichkeit des Raums führten in der abendländischen Geschichte zur Formulierung eines abstrakten Raumbegriffs, der wie ein Behälter Dinge und Körper umschließt. Dieses Raumbild geht bereits in die Antike zurück und Isaac Newton entwickelte daraus eine physikalische Raumtheorie, die sich auf die euklidische Geometrie stützt. Newtons Raumtheorie ist zwar mittlerweile relativiert, sie hat aber heute noch praktische Bedeutung für die Vermessung von Dingen und Distanzen. Deshalb entspricht diese Raumvorstellung immer noch der allgemeinen Vorstellung von Raum. Die Soziologin Martina Löw weist darauf hin, dass neben den abstrakten philosophischen und physikalischen Raumbegriffen die Phänomenologie, wie sie von Bachelard, Bollnow, Schmitz oder Kruse vertreten wird, die einzige Theorierichtung darstellt, die das Raumerlebnis systematisch beschreibt.[9] Die Phänomenologie bildet auch die Grundlage für die theoretischen Überlegungen zu Architektur und Atmosphäre bei Gernot Böhme. Böhme nennt den mathematischen Raum den Raum als Medium von Darstellungen und unterscheidet ihn vom erlebten Raum als „Raum der leiblichen Anwesenheit“[10]. Der erlebte Raum ist im Gegensatz zum mathematischen Raum kein neutraler objektiver Raum und zeichnet sich durch die „Involviertheit in diesen Raum“[11] aus. Daher auch die Bezeichnung, „Raum der leiblichen Anwesenheit“, die explizit auf das Verhältnis des Menschen zu diesem Raum hinweist. Der „Raum leiblicher Anwesenheit“ hat im Gegensatz zum mathematischen Raum seinen ausgezeichneten Mittelpunkt bezogen auf den Leib und er hat Richtungen, die mit dem Leib zusammenhängen.[12] Charakteristisch für den erlebten Raum ist die leibliche Erfahrung von Weite und Enge, Vertrautheit und Fremde, Licht und Schatten etc. Der erlebte Raum ist immer zugleich ein Stimmungsraum mit einer spezifischen Atmosphäre, die beispielsweise als feierlich, bedrückend oder heiter wahrgenommen wird, und „die Ausgedehntheit meiner Stimmung selbst.“[13] Atmosphären werden im leiblichen Spüren erfahren und damit auch der Raumcharakter.

Böhme betont die Schwierigkeit, über Architektur als Kunst zu reden.[14] Im Unterschied zu anderen Kunstrichtungen dient die Architektur einem Zweck. Der Anteil der Architektur, der der Kunst zugeordnet wird, betrifft vor allem die sichtbare Gestaltung der Materie, die von ArchitektInnen und KritikerInnen mit anderen Künsten verglichen wird. „Ein Architekt gestaltet seine Bauten wie Skulpturen, der andere versucht sich im Malerischen, der dritte will Gebäude wie Texte, und der vierte wie Musik.“[15] Die Dominanz des Sehens und des sichtbaren Raumes bestimmt die Architekturpraxis, in der die Architekturpräsentation eine entscheidende Rolle spielt. Die Wahrnehmung von Architektur abseits der Betrachtung von außen, indem man sich in den architektonischen Raum hinein begibt, um den Raum zu erleben und zu beschreiben, ist an sich nichts Außergewöhnliches. Der Raum selbst wird aber meistens nicht beschrieben, sondern es wird der Raum über seine Begrenzungen und Inhalte definiert. Auch das Aufspüren und Benennen von Atmosphären ist schwierig, da sie neben der Funktion eines Gebäudes selten bewusst in Erscheinung treten. Nur dort, wo sie die Funktion aktiv unterstützen, wie beispielsweise in der Kirche oder im Hotel, haben sie primäre Bedeutung und dienen der Inszenierung eines bestimmten Raumerlebnisses. Die subjektive Raumerfahrung im Alltag, die Gefühle mit einbezieht,  beinhaltet die Schwierigkeit, über den Raum objektiv zu reden.  Es gibt daher auch für das Erzeugen von Atmosphären kein eindeutiges Vokabular in der Gestaltung. Wenn Architektur sich nicht wie bisher alleine auf Dinge und Raumbegrenzungen konzentriert sondern auf den Raum selbst im Sinne Böhmes als „Raum der leiblichen Anwesenheit“, dann können sich „durch Artikulation Räume unterschiedlichen Charakters bilden […]. Orientierungen, Bewegungsanmutungen, Markierungen sind solche Artikulationsformen. Sie schaffen im Raum Konzentrationen, Richtungen, Konstellationen.“[16] Diese bilden die Grundlage für neue Raumkonzepte. In der Architektur wird der Mensch immer noch als abstrahierter Körper gesehen und nicht als Leib behandelt, während die folgenden Beispiele in der bildenden Kunst anschaulich zeigen, wie der „Raum leiblichen Spürens“[17] nach Böhme artikuliert werden kann.

Um gestimmte Räume, die affektiv und emotional erlebt werden, geht es in den Werken der beiden Künstlerinnen Nan Hoover und Maria Nordman. Die Kunstwerke ermöglichen eine differenzierte Erfahrung der Leib-Raumbeziehung. Die spezielle Erfahrung, sich in den Kunstwerken zu befinden und leiblich zu spüren, entsteht gänzlich ohne Gegenstände und wird durch Licht- und Schattenräume evoziert. In Nan Hoovers Werk ist der Körper immer auch der Körper der Künstlerin selbst, der auf den Leib und seine Verflochtenheit mit dem Raum verweist. Maria Nordmans Raumgestaltung ermöglicht das leibliche Spüren von Raum anhand der spezifischen Erfahrung eines dämmrigen Raumes.

1. …with the given daylight and the given sound for one or two people

Maria Nordman, Varese 1976...with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Grundriss Schema.

Maria Nordman, Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Grundriss Schema.

