„To become more porous. To produce more holes, cracks, and lighthouses.“*

Die Gruppe Chto Delat, Jacques Rancière und die Möglichkeit des Dissens

Was ist zu tun angesichts des globalen Status quo, angesichts der Tatsache, dass die fortschreitende Globalisierung keineswegs mit einer Sicherung der Werte Gleichheit und Gerechtigkeit einhergeht und der Erkenntnis, dass die Aufklärung nicht länger die Rolle der schützenden Eltern innehat, sondern jene des schutzbedürftigen Babys? Fragen dieser Art stellt sich die russische Gruppe Chto Delat seit ihrer Gründung. Der Titel des Kollektivs ist einem Roman Nikolay Chernyshesvkys aus dem Jahr 1863 entnommen, in welchem der Autor einen Plan für den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterorganisation entwirft. Die Gruppe, bestehend aus KünstlerInnen, Intellektuellen und AktivistInnen fand sich 2003 in Petersburg zusammen und hat seither dem Regime Putins und dem Kapitalismus den Kampf angesagt. In Anlehnung an die russische Avantgarde, Bertold Brecht und die Situationistische Internationale verbindet ihre medienübergreifende Praxis Kunst, Aktivismus und politische Theorie und bewegt sich konzentrisch um die Idee der emanzipatorischen Kraft des Einzelnen und der Gesellschaft.

Abb. 1: Chto Delat, Time Capsule. Artistic Report on Catastrophes and Utopia, 2015, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 1: Chto Delat, Time Capsule. Artistic Report on Catastrophes and Utopia, 2015, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Time Capsule – Artistic Report on Catastrophes and Utopia lautet 2015 der Titel der ersten Ausstellung der Gruppe in der Berliner Galerie KOW. Die Ausstellung markiert einen Augenblick der Resignation und der empfundenen Notwendigkeit, die eigene Praxis unter den gegebenen Umständen zu hinterfragen. Die aktuelle Situation in Russland beschreiben Chto Delat als einen wahr gewordenen Albtraum: Trotz des Ukraine-Konflikts, der zahlreichen Menschen das Leben kostet, kann die Regierung sich der Unterstützung der breiten Masse erfreuen, RegimegegnerInnen werden gewaltsam unterdrückt, KritikerInnen als nationale VerräterInnen diffamiert. Das Kollektiv fragt sich: „What can be done with this state of affairs? We must recognize our failure: here it is before us. We lost. But we are prepared to learn from our mistakes. Where were our mistakes? What were they? Where did we go wrong?“[2] Die im Ausstellungstitel angesprochene Zeitkapsel ist eine papierene Symbiose bestehend aus einem Ohr und einem Herz, in dessen Innerem die Mitglieder des Kollektivs persönliche Dinge verstauten (Abb. 1, 2). Die in einer Vitrine präsentierte Zeitkapsel dient der Kontaktaufnahme mit der Zukunft, mit ihrer Hilfe soll die Hoffnung auf Veränderung aus dem Morast der dystopisch angehauchten Realität katapultiert werden.

Abb. 2: Chto Delat, Time Capsule. Artistic Report on Catastrophes and Utopia, 2015, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 2: Chto Delat, Time Capsule. Artistic Report on Catastrophes and Utopia, 2015, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

2017. Die Zukunft ist da. Die sozialpolitischen Albträume sind noch immer Realität: Angesichts des Ukrainekriegs, des Neonationalismus Putins und der Globalisierung des Ausnahmezustands[3] schreibt Dmitry Vilensky in seinem Text für die zweite Ausstellung bei KOW: „After all, we have nowhere to flee – there is no place left where the old Enlightenment consensus has not, to some degree or other, been placed in jeopardy.“[4] Und doch: Der Titel der Ausstellung lautet On the Possibility of Light. Trotz oder gerade wegen der nach wie vor düster ausfallenden Zeitdiagnose muss die Frage, was zu tun ist, wieder aus der Kapsel ausgepackt werden und Ausgangspunkt für Handlungen werden. „To become more porous. To produce more holes, cracks, and lighthouses.“[5] Mit dieser Aufforderung schließt Vilensky seinen Text und hieran möchte ich mit den folgenden Ausführungen anknüpfen. Unter Bezugnahme auf den französischen Philosophen Jacques Rancière, dessen (politische) Theorie sich mit der Idee des Bruchs beschäftigt und die Krise als Moment versteht, in dem sich etwas Neues ereignet, werde ich in diesem Text die von Chto Delat angestoßene Porosität diskutieren.

