Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) zeigt seit Anfang Februar unter dem Titel Ed Atkins. Corpsing eine Ausstellung des britischen Videokünstlers. Zwei digital generierte Videoarbeiten des Künstlers bespielen achthundert Quadratmeter Ausstellungsfläche im MMK. Die gesamte erste Ebene des Museums nimmt die fünf-kanalige Videoarbeit Hisser (2015/2017) ein. Eine zweite Arbeit, die vierkanalige Videoinstallation Safe Conduct (2016), wird in der zweiten Etage gezeigt.
Ed Atkins’ Hisser
Vier große Räume füllt die am Computer generierte Videoarbeit Hisser von Ed Atkins. Im davorliegenden Raum, der Eingangshalle des MMK, ist ein Poster mit Wolfsmotiv, welches in Hisser wieder auftauchen wird, angebracht; ansonsten ist die große Halle lediglich von den Stimmen und der Musik, die Atkins Arbeit begleiten, erfüllt. Im ersten Raum sind drei Leinwände gleicher Größe hintereinander gestaffelt aufgestellt, sodass von einem Blickwinkel aus die Betrachtung aller drei Projektionsflächen gleichzeitig möglich ist (Abb. 1). Sie alle zeigen simultan die Videobilder von Hisser; die Arbeit tritt im Raum folglich verdreifacht auf. Folgt man dem Ausstellungsaufbau in die zwei folgenden Räume wird jeweils eine Leinwand von unterschiedlicher Größe sichtbar. Auch sie zeigen die gleichen, simultan ablaufenden Bilder aus Hisser. Im zweiten, sehr weitläufigen Raum ist es den BetrachterInnen aufgrund der Raumgröße gestattet, einen weiten Abstand zur Projektionsfläche einzunehmen. Im darauffolgenden dritten Raum hingegen verdoppelt sich die Größe der Leinwand, während die Weitläufigkeit des Raumes abnimmt – so werden die BetrachterInnen dicht vor die Leinwand gezwungen. Den Blick vom Geschehen in Hisser abzuwenden ist in diesem Raum nicht mehr möglich. Durch die Unterschiedlichkeit der Räume und der Bildflächen schafft Atkins verschiedenartige Zugänge zur Arbeit.
Schuld und Sühne bei Ed Atkins
Auf den fünf Projektionsflächen, die Hisser zeigen, erscheint immer wieder das Gesicht einer männlichen Figur, deren hyperrealistische Nachbildung jede Gesichtspore zu erkennen gibt. Als wären die BetrachterInnen stille BeobachterInnen eines zum Leben erwachten Puppenhauses, zeigt das Video eine Seitenansicht des Schlafzimmers des Protagonisten (Abb. 2). Doch in diesem Schlafzimmer ist keine Intimität zu finden: Wie in einem verlassenen Jugendzimmer hängen vergessene Poster an der Wand. Eines von ihnen zeigt das erwähnte Wolfsmotiv, das auch in der Eingangshalle des MMK zu sehen ist. Das Bett ist längst zu klein geworden für seinen Bewohner; ein Fernseher zeigt stets ein weißes Bild. Die Fotografien, welche die Figur in einer Szene durch die Finger gleiten lässt, sind wie ausradiert. Trotz der zahlreichen Blumen und des reich gefüllten Bücherregals wirkt der Raum unbewohnt, leer sogar.
Mal belebt die Figur die Szene, mal ist das Zimmer allein mit sich. Mal ist die Einstellung mit melancholischer Pop-Musik unterlegt, mal ist nur Straßenlärm und ein Atmen zu hören. Begegnet uns der Protagonist, ist er stets niedergeschlagen. Mit vor Trauer verzerrtem Gesicht wird zum Lied angestimmt: „I didn’t know life was so sad“. Doch woher kommt diese Trauer? An anderer Stelle heißt es nur „I didn’t know … sorry … sorry … sorry“. Wofür entschuldigt sich der Protagonist? Was ist vorgefallen? Ist er der „hisser“ („Zischer“)? Was aber zischt er?
