Wie man einen Bürgerkrieg verhindert

« Mémoire       Se plaindre de la sienne, – et même se vanter
de n’en pas avoir. Mais rugir, si on vous dit que vous n’avez
pas de jugement. »
(Gustave Flaubert, Dictionnaire des idées reçues)

Erschreckende Gewissheit macht sich breit. Michel muss im Anblick des vor ihm an der Wand hängenden Fotos erkennen, was er damals, als er die Aufnahme machte, nicht erkennen konnte: „[…] ich erkannte, wenn das Erkennen war, was passieren musste, was passiert sein musste, was passieren hätte müssen in diesem Moment, zwischen diesen Menschen, dort, wo ich eine Ordnung durcheinanderzubringen gekommen war, unschuldig eingemischt in das, was nicht passiert war, was aber nun passieren würde, was sich nun erfüllen würde. Und was ich mir also damals vorgestellt hatte, war sehr viel weniger schrecklich als die Wirklichkeit.“[1] Er hatte das Foto ohne besonderen Grund betrachtet, immer wieder, während er an einem Text arbeitete, als ihm plötzlich ein Detail ins Auge gesprungen sein musste, das seine Aufmerksamkeit erregte, das eine Funktion in seinem Wahrnehmungsapparat auslöste und da sah er auf dem Foto vor sich die Geschichte Revue passieren. Aber er sah sie nicht noch einmal so wie er sie schon damals gesehen hatte, sondern er sah sie neu. Er erkannte, was passiert sein musste, was aber damals nicht passiert war und die Geschichte rollte sich gleichsam in all ihrer Schrecklichkeit – viel schrecklicher als er sich vorgestellt hatte – vor ihm auf.

Ähnlich muss es Katharina ergangen sein, jenem jungen Mädchen, das ganz unverhofft zur Patientin Sigmund Freuds wurde, als er bei einem Ausflug in die Hohen Tauern in einer Wirtschaft von ihr bedient und auch gleich als Psychoanalytiker in Anspruch genommen wurde. Bei ihr war es allerdings kein Foto, das die Neukonfiguration der Erinnerung auslöste, sondern eine reale Beobachtung. Diese hatte eineinhalb Jahre zuvor bei ihr hysterische Anfälle ausgelöst, doch wie Freud in seinem Gespräch mit ihr erkannte, war es nicht deren Inhalt, der die Anfälle auslöste, sondern die Wiedererweckung vorhergehender traumatischer Ereignisse, die sie bis dahin nicht als solche hatte deuten können. Erst als Katharina ihren Onkel mit ihrer Cousine beim Koitus erblickte, konnte sie die bereits früher erlebte Berührung durch den Onkel deuten und das bis dahin bewusst lediglich unangenehme Erlebnis wurde zum traumatischen.[2]

Zwar findet sich der Begriff in dieser Aufzeichnung Freuds noch nicht, doch ist die Geschichte zweifelsfrei die einer nachträglichen Aufarbeitung von zuvor Erlebtem. Aber was bedeutet das, Nachträglichkeit? Im Vokabular der Psychoanalyse von Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis findet man unter dem Stichwort ‚Nachträglichkeit‘ folgendes:

„Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“[3]

Das bedeutet zunächst einmal, dass Erinnerungen nicht unveränderlich sind – ein bekanntes Faktum. Aber Erinnerungen sind nach dem Konzept der Nachträglichkeit nicht nur in dem Sinne veränderlich, dass sie verblassen können, sondern auch dahingehend, dass sie neu interpretiert werden können. Allerdings „ist solches Re-Interpretieren [nicht notwendigerweise] ein Immer-besser-Verstehen. Man versteht erneut mehr oder weniger gut etwas, das man schon einmal mehr oder weniger gut verstanden hatte.“[4]

Es bedeutet weiter, dass der Erinnerung auch etwas hinzugefügt werden kann, wenn es die Interpretation verlangt. In letzter Konsequenz führt diese Theorie zu der Erkenntnis, dass Erinnerung nicht nur verändert, ergänzt und reduziert werden kann und auch kontinuierlich wird, sondern, dass Erinnerung auch vollständig konstruiert werden kann – kurz: Wir können unseren Erinnerungen nicht mehr trauen.[5]