„This situation, which may be described as extreme, critical, exceptional, gradually became the norm of our everyday existence. And our activities were forced to somehow reflect that situation – the rapid narrowing of the public sphere, constantly increasing marginalization of the ideas we value, departure of close friends, post-truth […], the disappearance of a group of friendly institutions […].“[6]

Die von Chto Delat beschriebene Situation der Kunstschaffenden in Russland als immer kleiner werdenden Möglichkeitsraum, als zunehmende Verdrängung ins Abseits lässt sich mit Rancières Terminologie als spezifische Aufteilung des Sinnlichen bezeichnen. Es handelt sich hierbei um die Organisation der unterschiedlichen Anteilhabe am sinnlich Gegebenen, das sich zusammensetzt aus dem Sichtbaren, Sagbaren und Machbaren. Jede Aufteilung bringt eine Gemeinschaft hervor, die sich über ein ihr eigenes Koordinatensystem auszeichnet: Der vorhandene Raum, die verfügbare Zeit, die auftretenden Individuen und die in dem Raum stattfindenden Tätigkeiten werden auf verschiedene Plätze verteilt, die sich durch unterschiedliche Grade der Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinsamen auszeichnen. So entsteht eine Topologie der sozialen Funktionen und Tätigkeitsformen.

Die Anordnung des Machbaren, Sagbaren und Denkbaren, das einer Gemeinschaft innerhalb eines bestimmten Raum-Zeit-Gefüges gegeben ist, bezeichnet Rancière als erste Ästhetik. Hierbei ist nicht etwa eine Kunsttheorie oder eine erkenntnistheoretische Kategorie gemeint, der Begriff bezieht sich auf die Frage des Teilhabens und Teilnehmens an der Gestaltung des Gemeinsamen: „Ästhetik ist eine Weise, in der sich Tätigkeitsformen, die Modi, in denen diese sichtbar werden, und die Arten, wie sich die Beziehung zwischen beiden denken lässt, artikulieren […].“[7] Eine spezifische Aufteilung des Sinnlichen ist also eine modifizierbare, nicht für alle Zeiten festgelegte Konstellation. Wenn Chto Delat schreiben „We lost. We are excluded from this society, in which 80 percent of the population supports the war”[8], so kann mit Rancière entgegnet werden, dass keineswegs eine Niederlage, ein Verloren-Sein auszumachen ist – da jede Aufteilung des Sinnlichen immer nur eine Variante, eine mögliche Konfiguration darstellt, die durch Kunst und Politik modifiziert werden kann. Ein (vermeintlich) funktionierendes Gesellschaftssystem bliebe demnach also nur so lange erhalten, wie die Individuen die grundsätzliche Möglichkeit des Handelns und der Veränderung nicht wahrnehmen und auf den zugeteilten Plätzen verharren. Mit dem Heraustreten aus den ihnen angestammten oder ihnen zugewiesenen Rollen vollführen sie einen politischen Akt.