In seiner abgeschlossenen Welt, dem melancholischen Jugendzimmer, hat der Protagonist keinen Kontakt zu anderen Personen. So einsam und leer wie die Wirkung des Zimmers bleibt auch die Figur. Sie ist allein, traurig, verlassen. Um sie herum gibt es nur die Relikte einer Vergangenheit, die längst ausgeblichen und unerreichbar ist. Für das Vergangene eine Entschuldigung zu finden, scheint nicht möglich, auch wenn die Figur so oft in Worten darum zu ringen scheint. Ihr bleibt die Musik und der Versuch einen Ort zu finden, an dem sie zur Ruhe kommen kann. Doch wird das Zimmer von Erschütterungen, Erdbeben oder dem plötzlichen Öffnen des Untergrundes – als würde es „vom Erdboden verschluckt“[1] – heimgesucht. Auch in der leeren Weiße des Fernsehermonitors, in welche die Figur nackt eintritt, kann sie nichts finden: Kontinuierlich wiederholt sie ihr stetes „sorry“. Durch die melancholische Pop-Musik und die einsame Leere der Figur und ihrer Umgebung ist Atkins Arbeit von Traurigkeit, Schuldbewusstsein und dem Wunsch, Abbitte zu leisten, geprägt. Durch die Unterbrechungen und Störungen der Konsistenz des Ablaufs des Videos wird zugleich jeder Wunsch nach emotionaler Stabilität untergraben.
Nach zwanzig Minuten beginnt das Video erneut – der Anfang und der Schluss der Videoarbeit sind jedoch weitgehend undefiniert. Der „hisser“ bleibt zurück, im endlosen Loop seiner Welt gefangen.
Illusion und Traum
Die Figur, die in Hisser auf die Bühne der Videoerzählung tritt, wird vom Ausstellungstext des MMK als Ed Atkins anhaltende Reflexion von Originalität, Authentizität und Identität des Ichs aufgefasst. So sei die dargestellte Figur ein Alter Ego des Künstlers, das um seine Authentizität bangen müsse.[2] Auch der Titel der Ausstellung Corpsing unterstützt diese Interpretation. Unter dem Kunstwort „corpsing“ versteht man im Film oder Theater die Aufgabe einer gespielten Rolle aufgrund plötzlich ausbrechenden Lachens der Schauspielerin. Das Wort leitet sich aus jener Situation her, in der eine Schauspielerin einen Leichnam, also „corpse“, darstellt und dabei in Gelächter verfällt. Im allgemeinen Sinn bezeichnet „corpsing“ im Film- und Theaterjargon folglich das Aus-der-Rolle-Fallen der Schauspielerin, was die Illusion des Films verschwinden lässt. Die „wahre“ Identität kommt zum Vorschein und stellt die „Originalität“ der Realität wieder her. Als erwache die Schauspielerin aus einem Traum, kehrt sie zurück in die Wirklichkeit und kennzeichnet den Film dadurch als Schein oder Unwahrheit.
Unter diesen Prämissen möchte die Interpretation des MMK die Videoarbeit Hisser als eine Konstruktion von Wirklichkeit lesen, die die individuellen Konflikte – wie „Einsamkeit, Entfremdung und Vergänglichkeit“ – des Künstlers Ed Atkins auf allgemein-gesellschaftliche Entwicklungen „der postdigitalen Gegenwart“ überträgt.[3] Ed Atkins schaffe sich in der Figur des „hissers“ ein Alter Ego, das an seiner Stelle „in künstlichen Welten tiefgreifende Krisen“ durchlebe.[4] Diese konstruierte Welt könne dabei keine Eigenständigkeit erlangen, sondern bleibe abhängig vom schöpfenden Künstlersubjekt Ed Atkins. Es seien allein seine Gedanken, Wünsche, Bedürfnisse und Begehren, die die Welt des „hissers“ ausmachen und ihm Leben einhauchen. In dieser Interpretation erscheint Atkins’ zweites Ich im Video Hisser, das ihm als Traumwelt den Möglichkeitsrahmen gibt, individuell-psychische Konflikte zu durchleben und zu verarbeiten. Dabei ist eine subjektivistische Ausdrucksästhetik impliziert, die den Gehalt des Kunstwerks vom Künstler abhängig macht, das heißt im Fall Hisser von Atkins’ subjektivem Verlangen nach Schuld und Abbitte, aber auch Sexualität und deren Befriedigung. Legt man der Videoarbeit Hisser also eine Konstruktion von Wirklichkeit durch die individuell-psychologische Verfasstheit des Künstlers zugrunde, so ist das Kunstwerk einerseits in eine Verwandtschaft mit Träumen oder geistigen Ausnahmezuständen gerückt.[5] Andererseits bleibt unklar, auf welche Weise die Problematik einer ganzen Generation durch die Arbeit Hisser eingefangen werden kann, wie der Ausstellungstext des MMK verlauten lässt – wenn der Gehalt einzig vom Künstler und seiner Konstruktion eines Alter Egos und dessen Umwelt abhängig sei.