Im Bereich der ehemaligen Stallungen der Villa Panza di Biumo in Varese in der Nähe von Mailand befindet sich das Kunstwerk „Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people.[18] der deutsch-amerikanischen Künstlerin Maria Nordman. Der Innenraum ist über zwei Schleusen zu betreten (Abb. 1), die Nordman als  „antirooms with doors“[19] bezeichnet. Die Vorräume sind neutral und je nach Intensität des Tageslichts über ein Fenster in der Tür zur Außenseite diffus beleuchtet (Abb. 2). Dieses Fenster in Augenhöhe ist mit einem teiltransparenten Spiegel versehen.

Maria Nordman, Varese 1976...with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Ansicht Vorraum.

Maria Nordman, Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Ansicht Vorraum.

Die beiden Eingänge weisen darauf hin, dass die Arbeit Nordmans für ein bis zwei Personen gleichzeitig gedacht ist. Der eigentliche Ausstellungsraum, eine leere Halle, erscheint im ersten Moment des Betretens vollkommen dunkel. Die BesucherInnen sehen zunächst nichts. Erst nach und nach lässt sich ein Raum ausmachen, der von einem dichten, dunklen Nebel gefüllt zu sein scheint. Nach einigen Minuten, in denen sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, lässt sich der Raum differenzierter wahrnehmen. Über zwei sehr schmale, raumhohe Lichtspalten in der Mitte der seitlichen Wand dringt kaum wahrnehmbar Tageslicht in den Raum, das diesen in zwei äußere, hellere Lichtvolumen und einen inneren, dunkleren Schattenkörper unterteilt. Maria Nordman bezeichnet die Wahrnehmung von Helligkeit in diesem Raum als „two bodies of daylight.“[20] Es sind verschiedene Abstufungen von Grau, die eine stoffliche Präsenz vermitteln und je nachdem eher der Helle oder der Dunkelheit zugewiesen werden. Die BesucherInnen sehen sich diesen Tageslichtkörpern  gegenüber und befinden sich gleichzeitig im Schatten, der sie selbst einhüllt. Da die Raumbegrenzungen kaum bis nicht wahrzunehmen sind, lässt sich die Größe des Raums nicht bestimmen. Der ganze Raum wirkt diffus, er scheint zu oszillieren und seine Dimensionen scheinen sich zu verändern.

Nach einer Weile werden Geräusche, die von draußen in den Raum dringen, präsent. Es sind zum einen Geräusche, die einzeln aus einer Richtung kommend wahrgenommen werden und so eine bestimmte Stelle im Raum markieren, wie das Rufen eines Kindes, oder sie schwellen an und nehmen ab, wie Schritte im Kies oder das Geräusch eines Rasenmähers, einmal näher kommend und sich wieder entfernend. Ähnlich wie bei der Dunkeladaption der Augen, die einige Minuten benötigen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, entwickelt sich das Hörereignis mit der Zeit. Losgelöst von ihren Quellen gewinnen die Geräusche damit eine räumliche Qualität.

Die Wahrnehmung des Dazwischen, des Zwischenraumes und der Zwischenzeit, also des negativen Raumes, sind im Werk Nordmans von größerer Bedeutung als die Wahrnehmung von Begrenzungen. Die meditative Atmosphäre in Nordmans Kunstwerk und die Raumaufteilung in Nebenräume und Hauptraum erinnert an die traditionelle japanische Architektur eines Teehauses. Tanizaki Jun’ichirō merkt dazu in seinem Essay über japanische Ästhetik Lob des Schattens[21] an: „Vermutlich ist mit dem ‘Mysterium des Ostens’, von dem die Abendländer reden, die unheimliche Stille gemeint, die solches Dunkel in sich birgt. Auch uns selbst überkam in der Jugendzeit jeweils eine unaussprechliche Furcht, ein Frösteln, wenn wir in die Wandnische eines Teeraums oder Studierzimmers hineinstarrten, wo kein Sonnenstrahl hingelangte. Wo liegt also der Schlüssel zu dem Mysterium? Ich will das Geheimnis lüften: Es lässt sich letzten Endes auf die Magie des Schattens zurückführen. Falls man die in allen Winkeln kauernden Schatten fortscheuchte, wäre die Wandnische augenblicklich nichts weiter als ein leerer Raum.“[22] Jun’ichirō beschreibt die Atmosphäre eines Schattenraumes, indem er Gefühle benennt, die er im Teehaus empfunden hat. Gernot Böhme definiert mit Bezug auf Hermann Schmitz Atmosphären als „ergreifende Gefühlsmächte“.[23] Es ist das Zusammenwirken von Raumproportion, Licht- und Schattenverhältnis, Materialität und Befindlichkeit des fühlenden Subjektes, das den Charakter des gestimmten Raumes ausmacht. Analog erzeugt die präzise Abstimmung dieser Faktoren durch die Künstlerin Maria Nordman die spezifische Atmosphäre, die dem Hauptraum in Nordmans Kunstwerk in Varese innewohnt. In ihren Beschreibungen verwendet Maria Nordman nie das Wort „spaces“ für ihre Räume, sondern bezeichnet diese als „rooms“ oder bevorzugt „places“, die somit einen stärkeren Ortsbezug haben. Ihrer Definition nach beschreibt der Terminus „space“ einen leeren Raum.[24] Nordmans Wahrnehmungsraum in Varese enthält zwar keine Dinge, aber er ist dennoch nicht leer. Der von der Künstlerin gestaltete Ort ist für die Funktion der Raumwahrnehmung bestimmt, er existiert erst durch die Auseinandersetzung mit ihm und wird dadurch zum erlebten und gelebten Raum. Würde man jedoch die Faktoren, die die charakteristische Atmosphäre prägen, weglassen, dann wäre auch dieser Raum wie in Jun’ichirōs Beschreibung „nichts weiter als ein leerer Raum“.

Neben Maria Nordman befinden sich weitere raumbezogene Arbeiten in der Villa Panza di Biumo in Varese wie beispielsweise von James Turrell und Robert Irwin, die eigens für die Kunstsammlung des Grafen Guiseppe Panza di Biumo in den 1970er Jahren installiert wurden. Die architektonischen Räume, die die Kunstwerke beinhalten, wurden nach den Plänen der KünstlerInnen in einem Um- und Zubau errichtet.