Viele unserer Erinnerungen sind demnach Konstruktionen, keine Rekonstruktionen des Vergangenen. Was aber für Erinnerungen gilt, ist auch für das Selbst möglich, respektive betrifft auch immer das Selbst, da sich unser Selbst-Bild aus Erinnerungen, Erzählungen, Vorstellungen und Imaginationen zusammensetzt – aus dem, was von unserer Umwelt auf uns einwirkt.[6] Mit einem Konglomerat von Bildern kann man demnach Identität erzeugen, noch effektiver, wenn man sie mit Erzählungen anderer kombiniert.[7] Mit einem geeigneten Archiv an Memorabilien ließe sich auf diese Weise eine unterdrückte kollektive Erinnerung, eine verdrängte Zeit der Geschichte, nun nachträglich aufarbeiten und so eine vielleicht verloren gegangene nationale Identität rekonstruieren. Ein solches Archiv erfüllte in etwa die Aufgabe von Wahrheitskomitees postdiktatorialer Staaten, wie sie Matthias Kettner beschreibt:

„Den wichtigsten Aspekt der Arbeit solcher Komitees aber sehe ich darin, daß sie auf das elementare Bedürfnis der Betroffenen eingehen, in voller, unzensierter Bedeutung in Erfahrung zu bringen, was damals eigentlich geschah. Für viele Opfer ändert sich hierdurch ihre Identität als Opfer: Sie erfahren nachträglich, welches Unrecht ihnen überhaupt widerfahren ist.“[8]

Das Bedürfnis, „in voller, unzensierter Bedeutung in Erfahrung zu bringen, was damals eigentlich geschah“ ist so elementar nicht, wenn die Identität als Opfer durch die Aufarbeitung der betreffenden Ereignisse in Gefahr geraten würde. Im Falle des Bürgerkriegs im Libanon zwischen 1975 und 1990 ist das Aufarbeitungsbedürfnis – oder eher der Wille zur Aufarbeitung der Ereignisse – gerade durch die Schuld- und Schamgefühle großer Teile der Nachkriegsgeneration (vor allem der Machthaber, oftmals einstige Warlords) gehemmt. Auch die Furcht vor einem erneuten Aufwallen des noch immer ungelösten Konflikts, der zum Kriegsausbruch führte, ließ im Libanon so etwas wie eine „kollektive Amnesie“ entstehen. Wenngleich in manchen Fällen das Vergessen der alten Konflikte eine schlichtende Wirkung für die Gegenwart haben mag, so ist doch die Verdrängung der Gräuel des Krieges, der Massaker in Flüchtlingslagern, der Bombenanschläge und der verschwundenen Menschen, eine Verdrängung, die alles andere als heilsam ist, wie Elias Khoury feststellt: “Civil wars are not to be erased from reality or from memory. They are only reborn or reincarnated. Banished from the written, they take to the spoken. Erased from memory, they colonize the subconscious.”[9]

Es ist eine komplizierte Geschichte, die des Bürgerkrieges (oder vielmehr der Bürgerkriege) im Libanon – nicht nur wegen des Konflikts, der noch immer im Inneren der sektiererisch getrennten libanesischen Gesellschaft schwelt, sondern auch, weil die Täter- und Opferrollen hier nicht eindeutig verteilt sind. Der Versuch, den Krieg als einen „Krieg der Anderen“ im öffentlich-kollektiven Gedächtnis festzumachen, muss unter dieser Prämisse verstanden werden und die Unfähigkeit, letztendlich ein solches öffentliches Gedächtnis zu etablieren, als Zeichen einer gewissen Identitätslosigkeit der libanesischen Nation.[10]

Walid Raad, selbst 1967 im Libanon geboren, hat mit seinem Projekt The Atlas Group einen Versuch unternommen, sich in dieses verworrene Gebiet der Kriegserinnerungen zu begeben.

“The Atlas Group is a project established in 1999 to research and document the contemporary history of Lebanon. One of our aims with this project is to locate, preserve, study and produce audio, visual, literary and other artifacts that shed light on the contemporary history of Lebanon. In this endeavour, we produced and found several documents including notebooks, films, videotapes, photographs and other objects. Moreover we organized these works in an archive, The Atlas Group Archive. The project’s public forms include mixed-media installations, single channel screenings, visual and literary essays, and lectures/performances. “[11]

So die Beschreibung des Projekts auf der Website des Archivs. Doch will man etwas mehr erfahren, stößt man sehr bald auf Ungereimtheiten: The Atlas Group sei eine „imaginary foundation“[12] heißt es zum einen, dann sie sei 1976 entstanden, oder 1999, ein andermal 1989.[13] Raad versucht in seinen Schriften und Auftritten kontinuierlich die Grenzen des Archivs zu verschieben und zu durchbrechen, bis letztlich so etwas bleibt wie eine Wolke, in der sich die verschiedenen Ansammlungen von Artefakten befinden.