Die Interpretation des MMK rückt Hisser damit in die Nähe der Traumgebilde, wie Sigmund Freud sie vor Augen hatte.[6] Als „Wunscherfüllung“ konstituiert, ist der Traum Ergebnis eines – vom individuell-psychischen Charakter der Träumenden abhängigen –Zusammenkommens von unbewussten Denkvorgängen und Wünschen sowie ihrer vorbewussten Verarbeitung (Traumarbeit). Dabei ist der Traum durch den Zustand des Schlafs selbstverständlich geschieden von den Vorgängen der Wirklichkeit und doch konstruiert er „wirklichkeitsähnliche“ Welten. Diese verbleiben allerdings stets in (inhaltlicher) Abhängigkeit zur Träumenden: So bricht der Traum ab, sobald die Person erwacht und so sind die Inhalte des Traums aus dem Unbewussten und dessen Verarbeitung im Vorbewussten gespeist. Hisser wird in der Interpretation des MMK insofern in die Nähe des Traums gerückt, als auch Atkins’ Videoarbeit als Ergebnis eines individuellen Kunstschaffens, das von dem psychologischen Erleben des Künstlers abhängig zu sein scheint, begriffen wird. Wie bei der Traumarbeit werden die unbewussten Begehren, Wünsche und Gedanken von Atkins in die Form der Videobilder überführt.
Das „corpsing“ kann in der Interpretation des MMK, die eine traumhafte Struktur des Videos veranschlagt, nur als widersprüchliches Moment gedeutet werden: Wenn in einer von Atkins generierten Welt die Figur in einer Szene der größten emotionalen Anspannung lachen muss, dann wird darin der illusionäre Charakter des Videos reflektiert.
Das Alter Ego als „corpse“
Wird Hisser als traumhaftes Gebilde begriffen, ist das „corpsing“ mit dem Moment des Erwachens gleichzusetzen. Indem der Protagonist in Hisser lachen muss, in jenem Moment, als sich schon Tränen in seinen Augen sammeln, wird der Traum beendet und das Alter Ego seiner Traumhaftigkeit überführt. Die Figur ist aus ihrer Rolle gefallen: Durch das „corpsing“ würde dieser Deutung zufolge nur deutlich, dass der Protagonist ein Alter Ego des Künstlers ist und damit keine eigenständige Realität besitzt. Der „hisser“ bleibt damit tot, wenn nicht der träumende Künstler Atkins ihm Leben einhaucht.
Doch ist die Figur in Hisser alles andere als ein „corpse“, eine Leiche. Anstatt als totes Gebilde den Trauminhalten des Schöpfers Atkins zu folgen, entwickelt sie vielmehr ein Eigenleben. Indem sie mit den Betrachtenden über Gefühle, die geteilt werden, – wie beispielsweise Einsamkeit oder Schuldbewusstsein – in Beziehung tritt, wird auf eine Eigenständigkeit der Figur verwiesen. Weil die emotionale Sprache des „hissers“ so wirksam ist (und mindestens die Empathie der Betrachtenden weckt), kann es sich nicht schlicht um ein Alter Ego des Künstlers handeln. Als Kunstwerk kann sich das Video, E. H. Gombrich zufolge, nicht wie ein Traum allein auf die Erfahrung eines einzigen Subjektes beziehen. Es setzt sich vielmehr aus eigenen und intersubjektiv erfahrenen Gedanken, Emotionen und Begehren zusammen.[7] Auch Atkins’ Figur muss demnach als eine Summe von Erfahrungsmaterial begriffen werden.