Die umfangreiche Kunstsammlung beinhaltet neben Action Painting, Newdada, Pop Art, Minimal Art und Conceptual Art auch Environmental Art. Unter der Bezeichnung Environmental Art fasst der italienische Kunstkritiker Germano Celant im Katalog zur Sammlung[25] die Wahrnehmungsräume der oben genannten Künstler sowie jene von Nauman, Orr, Bell und Wheeler zusammen. Die Künstler bearbeiten die vorhandenen architektonischen Räume und erzeugen mit Licht- und Schattenmodulationen spezifische Stimmungen. Wie James Turrell und Robert Irwin hat auch Maria Nordman Erfahrungen in einem (Schall-)reflexionsarmen, völlig dunklen Raum (anechoic chamber) gesammelt, die ihr künstlerisches Schaffen nachhaltig beeinflusst haben.

Germano Celant sieht in der sinnlichen Raum- und Körperwahrnehmung den gemeinsamen Nenner einer bestimmten Künstlergeneration der späten 1960er und 1970er Jahre an der Westküste der USA: „In den Räumen von Nauman, Orr, Wheeler, Asher, Irwin, Turrell und Nordman ist es in der Tat unmöglich, der Identität des eigenen Körpers zu entfliehen. Alles reduziert sich auf die Wahrnehmung eines Phänomens, das zwischen dem Innen und dem Außen und umgekehrt verläuft, ohne auf irgendeinem fest gefügten und quantifizierten Gegenstand oder Produkt zu verweilen.“[26]

Maria Nordman inszeniert eine Abfolge von Räumen und setzt Bedingungen für die Rezeption ihrer Kunstwerke, um die Wahrnehmung selbst zum bewussten Erlebnis zu machen. In Nordmans Schattenraum wird die Stofflichkeit der Dunkelheit zum Thema wie es auch Bollnow beschreibt. Die Umhüllung der Dunkelheit bezeichnet eine engere Beziehung zwischen Körper und Raum als der auf Distanz gehaltene Tagraum. „Es gibt in diesem Raum keinen Abstand, keine Ausdehnung im eigentlichen Sinn, und doch hat er eine eigentümliche Tiefe. Aber diese Tiefe ist anders als die Tiefendimension des Tagraums, denn sie verbindet sich nicht mit der Höhe und Breite, sondern die sich aller Quantifizierung entziehende Tiefe ist die einzige Dimension dieses Raums. Es ist eine dunkle und unbegrenzte Umhüllung, in der alle Richtungen gleich sind.“[27]

2. Movement from either direction

Aus der Malerei kommend inszeniert auch die Künstlerin Nan Hoover Schattenräume, die sich jedoch inhaltlich und technisch von dem Werk Nordmans unterscheiden. Während Maria Nordman ausschließlich mit dem Tageslicht arbeitet, setzt Nan Hoover Medien wie Kunstlicht, Dia- und Videoprojektoren ein. Sowohl in ihren Videoinstallationen in Innenräumen als auch in ihren Lichtinstallationen in Außenräumen vermitteln Schattenprojektionen das unbehagliche Gefühl einer unbekannten physischen Präsenz, selbst wenn es nur der eigene Körperschatten ist, der in Erscheinung tritt.

Nan Hoover, Movement from either direction, 1995, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Raumansicht.

Nan Hoover, Movement from either direction, 1995, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Raumansicht.

Neugier und emotionale Reaktion evoziert etwa die Videoinstallation Movement from either direction (1995, Abb. 3) in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Im schwarz gestrichenen Ausstellungsraum ist ein weiterer Raum errichtet, dessen Wände mit blauem Licht angestrahlt werden. In diesen blau ausgeleuchteten Raum werden übergroße menschliche Schatten projiziert, die sich langsam im Raum von links nach rechts und umgekehrt bewegen.

 

„a room within a room

standing at the door i

watch a shadow moving in the corner“[28]

 

Es handelt sich dabei um die Schattenprojektion der Künstlerin und ihres Assistenten. Die Schattenprojektionen animieren die BetrachterInnen aktiv zu werden, den Raum zu durchschreiten und den bewegten Schattenbildern zu folgen. Sie übertragen die spezifische Geschwindigkeit und Art der Bewegung, die die Künstlerin vorgibt, auf den Raum.

Das dunkle intensive Blau stimmt den Raum vergleichbar mit der Atmosphäre der Abenddämmerung. Die Wirkung der Farbe Blau verstärkt das Raumgefühl der Tiefe. Im schwachen Licht sind die BesucherInnen der Ausstellung selbst nur undeutlich als Konturen zu erkennen, die sich wie Schattengestalten durch den Raum bewegen und dabei gewollt oder ungewollt den Rhythmus der Schattenprojektionen brechen. Für die BesucherInnen erschließt sich deshalb die Herkunft der Schatten nicht eindeutig. Die Schattenprojektionen werden von den realen Schatten der BesucherInnen überlagert, aber da sie nie dieselbe Größe erreichen, führt das zu einer weiteren Irritation. Neben der emotionalen Ebene – den Gefühlen, die beim Betreten dieses Schattenraums entstehen – stellen sich auch Fragen nach dem Verhältnis von Schein und Wirklichkeit. Nan Hoover sucht den Dialog mit den BetrachterInnen, indem ihr Kunstwerk Fragen stellt, für die es keine universelle Antwort gibt. Vielmehr will die Künstlerin die Imaginationsfähigkeit bei den BetrachterInnen anregen. „If you are given something very concrete, then there is no reason for the imagination to be activated.“[29]. Diese Befragung findet nicht allein in der Anschauung mithilfe des Verstandes statt sondern auch auf der sinnlich-emotionalen Ebene des leiblichen Spürens.

Die BetrachterInnen werden selbst zu AkteurInnen, die sich durch experimentell erzeugte raumgreifende Schattenbilder der eigenen Körperwirkung auf den Umgebungsraum nach und nach bewusst werden.

Nan Hoover, Light Composition, 1986, Performance in der Kunsthalle Kiel.

Nan Hoover, Light Composition, 1986, Performance in der Kunsthalle Kiel.