Rancières Verständnis von Politik unterscheidet sich damit von der herkömmlichen Verwendung des Begriffes. Was im gängigen Gebrauch als Politik bezeichnet wird – die Organisation von Macht – benennt er als Polizei. Gemeint ist hiermit nicht ein staatliches Exekutivorgan, sondern eine Aufteilung des Sinnlichen, die über die Kategorie des Ausschlusses funktioniert: Die von der Polizei vorgenommene „Zählung der Teile“[9] – die als legitimiert anerkannte Verteilung der Plätze und Funktionen auf die Individuen – geschieht über die systematische Benachteiligung eines Teils dieser Gemeinschaft. Der Gruppe der Individuen, die über eine Stimme verfügen und an der Gestaltung des Gemeinsamen mitwirken, steht in der polizeilichen Ordnung das Kollektiv der Stummen, Passiven, Anteillosen gegenüber. Eine solche polizeiliche Aufteilung beschreiben Chto Delat in ihrem Statement zur Ausstellung folgendermaßen: „The events of recent months have thrown Russian artists and creative workers into a completely new reality: a new Cold War atmosphere, an escalating search for enemies, ever-tighter repression of all dissent […], the chance to be heard is ever more limited […], audiences vanish, activist groups implode and actually getting anything done becomes impossible.”[10] Sie sehen sich in die Rolle der Stummen gedrängt, die vorherrschende Aufteilung schränkt ihren Handlungsspielraum drastisch ein. Einer so gearteten polizeilichen Ordnung stellt Rancière die Politik entgegen, die eine Umstrukturierung des Sicht-, Sag- und Denkbaren bewirkt. Politik ist hier das Aktiv-Werden der bis dahin Anteillosen, das Wort-Ergreifen der Sprachlosen. Der Logik der Ungleichheit wird das Prinzip der Gleichheit entgegengehalten, wobei Gleichheit nicht etwa das Ziel von Politik, sondern ihre Voraussetzung ist. Als Fundament jeder gesellschaftlichen Ordnung ist sie apriorisch gegeben; da sie jedoch allzu leicht die Gestalt des Unrechts annimmt, muss sie immer wieder aktualisiert werden: „Es gibt Ordnung, weil die einen befehlen und die anderen gehorchen. Aber um einem Befehl zu gehorchen, bedarf es mindestens zweier Dinge: man muss den Befehl verstehen, und man muss verstehen, dass man ihm gehorchen muss. Und um das zu tun, muss man bereits dem gleich sein, der einen befehligt. Dies ist die Gleichheit, die jede natürliche Ordnung aushöhlt.“[11]

„The situation in Russia remains unique in terms of the low level of resistance – here we can directly quote Brecht’s gloomy remark in his poem ‘To Posterity,’ where he writes of ‘…when there was only injustice and no resistance.’ But even here the question is not yet settled, many scenarios have not yet played out, and we still have the chance to speak, to find like-minded people and to struggle together.”[12]

Wenn jene Subjekte, die in der polizeilichen Ordnung nicht gehört und gesehen werden sollen und daher in den Bereich des Stummen, Passiven verwiesen wurden, sich aus diesem Bereich herausbewegen und in das Gemeinsame einfügen, dann geschieht Politik. Ihr Aktiv-Werden ist ein Akt politischer Subjektivierung, die Existenz des sich im Streit befindenden Subjekts ist das Eigene der Politik. Politik hat indes keinen eigenen Ort und keine ihr natürlichen Gegenstände. Eine Demonstration etwa ist – nach Rancière – nur dann politisch, wenn sie der über Ausschluss funktionierenden Ordnung die Logik der Gleichheit entgegenhält.[13] Die Frage nach Politik lässt sich also nicht allein anhand eines bestimmten Ortes des Geschehens, eines wie auch immer gearteten verhandelten Gegenstands oder durch das Vorhandensein einer Interessensgruppe beantworten; sie entscheidet sich anhand der Tatsache des Aufeinanderprallens zweier Aufteilungen des Sinnlichen, durch das Auftreten eines Dissens, einer Krise oder eines Bruchs. Das Politische ist das, was in der Leere des politischen Aktes Raum erhält, jene Gegenstände, Argumente und Personen, die zuvor nicht sicht- und hörbar waren. Anhand der politischen Handlungen, der Subjektivierungen, wird eine Vielfalt an Sagbarem, Denkbaren und Machbarem erzeugt, welche die polizeiliche Ordnung nicht kannte und damit werden Formen eingeführt, die ein gegebenes Erfahrungsfeld umstrukturieren.