Als Summe von Erfahrungen ist auch das computergenerierte Video Ergebnis einer künstlerischen Arbeit, in der unbewusstes Material auf eine vorbewusste Verarbeitung trifft – um es in psychoanalytischer Terminologie zu sagen. Das Kunstwerk verweist in zweifacher Hinsicht auf eine soziale Komponente: Einerseits ist das unbewusste Material, aus dem es sich inhaltlich zusammensetzt, „auf Erfahrungen auf[ge]baut, die er [der Künstler] an sich und an anderen gemacht hat“.[8] Andererseits ist das Kunstwerk durch die vorbewusste Übertragung in die „Sprache“ der Kunst von einem „gemeinsamen Kulturbesitz“ beeinflusst und in diesen eingeschrieben.[9] Auch die Figur in Hisser ist folglich im Unbewussten aus gesellschaftlich vermittelten Gefühls- und Triebregungen entstanden und wird durch vorbewusste Bearbeitung in ein gesellschaftlich lesbares Medium der Kunst, in diesem Fall der computergenerierten Videokunst, übertragen.
In der psychologischen Struktur ähnelt diese Bestimmung eines Kunstwerks auf den ersten Blick tatsächlich derer, die Freud für den Traum ausmachte. Auch Freud begriff den Traum als das Unbewusste, das in die vorbewusste „Sprache“ des manifesten Trauminhaltes gerückt wurde. In dieser Hinsicht behielte die Rede einer zweiten traumhaften Realität also Gültigkeit. Doch wählt die vorbewusste Bearbeitung des Traums eine Sprache oder Ausdrucksform, die unverstanden, rätselhaft und unsinnig bleibt: „Der Traum ist ein vollkommen asoziales seelisches Produkt; er hat einem anderen nichts mitzuteilen […]“[10].
Ed Atkins’ Figur und die Welten, die sie belebt, als traumhafte Gebilde, die zwischen Realität und Illusion oszillieren, zu begreifen, vergisst die „Asozialität“ von Träumen und die „Sozialität“ von Kunstwerken zu denken, wie Freud sie bestimmte. Wenn das MMK eine Lesbarkeit des Videos Hisser verlauten lässt, die über Atkins’ Selbstverständnis hinausgeht und einer „postdigitale Generation“ offen steht, so kann weder von einer subjektivistischen Kunsttheorie, in der alle Inhalte vom individuellen Erleben des Künstlersubjekts abhängen, noch von einer Traumhaftigkeit, in der alle Inhalte vom individuell-psychischen Charakter des Künstlersubjekts abhängen, ausgegangen werden. Dagegen möchte ich dazu anregen, Ed Atkins’ Arbeit Hisser nicht als traumhafte Welt zu lesen, sondern, wie bereits Gombrich in seinen Vorlesungen zu Sigmund Freud, einen Zusammenhang von Kunstwerk und Witz behaupten.[11]
Kunst als Traum oder als Witz?
Im Gegensatz zur Auffassung eines traumhaften Kunstwerks, das eine (riskante) Affinität zu geistigen Ausnahmezuständen und zum subjektivistischen Geniekult zeigt, verweist die psychologische Struktur des Witzes auf eine gesellschaftliche und damit objektive Größe. Der Witz greift, wie oben auch für das Kunstwerk gezeigt, auf zweierlei „Entstehungsquellen“ zurück: Zum einen werden durch Verschiebung und Umdeutung im Unbewussten neue inhaltliche Verknüpfungen, die sowohl im Medium der Bilder oder Worte als auch für Gefühle oder Begehren entstehen können, hergestellt. Auch wenn diese neuen Verknüpfungen zunächst willkürlich oder unverständlich erscheinen müssen, weil sie anders zusammengebracht werden als im Bewusstsein, deuten sie auf eine „Wahrheit“, die sonst im Unbewussten verschlossen liegt. Denn was außerhalb des Witzes im Dunkeln des Unbewussten und Verdrängten verbleibt, wird durch die Ausgestaltung als Witz sowohl individuell als auch intersubjektiv-gesellschaftlich verhandelbar. Der Witz in seiner sprachlichen Form gibt die Möglichkeit der allgemeinen Teilnahme. Seine Verständlichkeit, seine Intersubjektivität, fußt „auf dem gemeinsamen Kulturbesitz, vor allem auf dem gemeinsamen Besitz der Sprache“.[12] Die Sprache kommt den unbewussten Inhalten, wie Gombrich sich ausdrückt, „entgegen“, weil der Witz genauso wie die Kunst eine Ausdrucksform finden muss, die im Gegensatz zum Traum nicht nur dem/der Träumenden zugänglich ist.