Die Gestaltung der Lichtkomposition für die oft interaktiven Licht-Rauminstallationen ist mit jenen der Performances der Künstlerin vergleichbar.  In den Performances mit dem Titel Light Composition (Abb. 4 & 5), in denen sie ihren Körper in Relation zum umgebenden Raum in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, arbeitet die Künstlerin stets mit der Architektur des Raums und dessen Dimensionen. Entsprechend der ortsspezifischen Herangehensweise entwickelt die Künstlerin für jeden Veranstaltungsort einen genauen Lichtplan, wobei für jede Performance, auch an denselben Orten, ein eigenes Konzept erstellt wird. Die Künstlerin will damit auch die möglichen Variationen, die der jeweilige Raum zulässt, aufzeigen.[30] Allen Orten gemeinsam ist die dunkle Grundstimmung. Das Publikum und die Bereiche des Veranstaltungsraums, die nicht bespielt werden, sind unbeleuchtet. Hoover verwendet farbige Lichtfilter und schwarzes Tonpapier, um mit mehreren Diaprojektoren geometrische Formen auf die Wände zu projizieren. Sie bevorzugt Projektionslicht, daher verwendet sie Diaprojektoren, die annähernd parallele Projektionsstrahlen erzeugen und der Qualität von Sonnenlicht nahe kommen.

Nan Hoover, Light Composition, 1988, The Australian Center for Photography, Sydney.

Nan Hoover, Light Composition, 1988, The Australian Center for Photography, Sydney.

Die Beleuchtung verändert sich während der Performance nicht, dennoch verändert sich die Lichtwirkung im Raum durch die Bewegungen der Künstlerin. Nan Hoover trägt einen weißen Anzug, die Arme hängen seitlich, während sich die Künstlerin sehr langsam dreht oder in eine bestimmte Richtung bewegt. „It´s another feeling in time, when there is not any interruption. I move very slowly. I am concentrated. I can feel a little bit of light coming on the side of my cheek. With my peripheral vision, I can feel the light coming across my cheek, the corner of my jaw. I just shift my body very slowly and let the light roll across my face, and then of course turn and confront the audience with a stripe from one ear going across my nose to my other ear.“[31]

Nan Hoovers Bewegungen sind fließend, ohne Unterbrechung und beinahe unmerklich. So dreht sich beispielsweise die Schulter der Künstlerin in den Strahlengang der Lichtprojektion und erzeugt Schattierungen und Farben, die wechselnde Raumbilder in der Rezeption entstehen lassen. Im Rhythmus von Licht und Schatten entfalten sich aus der ebenen Projektionsfläche scheinbar Volumina, deren Ausdehnung sich im zeitlichen Ablauf verändern. Schließlich werden auch Zwischenräume und Nuancen der Schattierungen sichtbar, die sich aus der Imagination mit der Wahrnehmung überlagern.

Im Œuvre Hoovers finden sich öfter ein oder mehrere diagonale Elemente, die an den schrägen Lichteinfall des Tageslichts erinnern. Die Schrägheit ist daneben nach Arnheim ein Synonym für Bewegung, „Die schräge Richtung ist wahrscheinlich das grundlegendste und wirksamste Mittel zur Erzeugung einer gerichteten Spannung. Schrägheit wird spontan als ein dynamisches Streben wahrgenommen (…).“[32]

In den Performances Hoovers wird offensichtlich, dass der Körper ein wichtiger Referenzfaktor für die Wahrnehmung von Dimensionen und Formen im Licht- und Schattenraum ist. Wesentlich ist die Bewegung des Körpers und somit sich verändernde Raumpositionen, die aus der statischen Beleuchtung eine dynamische und räumlich wirkende Licht- und Schattenkomposition erschaffen. Bereits minimale Positionsveränderungen des Körpers beeinflussen die Wahrnehmung von Helligkeit, Farben und Schattierungen im Raum. Der Tiefeneindruck entsteht durch Überlagerung von Licht-und Schattenformen, die als Schichtung im Raum gelesen werden.[33] Die Interaktion von Körper und Licht erzeugt so eine Abfolge von Raumbildern mit unterschiedlicher Tiefenwahrnehmung.

Dabei dehnt Nan Hoover das Zeiterlebnis in ihren Stimmungsräumen mittels der ungewöhnlichen Langsamkeit ihrer Bewegungen und der Stille, die sie dabei umgibt, und begünstigt dadurch die sinnliche Wahrnehmung von Atmosphären.

Oft wurde das Lichtarrangement für die Dauer einer  Ausstellung beibehalten, wie beispielsweise auf der Documenta 8 1987 in Kassel. Die Performance fand nur einmal am Eröffnungstag statt und der Raum war anschließend für die BesucherInnen geöffnet, die nun selbst Gelegenheit hatten, Schattenkompositionen zu entwickeln und subjektive Raumerfahrungen zu machen.

3. Genuine Raumerfahrung

Die von Nordman und Hoover gestalteten Schattenräume beziehen die Rezeption mit ein und trennen nicht zwischen Objekt und Subjekt. Sie entsprechen Böhmes Definition vom „Raum der leiblichen Anwesenheit“ und der Atmosphäre, das Kunstwerk vollzieht sich im leiblichen Spüren. Mit Bezug auf Dieter Hoffmann-Axthelm stellt Böhme fest, „daß Wahrnehmen immer auch zugleich Nichtwahrnehmen bedeutet.“[34] Dies bewahrheitet sich im Wahrnehmungsraum Nordmans in der Villa Panza di Biumo, der zugleich leiblich spürbarer Dämmerungsraum und negativer Raum ist. Er zeichnet sich durch seine Unbestimmtheit aus und berührt dadurch den Gefühlsraum des Menschen.

Nan Hoover experimentiert und irritiert mit bewegten Schattenkompositionen, indem sie wie etwa in Movement from either directions den Schattenwurf von Körpern mit projizierten Schattenbildern überlagert. In den Performances ist die Kausalität der Schatten für das Publikum prinzipiell nachvollziehbar, aber die Komplexität der Überlagerungen von Lichtprojektion, Reflexion und Schattenwurf in Kombination mit Bewegung und Zeit beinhaltet eine nicht artikulierbare Wahrnehmungsdimension im subjektiven Erleben. Gerade dadurch wird die Aufmerksamkeit des Publikums gesteigert und die Wahrnehmungsweise selbst infrage gestellt.