Im Vorhandensein des Konflikts zwischen einer etablierten und einer neuen Ordnung des sinnlich Gegebenen liegt auch die Möglichkeit der Kunst politisch zu werden. Auch Kunst kann somit auf die Aufteilung des Sinnlichen einwirken.

Rancière unterscheidet drei Regime der Kunst innerhalb der westlichen Tradition, die sich hinsichtlich der Identifikation von Kunst unterscheiden. Trotz der Chronologie ihrer Entstehung, lösen sie sich nicht gegenseitig ab, die vorhergegangenen Regime bestehen auch im sich neu herausbildenden fort. Im ersten, dem ethischen Regime wird von einer direkten, festlegbaren Wirkung der Bilder auf das Ethos der Individuen ausgegangen. Die Kunst dient der Einwirkung auf die Seinsweise der Menschen und zeichnet sich somit durch eine gewisse Gebrauchsfunktion aus, die einen autonomen Status der Künste ausschließt: „[…] der Tanz ist hier ein Ritual oder eine Therapeutik, die Poesie eine Weise der Erziehung, das Theater eine öffentliche Festivität usw.“[14] Das darauffolgende poetische oder auch repräsentative Regime geht nicht von einer Koppelung der Kunst an eine spezifische Gebrauchsfunktion aus, sondern von einer Übereinstimmung der poiesis, den Regeln der Produktion der Künste, und der aisthesis, den Gesetzen der menschlichen Sinnlichkeit. Kunst bestimmt sich hier durch die von ihr bei den RezipientInnen hervorgerufenen Affekte, wie beispielsweise Mitleid oder Furcht. Dieses Regime klassifiziert bestimmte Tätigkeitsformen, in welche die Künste eingeordnet werden können, und legt Normen fest, nach denen Nachahmungen als gut oder schlecht bewertet werden können. Solcherlei Rangordnungen sind dem von Kant und Schiller eingeleiteten dritten ästhetischen Regime fremd, weshalb es als Regime der Freiheit und Gleichheit bezeichnet wird. Die Identifizierung der Kunst erfolgt hier weder über Gebrauchsfunktionen oder Tätigkeitsformen noch über die Wertigkeit der behandelten Sujets, sondern über die der Kunst eigene sinnliche Seinsweise, über das Vermögen, eine eigene Sphäre der Erfahrung zu errichten, die sich von den Korrespondenzen zwischen poiesis und aisthesis, und von jeglichen Hierarchisierungen abhebt. Kunst wird als Konstruktion eines Ausnahmesensoriums gedacht und zeichnet sich durch die „Freiheit der Gleichgültigkeit“[15] aus, das heißt durch die Überlagerung von Aktivität und Passivität, Privatem und Öffentlichem, Fähigkeit und Unfähigkeit, Wissen und Nichtwissen. In dieser Gleichgültigkeit gegenüber jeglichen Hierarchien liegt das politische Potenzial der Kunst. Als autonome Form der Erfahrung kann Kunst eine Umgestaltung des materiellen und symbolischen Raumes vollziehen, eine Neueinteilung der Zeit und eine Umbesetzung des Raumes. Indem neue Bezüge zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Aktivem und Passivem, Einzelnem und Gemeinsamem aufgestellt werden, kann auch Kunst Brüche in einer bestehenden Aufteilung erzeugen und so Alternativen hervortreten lassen, die zur Gestaltung neuer Lebensformen beitragen können.

Die in der Ausstellung On the Possibility of Light gezeigte Installation Performative Practices Of Our Time (2017) und A Protesters Dream (2016/17) lassen eine solche Arbeit an neuen Verknüpfungen zwischen Schein und Wirklichkeit, Aktivem und Passivem, Einzelnem und Gemeinsamem erkennen.