Unterscheidet man Form und Inhalt, so bezieht der Witz seinen Inhalt aus dem Unbewussten, das sich aus Erfahrungen speist, die der/die Scherzende an sich und an anderen macht, und bezieht seine Form analog zur Verarbeitung des unbewussten Materials durch das Vorbewusste aus der „Übersetzung“ des Materials in sprachliche Strukturen. Wie die Sprache dem Witz „entgegenkommt“ und seine unbewussten Inhalte übersetzt, kommt die Stilsprache dem Unbewussten im Kunstwerk entgegen. [13] Der gemeinsame Kulturbesitz in der Form von Sprache oder Stilsprache bildet die Grundbedingung für die allgemeine Lesbarkeit und Verständlichkeit des Witzes oder des Kunstwerks. Der Traum hingegen, der Unbewusstes und Verdrängtes zum Ausdruck bringt, will unerkannt bleiben, das heißt das Verdrängte soll nicht hervortreten und erkannt werden. Er verzichtet darauf, sich in einer allgemein verständlichen Sprache zu artikulieren – zugunsten einer gleichzeitigen „Befreiung und Verhüllung von Wunschphantasien“.[14] Erst die Analytikerin vermag es, die Inhalte des Traums in Sprache zu übersetzen.
Es kommen also sowohl in der psychologischen Struktur des Witzes als auch des Traumes unbewusste Regungen zum Ausdruck, die sonst unterdrückt würden. Doch hat der Witz den entscheidenden Zusatz, auf ein Publikum angewiesen zu sein, das zunächst den Witz verstehen und dann lachend auf ihn eingehen kann. Während der Traum also erstens unerkannt und zweitens „asozial“ bleibt, ist der Witz darauf angewiesen, dass man ihn versteht und auf ihn reagiert.[15] Damit wird deutlich, dass auch Kunstwerke – und insbesondere die Videos von Atkins – ihrer psychologischen Struktur nach nicht den Traumgebilden sondern vielmehr dem Witz gleichen.
Hisser als Witz
Das Kunstwerk nicht als Traum, sondern als Witz aufgefasst, zeigt uns, dass nicht nur Atkins in dem Protagonisten steckt, sondern auch wir, die Anderen. Der Witz und die Kunstwerke Ed Atkins’ kommunizieren notwendig nach außen. Wir nehmen an ihnen teil: Weil wir den Film schauen und ihn ästhetisch verstehen können; weil wir die unbewussten oder verdrängten Gefühle, Regungen und Begehren, die in Hisser zum Ausdruck kommen, teilen. Die Verknüpfungen und Verschiebungen, die im Kunstwerk vorgenommen werden, wären demnach nicht wie der Traum auf psychoanalytische Deutungsarbeit angewiesen. Gerade eine emotional derart stark wirksame Arbeit wie Hisser verdeutlicht, dass die Gefühle und Bilder, die das Video weckt, sich erstens nicht nur aus Atkins’ Erleben allein speisen – sondern sich aus gesellschaftlich vermittelten Gefühlsregungen und Eindrücken ergeben, die wir alle kennen. Und daraus folgt zweitens, dass die Bilder und Motive des Films Hisser nicht nur für Atkins selbst funktionieren und nicht nur auf seine individuellen Reflexionen von Identität verweisen.
Auch das Phänomen des „corpsing“ erscheint im Rahmen der psychologischen Struktur des Kunstwerkes als Witz nicht nur als ein Aufgeben der Rolle, das auf die Illusion verweist. Das Herausfallen aus der Rolle vollzieht sich beim „corpsing“ durch Gelächter. Psychoanalytisch gelesen offenbart das Lachen dass Zusammenhänge und Verbindungslinien gezogen wurden, die im Bewusstsein nicht vorgesehen sind. Wenn die Schauspielerin ihren eigenen Tod zu spielen hat und dabei ins Lachen verfällt, wird nicht nur auf die Illusion des gespielten Leichnams hingewiesen, sondern auch auf die psychologische Abwehr eines Zustandes, in dem man nicht mehr ist und nichts mehr zu sagen hat. Das Szenario des eigenen Todes ist nicht gestattet und wird verdrängt: Es wird gelacht.