Hoover und Nordman untersuchen die Grenzen der Sichtbarkeit und beziehen dabei den Leib in die Wahrnehmung mit ein. Die Rezeption ihrer Kunstwerke verlangt eine neue Wahrnehmungsweise, ein neues und anderes Sehen als das kulturell geprägte Sehen von Objekten und ihren Abständen. Hier beinhaltet Sehen zugleich Staunen und Reflexion. Es geht überdies um die Erfahrung und das Erkennen komplexer Prozesse, die Räume und somit Atmosphären bilden. Die von den Künstlerinnen gestalteten neuen Räume stellen für die Architektur Modellsituationen dar, die das gestalterische Denken anregen. Die genuine Raumerfahrung steht im Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit und bildet den Ausgangspunkt für das Verständnis von Atmosphären.


[1] Rudolf Arnheim, To the Rescue of Art. Twenty-Six Essays, Berkeley/Los Angeles 1992, S. 92, vgl. dazu die Videodokumentation des öffentlichen Vortrags „Der negative Raum, Teil 1“ von Peter Weibel am Institut für Raumexperimente (Prof. Olafur Eliasson) an der UdK Berlin vom 8. Mai 2009, http://www.raumexperimente.net/de/single/peter-weibel-the-negative-space-part-i/ [06.08.2013].
[2] Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963.
[3] Ebd., S. 215.
[4] Ebd., S. 216.
[5] Ebd., S. 214.
[6] Ebd., S. 229.
[7] Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 16.
[8] Wolfgang Meisenheimer, Der Rand der Kreativität, Wien 2010, S. 101.
[9] Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 19.
[10] Böhme 2006, S. 16.
[11] Gernot Böhme, Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellungen, in: V. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2010/2011, Jürgen Hasse/Robert Josef Kozljanic (Hg.), München 2010, S. 51.
[12] Böhme 2006, S. 16, vgl. Bollnow 1963, S. 17.
[13] Böhme 2010, S. 53, vgl. Bollnow 1963, S. 231.
[14] Böhme 2006, S. 106.
[15] Ebd., S. 107.
[16] Ebd., S. 113.
[17] Ebd.
[18] Germano Celant (Hg.), Das Bild einer Geschichte 1956/1976. Die Sammlung Panza di Biumo. Die Geschichte eines Bildes. Action painting, Newdada, Pop art, Minimal art, Conceptual, Environmental art (Kat.), Mailand 1980, S. 315.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Zürich 1987.
[22] Ebd., S. 38.
[23] Böhme 2006, S. 19.
[24] Ebd.
[25] Celant 1980.
[26] Ebd., S. 295.
[27] Bollnow 1963, S. 227.
[28] Nan Hoover, Night letters, Köln 2000, S. 79.
[29] Nan Hoover in: Rob Perrée, Dialogue: About Nan Hoover, Köln 2001, S. 27.
[30] Nan Hoover, Light and Space (Vortrag), Technische Universität Graz, 11. 04. 2005.
[31] Nan Hoover in: Rob Perrée, Dialogue: About Nan Hoover, Köln 2001, S. 40.
[32] Vgl. Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin New York 2000, S. 426.
[33] Vgl.  ebd., S. 242ff.
[34] Böhme 2001, S. 33.
[35] Böhme 2001, S. 33.

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Impatience et Stress

Der künstlerische Beitrag von Thomas Tudoux ist diesmal keine Bildstrecke im klassischen Sinne sondern eine Intervention auf den Seiten der Magazins. Neben dem Covermotiv stress nutzen die Einzelbildanimationen aus der Reihe impatience den ambivalenten Status der digitalen Seite.

stress (Covermotiv)
Holz, 10 × 0,80 cm, 2010

In dieser Arbeit wird Stress in einem künstlerischen Prozess genutzt. Er wird zur skulpturalen Geste, welche sich direkt im Material einschreibt.

impatience (Bildsequenzen auf den Magazinseiten)
Bildschirmschoner und Installation, 2011
Programmation : Ewen Chauvel, télécharger sous thomas.tudoux.free.fr

Impatience ist ein Bildschirmschoner der als Eingriff in bestehende Umgebungen in Erscheinung tritt. Die Arbeit überträgt unsere Gesten der Ungeduld auf die Computer. Auf diese Weise gibt sie den Momenten der Inaktivität einen Rhythmus.


Quellennachweis: Thomas Tudoux, Impatience et Stress, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1437.

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Rainer Fettings Fotografie

Anfang der 1980er Jahre zählte Rainer Fetting (* 1949) zu den bekanntesten Malern der damals aufstrebenden „Jungen Wilden“. Die Werke des Absolventen der Berliner Hochschule der Künste wurden auf bedeutenden Ausstellungen wie „A New Spirit in Painting“ 1981 in der Londoner Royal Academy gezeigt und Fetting wurde von wichtigen Galeristen wie Mary Boone in New York vertreten. Selbst als Ende der 1980er Jahre die „Heftige Malerei“ an Popularität verlor, blieb der Künstler weiterhin – wenngleich auch etwas weniger prominent – auf dem Kunstmarkt präsent. Dies wurde unter anderem durch wichtige Skulpturaufträge gefördert, wie zum Beispiel 1996 die Plastik Willy Brandts in der SPD-Parteizentrale in Berlin und seit 2005 die Bronzeplastik für den Henri-Nannen-Preis. Zurzeit werden Rainer Fettings seit den frühen 1970er Jahren entstandenen Fotografien wieder lanciert. Anlässlich einer fast fünfhundert Seiten umfassenden Publikation mit rund fünfhundert Fotografien Fettings wird in der Galerie Deschler ab dem 19. Oktober 2012 eine vom Künstler selbst getroffene Auswahl an Aufnahmen aus verschiedenen Schaffensphasen in einer bis zum 16. Februar 2013 verlängerten Einzelausstellung präsentiert.[1] Die Fotografien illustrieren nicht nur Fettings künstlerisches Lebensumfeld und unterstützen sowie dokumentieren die Entstehung seiner Gemälde und Skulpturen, sondern sollen auch als „künstlerische Werke für sich“ stehen.[2]

Ausstellungsansicht Galerie Deschler, Berlin.