Aber was sind das eigentlich für Artefakte, oder sind es tatsächlich solche? Erinnern wir uns an die eingangs gelesene Beschreibung, eines der Ziele der Atlas Group sei „to locate, preserve, study and produce audio, visual, literary and other artifacts”. Was beim ersten Mal vielleicht noch überlesen wurde, muss nun gleichsam hervorstechen: Ein Archiv, das seine Artefakte produziert?

Immer wieder fragte ich mich bei meiner Beschäftigung mit The Atlas Group Archive und den darin enthaltenen Akten, was denn davon nun wahr sei und was erfunden, welche Versatzstücke der Geschichte Walid Raad erfunden haben könnte und welche gefunden. Bis ich entdeckte, dass diese Unterscheidung hier fehl am Platz ist, weil The Atlas Group Archive kein Archiv der Vergangenheit ist, sondern eines der Gegenwart – oder gar der Zukunft. Eine eigenartige Verschränkung: Die Vergangenheit erkennen, aber dabei nach vorne blicken.

Wenn die Ereignisse der Vergangenheit und ihre Zusammenhänge wegen des immer noch drohenden Konflikts in der Gegenwart nicht aufgearbeitet werden können, dann muss man sich zumindest die Ereignisse im Kleinen – das Leid, den Terror des Krieges – befreit von ideologischen Konflikten  in der Gegenwart in Erinnerung rufen, denn „There is a ‚very simple‘ reason why it is necessary for the Lebanese to remember the civil war and talk about it, and that is to avoid another one“[14]. Die Datensätze des Atlas Group Archive befassen sich mit der Aufarbeitung des Krieges, mit dessen Erinnerung, aber nicht auf eine historische Weise: Sie versuchen nicht zu erkennen, was damals wirklich geschehen ist, die Ereignisse zu rekonstruieren, sondern sie versuchen die Erfahrungen jetzt greifbar zu machen, die die libanesische Bevölkerung damals ertragen musste.

Abb. 1: Walid Raad, Missing Lebanese Wars, Plate 1 & 2, 1989, 20 Farbfotografien à 25 × 32 cm.

In dieser (Re-)Konstruktion von Vergangenheit bleibt The Atlas Group stets auch selbstreflektiv: Das Fakhouri File beispielsweise enthält die Tagebücher des Historikers Fadl Fakhuori, der bis zu seinem Tod 1993 führender Historiker des Libanesischen Bürgerkriegs war (Abb. 1). Die Historiker des Bürgerkriegs im Libanon, so heißt es in Walid Raads Publikation Scratching on Things I Could Disavow: Some essays from The Atlas Group Project, waren „begeisterte Spieler“, sie trafen sich jeden Sonntag an der Pferderennbahn, um zu wetten. Allerdings nicht auf den Gewinner des Rennens, sondern auf die Verfehlung, mit der der damit beauftragte Fotograf den Zieleinlauf festhalten würde, also darauf, „wieviele Bruchteile einer Sekunde bevor oder nachdem das Pferd die Ziellinie überquert hat“ der Fotograf auslösen würde. In den Tagebüchern Fakhouris findet sich jeweils eine Fotografie des Zieleinlaufs aus der Zeitung, die einzelnen Wetten der Historiker und wer letztlich gewonnen hat. Das Werk beschäftigt sich nicht nur mit dem Krieg und „den Möglichkeiten und Grenzen seine Geschichte zu schreiben. Es zwingt uns auch, den Krieg nicht nur als eine Chronologie der Ereignisse, Daten, Persönlichkeiten, Massaker und Invasionen zu erachten, sondern auch als eine Abstraktion, geschaffen aus verschiedenen Diskursen und, noch wichtiger für Dr. Fakhouri, verschiedene Modi, Informationen aus der Welt aufzunehmen.“[15]