Abb. 3: Chto Delat, Performative Practices Of Our Time, 2017, Digitaldrucke, unterschiedliche Maße, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 3: Chto Delat, Performative Practices Of Our Time, 2017, Digitaldrucke, unterschiedliche Maße, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

 

Abb. 4: Chto Delat, Performative Practices Of Our Time, 2017, Digitaldrucke, unterschiedliche Maße, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 4: Chto Delat, Performative Practices Of Our Time, 2017, Digitaldrucke, unterschiedliche Maße, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Performative Practices Of Our Time (2017) (Abb. 3, 4) ist eine Zusammenstellung im Internet gefundener Bilder, welche die Inszenierung des vermeintlich „Politischen“ im russischen und ukrainischen Alltag verdeutlicht: Kostümparaden, die den Sieg über das Nazi-Regime nachstellen; Body-Art-Wettbewerbe, die dazu auffordern, Elemente des „Großen Patriotischen Krieges“ nachzubilden; ein Nachrichtensprecher, welcher die Zuschauenden auf die einzigartige Stärke Russlands einschwört; SportlerInnen des olympischen Teams Russlands in heroischen Posen. Die alltäglich durchgeführten Rituale und Gesten sind Ausdruck der nationalistischen Identität und verdeutlichen in ihrer Zusammenstellung den konsensuell gefassten Kanon des Sagbaren, Machbaren und Denkbaren und seine Verbreitung und Reproduktion in den Sozialen Medien. Als objets trouvés einer konstruierten Wirklichkeit fungieren die Bilder als Fragmente eines festgelegten Möglichkeitsraums, innerhalb dessen bestimmte Handlungen und Äußerungen gewollt und zugelassen sind, während andere ausgeschlossen werden. Die Bilder können somit als Ausdruck der oben besprochenen polizeilichen Ordnung verstanden werden. Der Öffentlichkeit, innerhalb derer sich die Gesten und Rituale anordnen, steht der Ort des Nirgendwo entgegen, an den sich Chto Delat gedrängt sehen: „We are excluded from public life. Our voice is heard less and less, excluded and cut off the chorus of voices as something harmful and unnecessary.“[16]

Abb. 5: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, 3 Digitaldrucke, je 100x50cm, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 5: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, 3 Digitaldrucke, je 100x50cm, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

An diese Installation schließt ohne räumliche Trennung die Arbeit A Protesters Dream (2016/2017) (Abb. 5) an. Die Dreikanal-Installation zeigt dokumentarisches Material einer Protestaktion auf einem öffentlichen Platz in Petersburg. Die einzeln auftretenden Protestierenden sind ein Hinweis auf die quasi nicht mehr vorhandene Versammlungsfreiheit und den sich zunehmend verringernden Möglichkeitsraum der kritischen Äußerung: „The theme of the solitary protester is an important one for grassroots political activism in Russia, since it is the only possible form of protest.“[17] Jeder der drei Demonstrierenden ist mit einer Go-Pro-Kamera ausgestattet. Um ihren Hals hängen Schilder mit provozierenden Texten (Abb. 6):

Abb. 6: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, 3 Digitaldrucke, je 100x50cm, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

Abb. 6: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, 3 Digitaldrucke, je 100x50cm, Ausstellungsansicht Berlin, KOW.

HIT ME I’M YOUR SISTER #RightToAbortion #NoToDomesticViolence #MyBodyMyBusiness

HUG ME I’M YOUR ENEMY #Don’tBeAfraid #NoToWar #NoToRepressions

PINCH ME I’M DREAMING YOU #Strike #PeaceWithoutAnnexation #No!ToCensorship

 