Abb. 1: Ausstellungsansicht Galerie Deschler, Berlin.

Wenn man von der entspannten Shopping- und Flanieratmosphäre der Auguststraße in Berlin-Mitte kommend die Galerie betritt, wird man zunächst in eine wesentlich rasantere amerikanische Großstadtverkehrsatmosphäre Ende der 1970er Jahre versetzt. Denn im Eingangsbereich sind Farbaufnahmen zu sehen, die während Fettings erstem Aufenthalt in New York entstanden sind. Sie werden als großformatige C-Prints auf Aludibond in mehrteiligen Friesen präsentiert. Auf bekannten Brücken fotografierte Fetting aus einem Taxi heraus den Blick auf die New Yorker Stadtsilhouette, auf andere Autos und ein anderes Taxi mit dem signifikanten ‚checkered band‘. Der Titel der ersten Aufnahme „Flucht aus New York“ der dreiteiligen Folge verweist auf einen biographischen Hintergrund der Fotos, nämlich Fettings überstürzte Abreise aus den USA aufgrund zu erwartender Repressionen wegen seines homosexuellen Lebenswandels. In einem zweiten Fries werden Aufnahmen von damals populären wuchtigen Trucks mit Selbstportraits von Fetting im New Yorker Straßengewirr konfrontiert. Darüber hinaus hat Fetting Aufnahmen von sich selbst in der damals weitaus weniger sicheren und chaotischeren Subway gemacht und nun als vierteilige Folge arrangiert. Grob gewählte Ausschnitte, bewusst eingesetzte Unschärfen, die filmschnittartige Reihung der Aufnahmen und Anleihen bei Filmen von Martin Scorsese sollen anscheinend bei den Fotosequenzen Dynamik und Spannung erzeugen.

Rainer Fetting, Claus Gässler, Pilatus, 1982, C- Print auf Aludibond, 100 x 150 cm, Ex. 1/3.

Abb. 2: Rainer Fetting, Claus Gässler, Pilatus, 1982, C- Print auf Aludibond, 100 x 150 cm, Ex. 1/3.

Im anschließenden Galeriebereich werden unterschiedlich große Einzelaufnahmen in ‚Petersburger Hängung‘ gezeigt. Die Fotografien sind von 1974 bis nach der Jahrtausendwende entstanden. Durch die dargestellten Weggefährten und bevorzugten Modelle sowie Liebhaber und Freundinnen Fettings haben sie einen eher privaten und oft intimen Charakter. Fetting partizipierte an der gleichgeschlechtlichen Bewegung in Berlin und den Bemühungen um die Abschaffung des Paragraphen 175. Besonders bekannt ist Fetting für seine männlichen Aktdarstellungen, mit denen er gleichgeschlechtliche Erotik auf betont natürliche Weise darstellen will. Mit dieser Intention hat er den Künstler Salomé und Claus Gässler unbekleidet in spontanen und verspielt-frivolen Fotografien festgehalten (Abb. 2). Zuvor waren in der Kunstgeschichte zumeist Frauenakte Träger männlicher Begierde. Mit ihrem amateurhaften Charakter unterscheiden sich Fettings Aufnahmen deutlich von den betont inszenierten und technisch perfekten Aktfotografien von Robert Mapplethorpe. Einen direkteren Affront gegen die hegemoniale Heterosexualität stellen Bilder von Fetting mit Salomé in Frauenkleidern und von dem bekannten Modell Desmond Cadogan als Drag Queen dar. Nicht nur aufgrund der Travestiethematik, sondern unter anderem auch wegen der autobiographischen Bezüge liegt natürlich ein Vergleich von Fettings Aufnahmen mit Nan Goldins Fotografien der amerikanischen Subkultur nahe. Goldin hat jedoch größere kompositorische und technische Ansprüche als Fetting. Zudem geht die amerikanische Fotografin mit eindrücklichen Schlafzimmerszenen, wo Paare ohne Blick- und teilweise ohne Körperkontakt zu sehen sind, sowie melancholischen Einzeldarstellungen auch auf Schattenseiten wie körperliche und seelische Unerfülltheit ein. Auch konnte Goldin mit ihren sehr persönlichen Aufnahmen AIDS-kranker Freunde zur Enttabuisierung der damals neuen Krankheit beitragen. Diese negativen Themen bleiben in den ausgestellten Aufnahmen Fettings gänzlich ausgespart. Bei der Galeriepräsentation ist zudem auffällig, dass Fetting selbst im vorangeschrittenen Alter den gesellschaftlich sehr dominanten Jugendkult unterstützt und sich nicht mit der Thematik des Alterns auseinandersetzt. So favorisiert er weiterhin betont junge und schöne Modelle und zeigt auffällig viele Selbstportraits aus seiner frühen Schaffensphase.

Fettings sehr unkritisch wirkende Haltung wird auch an seinen Aufnahmen der Berliner Mauerumgebung deutlich, die in einem kleineren, hinteren Raum der Galerie Deschler präsentiert werden. So fotografierte der Künstler 1975 den Berliner Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße als alltägliches Faktum mit einer betont nachlässigen Aufnahme aus dem Fenster heraus. Für den damals abgesehen von seiner Aufgeschlossenheit gegenüber der gleichgeschlechtlichen Emanzipation sehr unpolitischen Fetting stellte die Mauer ein Schutzschild dar, hinter dem sich eine liberale Subkultur und ein intensives Nachtleben entfalten konnten.[3] Auf Fettings abendlicher Aufnahme „Mauer Sebastianstraße Nacht“ (Abb. 3) aus dem Jahr 1978 ist so passenderweise die Mauer ins Dunkel gehüllt. Der Akzent liegt stattdessen auf den hell leuchtenden Straßenlaternen. Die Bedeutung der Mauer für die Menschen auf der anderen Seite und den Ost-West-Konflikt klammert Fetting jedoch aus.

Rainer Fetting, Mauer Sebastianstraße Nacht, Berlin 1978, C-Print auf Aludibond, 150 x 100 cm, Ex. 1/9.