Auch die Figur in Hisser verfällt in ein verzerrtes Lächeln, als sie das Gefühl der Traurigkeit übermannt. Während die Musik zu „I didn’t know life was so sad and I cry“ ertönt, die Figur dazu ihre Lippen bewegt und am Höhepunkt der Gefühlsregung zu sein scheint, fällt sie in diesem Moment – wie beim „corpsing“ – aus der Trance des Liedes heraus. Die Figur beginnt sich zu räuspern und muss lächeln. Liegt es nahe, zu meinen, sie lächle über die Frage ihres eigenen repräsentationalen Status? Bin ich „wirklich“ oder bloßes Abbild? Lächelt sie nicht vielmehr, weil das Gefühl, das sie überwältigt, zu Bewusstsein kommt, zu stark wird und abgeschüttelt werden muss?
So wie die szenischen Abfolgen von Hisser von ständigen Abbrüchen, Schnitten und Inkonsistenzen geprägt sind, ist auch die Gefühlsregung immer wieder unterbrochen. Ein Lächeln bringt zu Ende, was nicht sein darf: Eine überwältigende Trauer über das, was geschehen ist oder gerade geschieht. Hisser kann als Film gelesen werden, der gesellschaftlich geteilte Emotionen und Verdrängtes aus einer Art „kollektivem“ Unbewussten aufzeigt. Doch tut die Arbeit dies in der psychologischen Struktur des Witzes, was bedeutet, dass das „kollektive“ Unbewusste nicht unmittelbar verbalisiert wird, sondern als „Material“ der Kunst zugeführt wird. Die Kunst – oder der Witz – stellt sich damit als ein Bereich dar, in dem gesellschaftliche Erfahrungen, die sonst im Unbewussten und Verdrängten schlummern, zu Tage treten können – ohne zensiert oder unterdrückt zu werden.
Über den Witz wird gelacht, weil etwas ausgesprochen wird, dessen Artikulation eigentlich vom Bewussten oder der Zensur, wie Freud sie nennt, verboten ist.[16] Durch das Lachen und durch die Markierung als Witz wird die Artikulation akzeptabel oder unschädlich.[17] Die Zensur ist demnach inaktiv. Wird der Moment des „corpsing“ unter diesen Gesichtspunkten verstanden, verweist das Lachen auf mehr als nur die Frage des repräsentationalen Status. In der Figur werden gesellschaftlich Verdrängtes, Ängste und Leiden personifiziert, die durch die formale Brüchigkeit des Films, aber auch durch den Moment des „corpsing“, gestört werden. Was in der psychologischen Struktur des Witzes das Lachen ist, erscheint in Hisser als formale Brüchigkeit und als das „corpsing“ der Figur. Der Bruch (durch das Lachen) wird nötig, damit das sonst Verbotene zum Ausdruck gebracht werden kann. Das Video fragt also nicht nach der Wahrhaftigkeit der in ihm dargestellten Figur und ihrer Gefühle. Im Gegenteil: Ihre Gefühle sind so real und aufs engste mit den unseren verbunden, dass sie nur im „unschädlich“ gemachten Medium der Kunst – oder im Witz – geltend gemacht werden können.
Ed Atkins. Corpsing, 3. Februar – 14. Mai 2017, MMK1, Frankfurt am Main.
[1] Vgl. Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Pressemitteilung 02.02.2017, Ed Atkins. Corpsing. URL: http://mmk-frankfurt.de/fileadmin/user_upload/Presse/Pressemitteilungen_Neue
_Website/2017/PM_Atkins.pdf [26.03.2017].
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Vgl. Ebd.
[5] Vgl. E. H. Gombrich, Sigmund Freud und die Theorie der Künste, in: Richard Woodfield (Hg.), Das Gombrich Lesebuch, Berlin 2003, S. 193f.
[6] Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 17. Auflage, Frankfurt 1978, S. 131f.
[7] Gombrich 2003, S. 203.
[8] Ebd.
[9] Gombrich 2003, S. 200.
[10] Freud 1978, S. 145f.
[11] Vgl. Gombrich 2003, S. 189 – 209.
[12] Gombrich 2003, S. 200.
[13] Gombrich 2003, S. 203.
[14] Gombrich 2003, S. 199 (Hervorhebung J.M.).
[15] Vgl. Christiane Voss, Humor als Meta-Medium der Kritik, in: diskus. Frankfurter Student_innenzeitschrift, Vol. 53, Juli 2014, S. 31.
[16] Vgl. Ebd.
[17] Freud 1978, S. 130.