Das Video ist ein Zusammenschnitt der Go-Pro-Aufnahmen und schwarz-weiß gehaltener Bilder, die die unmittelbare Umgebung der Protestaktion und die sich hier befindenden Menschen zeigen. Immer wieder treten Personen an die Protestierenden heran und beginnen mit ihnen zu reden. Während einige von ihnen eindeutig als verkleidete PerformerInnen auszumachen sind, scheinen andere zufällige PassantInnen zu sein. In den kurzen Statements gewinnt der/die BetrachterIn einen Einblick in Aspekte der öffentlichen Diskussion in Russland. Doch die Bilder und Tonspuren des Gesagten wollen nicht so recht zusammenpassen, es entsteht eine Unsicherheit hinsichtlich der Frage, wer hier Teil der Inszenierung ist und wer nicht, wessen Aussage gestellt ist und welche nicht. Immer wieder blitzen Momente des Absurden auf, beispielsweise wenn zwei mit riesigen Schafsmasken verkleidete Frauen immer wieder rufen „Punishment is not crime!“, bevor sie in übermütigen Sprüngen aus dem Bild hüpfen (Abb. 7, 8). Die in der Videoarbeit entstehende Irritation wird als Mittel genutzt, die ideologische Sprache zu manipulieren und die durch sie vermittelte angebliche Wahrheit als Konstruktion herauszustellen: „Through diluting the solidity of ruling ideologies, […] we can understand the ‘truth’ of political power as a certain material arrangement that can be rearranged.“[18] Was Anastasia Murney als Verwässerung der Festigkeit vorherrschender Ideologien umschreibt, bezeichnet in den Worten Chto Delats die Porosität: Die von ihr ausgehenden Risse breiten sich auch in der angrenzenden Installation aus und entlarven die sich hier äußernde „politische“ Macht als eine Konstruktion, die keine natürliche, sondern bloß eine mögliche und somit veränderbare ist. Schein und Wirklichkeit werden durch den erzeugten Dissens in ein neues Verhältnis zueinander gebracht, als nicht deckungsgleich herausgestellt. Im Zwischenraum, welcher anhand dieser Verschiebung entsteht, wird Platz geschaffen für jene Artikulationen, die in der vermeintlichen Übereinstimmung von Schein und Wirklichkeit zuvor keinen Platz fanden. Durch die Interaktion der Protestierenden mit den SchauspielerInnen und den PassantInnen wird der Handlungsraum des/der Einzelnen erweitert und die Restriktionen, die der öffentlich geäußerten Kritik auferlegt sind, werden unterlaufen. Somit schaffen sich Chto Delat Gehör und erobern ihren Platz im öffentlichen Raum zurück, sie treten „als Bewohner eines gemeinsamen Raumes auf und […] beweisen, dass ihr Mund sehr wohl eine Sprache erzeugt, die das Gemeinsame ausspricht […]“.[19] Durch den so erzeugten Dissens werden neue Verhältnisse von Aktivem und Passivem, Einzelnem und Gemeinsamem verwirklicht. Chto Delat nehmen einen Platz des kritischen und kritisierenden Subjekts ein, der in der polizeilichen Aufteilung Putins nicht vorgesehen ist und bestimmen somit eigenmächtig ihre soziale Funktion innerhalb der russischen Gesellschaft.

Abb. 7: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, Filmstill.

Abb. 7: Chto Delat, A Protesters Dream, 2016/2017, HD Video, 14:37 min, Farbe, Ton, Filmstill.

Im Kontext einer in Berlin ansässigen Galerie und ihrer BesucherInnen sind die gezeigten Arbeiten schließlich auch Erzählungen von einem anderen Russland – von einem Russland, das sich von jenem unterscheidet, das sich in den Bildern der Installation Performative Practices Of Our Time artikuliert und das in den Medien alltäglich präsent ist. Chto Delat schaffen mit ihren Arbeiten alternative Wissensräume und eine Basis der kritischen Auseinandersetzung sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands: „Sie [die Praktiken der Kunst, Anm. FNK] tragen dazu bei, eine neue Landschaft des Sichtbaren, des Sagbaren und des Machbaren zu zeichnen. Sie schmieden gegen den Konsens andere Formen des ‚Gemeinsinns‘, Formen eines polemischen Gemeinsinns.“[20]