Abb. 3: Rainer Fetting, Mauer Sebastianstraße Nacht, Berlin 1978, C-Print auf Aludibond, 150 x 100 cm, Ex. 1/9.

Von den New Yorker Stadtansichten Fettings hätte ein Motiv eine sorgfältiger komponierte Aufnahme verdient, um den besonders eindrücklichen Charakter noch besser entfalten zu können. Fetting besuchte natürlich auch die alten Piers in New York. Hier konnte sich in Fußnähe zum World Trade Center eine alternative homosexuelle Subkultur in den 1970er Jahren entfalten. Die Piers dienten nicht nur als Cruising-Zone, sondern auch für die Realisierung von Kunstprojekten. Dies hat beispielsweise Alvin Baltrop in seinen lange kaum beachteten Fotografien dokumentiert. Fetting legt in einer Aufnahme der „Alten Piers“ aus dem Jahr 1987 (Abb. 4) jedoch nicht den Akzent auf die subkulturellen Aktivitäten, sondern auf den Kontrast zwischen den nahen Stadtbauten und den ruinösen Pier-Strukturen, die als erhaben wirkender Freiraum erscheinen. Zu jener Zeit wurde die Pier-Gegend infolge der vielen AIDS-Opfer und der Angst vor HIV auch viel weniger für die gleichgeschlechtliche Kontaktsuche als früher genutzt.

Im Untergeschoß der Galerie Deschler werden weitere Aufnahmen Fettings unter anderem aus New York präsentiert, die in den 1990er und 2000er Jahren entstanden sind. Aufnahmen von Taxis oder der nächtlichen Skyline-Beleuchtung sind mit ihren Unschärfen betont malerisch inszeniert. Ähnlich wie die auf den Fotos basierenden Gemälde wirken sie jedoch trotzdem dekorativ und klischeehaft. Darüber hinaus sind im Basement auch einige spätere U-Bahn-Aufnahmen Fettings zu sehen, die inspiriert sind von Mark Rothkos U-Bahn-Szenen aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Ähnlich wie in Rothkos Gemälden versucht Fetting die Subway-Architektur und ihre BenutzerInnen auf abstrahierende Weise in den Aufnahmen einzufangen, die als Vorlagen seiner U-Bahn-Gemälde dienten. Fettings Hauptaugenmerk gilt den Formen und Proportionen der architektonischen Gegebenheiten, hinter denen die Menschen häufig schemenhaft zurücktreten. Eine lebendige Aufnahme stellt einen Mann dar, der von zwei Polizisten verfolgt wird. Diese Szene erinnert eher an die Tradition der New Yorker „Street Photography“, die auch in der U-Bahn unter anderem von Walker Evans und Bruce Davidson praktiziert worden ist und nun in Christophe Agou einen würdigen Nachfolger gefunden hat.

Rainer Fetting, Alte Piers, Blick zum West Side Highway, Hudson River, New York, 1987, C-Print auf Aludibond, 100 x 150 cm, Ex. 1/9.

Abb. 4: Rainer Fetting, Alte Piers, Blick zum West Side Highway, Hudson River, New York, 1987, C-Print auf Aludibond, 100 x 150 cm, Ex. 1/9.

Fetting vertritt mit seiner Art zu fotografieren einen ästhetisch ähnlichen Ansatz wie in seiner betont „heftigen Malerei“. Im Kontrast zu konzeptuellen Fotografien, beispielsweise von Bernd und Hilla Becher, nutzt Fetting die Kamera für einen betont spontanen, subjektiven und antiintellektuellen Zugang zur Wirklichkeit. Stilistisch prägt sich dies in grob gewählten Ausschnitten und Unschärfen aus, die gewollt amateurhaft anmuten. Es ist begrüßenswert, dass im allgemein immer noch stark auf technische Perfektion bedachten Fotografiebereich auf Bildschärfe verzichtet wird, wenn dies denn tatsächlich dem Ausdruck und der Atmosphäre dient. Auch ist es sympathisch, dass Fetting die älteren Aufnahmen nur mit einer diskreten Kompaktkamera wie zum Beispiel der Olympus XA fotografiert und auf überflüssiges und teures Equipment verzichtet hat.

Früher präsentierte Fetting seine Aufnahmen auch als Diashows mit persönlichen Erzählungen im Freundeskreis.[4] Dies scheint für die amateurhaften, privaten und intimen Aufnahmen sehr angemessen zu sein, auch wenn es sich nicht so gut vermarkten lässt wie die technisch makellosen Neuabzüge auf Aludibond, die in reglementierter kleiner Auflage erhältlich sind.[5] Erst als Ende der 1990er die Fotografie immer lukrativer und populärer auf dem Kunstmarkt wurde, bemühte man sich verstärkt, Fettings Fotografien in Ausstellungen zu zeigen und in wichtigen Katalogpublikationen abzubilden. Dies bot – ähnlich wie zuvor die skulpturalen Arbeiten – die Möglichkeit, das Profil des Künstlers zu erweitern und diesen als vielseitig und zudem progressiv zu präsentieren. Denn Fetting wird bis heute immer noch häufig mit der neoexpressionistischen Malerei in Verbindung gebracht. Mit dieser hatte der Künstler zwar zu Beginn seiner Karriere viel Erfolg, doch unterlag seine Malerei auf dem Kunstmarkt einem fluktuierenden Interesse.[6] Entgegen der Presseinformation der Galerie Deschler werden in der aktuellen Ausstellung die Fotografien von Fetting auch nur bedingt „zum ersten Mal in diesem Umfang einem weiteren Publikum zugänglich gemacht“[7]. Schon 2005 wurden in der Ausstellung „Wilde Jahre“ in der Hamburger Galerie Borchardt viele Fotografien des Künstlers aus immerhin drei Jahrzehnten präsentiert. Aufgrund des amateurhaften Aufnahmestils und auch wegen der subjektiven und unkritischen Inhalte scheint die Vermarktung von Fettings Fotografien jedoch schwierig zu sein. So klagte Fetting im Oktober 2012 in einem Interview in der Zeitschrift Monopol: „Was in meinen Fotos steckt, hätte also schon ein bisschen früher auffallen können. Aber es ist ja nie zu spät.“[8] Bei der Ausstellung „Rainer Fetting. Berlin“ in der Berlinischen Galerie wurde Fetting im Jahr 2011 als künstlerischer Vorläufer für die innovative Kreativität und den subkulturellen Chic, mit dem sich Berlin heute zu profilieren versucht, präsentiert. Damit wurde die kunsthistorische Bedeutung der fast 40jährigen Schaffenszeit Fettings unterstrichen.[9] Die Situation scheint günstig zu sein, erneut das Kunstmarktinteresse auch auf Fettings Fotografien mit einem opulenten Fotobuch sowie einer exzellent und abwechslungsreich präsentierten Galerieausstellung zu lenken. Sowohl in der Ausstellung als auch in der Publikation ist allerdings der Verzicht auf eine genaue Trennung von dokumentarischen Aufnahmen, privaten Schnappschüssen und Kunstfotografien sowie die Zurückhaltung bei detaillierteren Erläuterungen problematisch. Auch hätte bei der Galeriepräsentation historisch genauer zwischen der Entstehung der Aufnahmen und den häufig viel jüngeren Abzügen und ihrer zeitgenössischen Installation als mehrteilige Friese unterschieden werden können. Auffällig ist darüber hinaus, dass sowohl in dem Fotobuch als auch in der Ausstellung gänzlich auf den visuellen Vergleich mit den Gemälden Fettings verzichtet wird. Denn Fettings Neoexpressionismus scheint in den häufig auf den Aufnahmen basierenden Gemälden doch noch dynamischer und kunstvoller als in den amateurhaften und teuren Fotografien.[10]

Rainer Fetting ­– Fotografie, Galerie Deschler, Berlin, 19. Oktober 2012 – 16. Februar 2013 (verlängerte Laufzeit).


[1] Rainer Fetting, Photography, Berlin (Edition Braus) 2012.
[2] Galerie Deschler, Pressetext, URL: http://www.deschler-berlin.de/Ausstellungen/1204_RF_Fotografie.htm [22.02.2013].
[3] Rainer Fetting/Heinz Stahlhut, Katalog und Interview, in: Fetting, Köln 2009, S. 34-387, S. 182.
[4] Gepräch Rainer Fetting – Desmond Cadogan, in: Fetting 2012, S. 205-242, S. 207. Fetting zeigte zwar schon 1977 einige seiner Aufnahmen in einer Fotografieausstellung in der Galerie am Moritzplatz, seinen künstlerischen Durchbruch erreichte er jedoch mit seinen Gemälden – vgl. Gespräch Rainer Fetting – Elena Podlubnaja, in: Fetting 2012, S. S. 85.
[5] Die Preise liegen zwischen 1.500 Euro für die kleineren Abzüge der New Yorker Subway und 55.000 Euro für die siebenteilige Serie der Trucks und den Selbstportraits – vgl. Johannes Wendland, Berliner Mauer – leicht verwischt, in: Handelsblatt, 5.12.2012, URL: http://www.handelsblatt.com/panorama/kunstmarkt/rainer-fetting-berliner-mauer-leicht-verwischt-seite-all/7480824-all.html [22.02.2013].
[6] Zur Entwicklung von Fettings Werkpreisen auf dem Kunstmarkt siehe Ute Strimmer, Punk als Lebensgefühl. Marktcheck Rainer Fetting und „Junge Wilde“, in: artnet.de, 16. September 2011, URL: http://www.artnet.de/magazine/marktcheck-rainer-fetting-und-junge-wilde/ [22.02.2013].
[7] Galerie Deschler, Pressetext, URL: http://www.deschler-berlin.de/Ausstellungen/1204_RF_Fotografie.htm [22.02.2013].
[8] Interview von Jens Hinrichsen mit Rainer Fetting: Letzte Ausfahrt Manhattan, in: Monopol, 10/2012, S. 46-57. Vgl. auch die kritischen Rezensionen zu Fettings aktueller Foto-Ausstellung von Michaela Nolte und Hannah Nelson-Teutsch – Michaela Nolte, Salomé und Nosferatu, in: Tagesspiegel, 17.11.2012; Hannah Nelson-Teutsch, Is “Photography” Just A Smack In The Face?, in: berlin art parasites, 8.1.2013, URL: http://www.berlin-artparasites.com/review/Review-Rainer-Fetting-Photography-Deschler-Gallery-1593.html [22.02.2013].
[9] Vgl. u.a. Klaus Wowereit, Grußwort, in: Ausst.-Kat. Rainer Fetting. Berlin, Berlinische Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, 15.4. – 12.9.2011, München 2011, S. 6.
[10] Der Neoexpressionismus ist jedoch mit wichtigen Argumenten u.a. von Benjamin Buchloh und Hal Foster kritisch hinterfragt worden – vgl. Benjamin Buchloh, Figures of Authority, Ciphers of Regression: Notes on the Return of Representation in European Painting, in: October 16, Spring 1981, S. 39–68; Hal Foster, The Expressive Fallacy, in: Art in America 71 (January 1983), S. 80-83, 137.

Quellennachweis: Viola Rühse, Rainer Fettings Fotografie. Zur Vermarktung des “Wilden”, in: ALL-OVER, Nr. 4, Frühjahr 2013, URL: http://allover-magazin.com/?p=1408.

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Ausgabe #4

Editorial

Matthias Moroder
Richard Serras Berlin Block (for Charlie Chaplin)
Serra gegen van der Rohe oder eine paradigmatische Skulptur in ihrem Verhältnis zur Architektur

Barbara Reisinger
Zwischen Zeichnung und Schrift
Zum Verhältnis von Erfahrung und Diskursivität bei Robert Morris und Jacques Derrida

Alexis Ruccius
Die Interpretation der Tonempfindung
Stephan von Huene und Hermann von Helmholtz

Thomas Tudoux
Impatience et Stress

Viola Rühse
Rainer Fettings Fotografie
Zur Vermarktung des „Wilden“

Die vollständige Ausgabe von ALL-OVER #4 gibt es hier als PDF zum Download.

Quellennachweis: ALL-OVER, Nr. 4, Frührajhr 2013. URL: http://allover-magazin.com/?p=1446.

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