Die eingangs wiedergegebene Zustandsbeschreibung durch Chto Delat zu Zeiten ihrer ersten Ausstellung bei KOW verdeutlicht die Gefahr, angesichts der Widrigkeiten zu resignieren und so vom Konsens eingenommen zu werden. Ist dies der Fall kann der Konsens ungehindert weiterbestehen. Das Eingeständnis „we lost“ wird dann problematisch, wenn es nicht die Frage „was ist nun zu tun?“ nach sich zieht, wenn es nicht Ausgangspunkt für Überlegungen ist, wie weiter gekämpft werden kann. Die Theorie Rancières kann hier als eine Art Leuchtturm fungieren, sie kann als Motivation verstanden werden, da eine Aufteilung des Sinnlichen stets nur eine von vielen Möglichkeiten und damit nichts Statisches, sondern etwas Modifizierbares ist. Doch die Veränderung benötigt ein Subjekt, das sich im Streit und in der Krise mit dem allgemeinen Konsens befindet. Sein Rückzug bedeutet Stillstand, sein In-Erscheinung-Treten ist der erste Schritt eines Unordnung-Stiftens. Die Präsenz des politischen Subjekts an einem Ort, an dem es nicht vorgesehen ist und die Artikulation seiner Sprache, die nicht gehört werden soll, fügt der polizeilichen Aufteilung einen Riss zu, der die Ordnung brüchig werden lässt. Das politische Subjekt schafft sich so einen vorher verwehrten Möglichkeitsraum, innerhalb dessen die Frage „Chto Delat?“ immer die Vorbereitung des nächsten Schrittes darstellt.


[1] Dmitry Vilensky, Statement by Chto Delat, 2017. URL: http://www.kow-berlin.info/exhibitions/chto_delat_2 [24.02.2017].
[2] Chto Delat über The Excluded. In a Moment of Danger, 2014. URL: https://chtodelat.org/category/b8-films/the-excluded-in-a-moment-of-danger/ [20.03.2017].
[3] Vgl. Alexander Koch, Text zu der Ausstellung On the Possibility of Light, 2017. URL: http://www.kow-berlin.info/exhibitions/chto_delat_2 [24.02.2017].
[4] Vilensky 2017.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 23.
[8] Chto Delat 2014.
[9] Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Politik und Philosophie, Frankfurt/Main 2002, S. 132.
[10] Tsaplya Olga Egorova/Nikolay Oleynikov/Dmitry Vilensky, Statement by Chto Delat, 2015. URL: http://www.kow-berlin.info/exhibitions/chto_delat_1# [21.03.2017].
[11] Rancière 2002, S. 29.
[12] Vilensky 2017.
[13] Das Gegenteil von Politik, also nichts, sind beispielsweise Demonstrationen gegen das Gleichstellungsgesetz, das homosexuellen Paaren erlaubt zu heiraten und ihnen ein Adoptionsrecht einräumt. Eine solche Demonstration in das Beharren auf einem Konsens, der auf Ausschluss beruht.
[14] Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008a, S. 40.
[15] Ebd., S. 83.
[16] Chto Delat 2014.
[17] Chto Delat über On the Possibility of Light. URL: https://chtodelat.org//?s=Protesters+dream&x=0&y=0 [25.02.2017].
[18] Anastasia Murney, Pushing the Political Imagination: Ideological Disruption in the Practices of Inspection Medical Hermeneutics and Chto Delat, 2016, S. 22. URL: https://chtodelat.org/wp-content/uploads/2010/12/AnastasiaMurney_Manuscript_PushingPolitical.pdf [21.03.2017].
[19] Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 35.
[20] Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 92.

Ferial Nadja Karrasch studierte Kunstwissenschaft, Philosophie und Ausstellungspraxis an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, der Universität der Künste Berlin und der Universiteit van Amsterdam. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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