Dr. Fakhouris Tagebücher sind ein Verweis auf den Versuch, trotz der anhaltenden Kämpfe ein Leben zu führen, in dem der Krieg nicht immer die Oberhand behält. Schon der Titel deutet es an: Missing Lebanese Wars – hier, in diesen Stunden auf der Rennbahn, scheint der Krieg absent zu sein. Im vorliegenden Kontext ist dieses Werk wichtig, weil es auf die Funktion der Fotografie und ihre Verwendung durch Historiker reflektiert, die sich darin gerade für die Verfehlung des Fotos, seine Unrichtigkeit, interessieren, was einige Fragen aufwirft: Wie kann mit Fotografie Geschichte geschrieben werden? Und ist eine Fotografie ein konkreteres Zeugnis als eine mündliche Überlieferung? Überhaupt, was leistet eine Fotografie für die Geschichtsschreibung, wenn sie ohne verbale Begleitung auftritt?

Bereits vor der digitalen Revolution in der Fotografie mitsamt ihren mannigfaltigen Manipulations- und Vervielfältigungsmöglichkeiten gemachter Bilder hat Siegfried Kracauer die Gedächtnisleistung der Fotografie äußerst gering geschätzt. Eine Fotografie schien ihm nur transparent, so lange die darauf Abgebildeten noch nah sind, dann „bricht [das Gedächtnisbild] durch die Wand der Ähnlichkeit in die Photographie herein und verleiht ihr so einige Transparenz“; waren uns diese aber fern geworden, so konnte man sie auch durch die Fotografie nicht mehr sehen. Trotzdem ist seine Sicht auf den Fortgang der Fotografie keine gänzlich pessimistische: Während in den „illustrierten Zeitungen“ „die Folge der Emanzipation des Bewußtseins seine Tilgung [wäre]“, so ist doch „dem freigesetzten Bewußtsein eine unvergleichliche Chance gegeben.“ Diese Chance offenbart sich am fotografischen Archiv: Die von ihrer ursprünglichen Konfiguration losgelösten, auf ihre eigentliche Bedeutung, ihr Objekt hin opaken Elemente können nun neu angeordnet werden. „Die Bilder des in seine Elemente aufgelösten Naturbestands sind dem Bewußtsein zur freien Verfügung überantwortet.“ Diese Chance anzunehmen „ist das Vabanque-Spiel der Geschichte“.[16]

Und The Atlas Group spielt es auf ihre Weise. Sune Haugbolle fasst in seinem Artikel zusammen: “Forgetting the war might make it repeat itself at some point, but remembering it will most likely make it happen again right away.”[17] Sich den Krieg in Erinnerung zu rufen hieße also, alles auf eine Karte setzen, den Konflikt wieder aufleben zu lassen und sehen ob – und hoffen, dass – er sich diesmal beilegen ließe. Ihn vergessen dagegen hieße zu passen und sich langsam aber sicher dem Bankrott entgegen zu spielen. Im Vergleich dazu ist das Spiel der Atlas Group ein relativ risikofreies. Es ist ein Weg, zwar nicht zu vergessen, aber sich eigentlich auch nicht zu erinnern. „So gemahnt dieses Spiel mit der zerstückelten Natur an den Traum, in dem die Fragmente des Taglebens sich verwirren.“[18] (Und an die Wolke, in der die einzelnen Akten und ihre Eckdaten unscharf verortet sind.) „Die in das Generalinventar aufgenommenen Reste“ bleiben bestehen, doch „die gültige Organisation [ist] unbekannt“.[19] Die Schrecken des Krieges werden aufgearbeitet und die Menschen „erfahren nachträglich, welches Unrecht ihnen überhaupt widerfahren ist.“[20] Doch der Konflikt, der den Krieg wieder zu entfachen droht, bleibt vorerst unangetastet.

Programmatisch dafür soll ein letztes File des Atlas Group Archive stehen: Secrets in the Open Sea (Abb. 2).

„Secrets in the Open Sea consists of 6 large photographic prints that were found buried under the rubble during the 1992 demolition of Beirut’s war-ravaged commercial districts. The prints were different shades of blue and each measured 110 × 183 cm. The Lebanese Government entrusted the prints to The Atlas Group in early 1994 for preservation and analysis. “[21]

Abb. 2: Walid Raad, Secrets of the Open Sea, 1994-2004, 6 Farbfotografien à 110 × 185 cm.

The Atlas Group hat diese nun in Laboratorien in Frankreich und den Vereinigten Staaten geschickt, denen es gelungen ist, in den Prints latente Schwarz-Weiß-Fotografien sichtbar zu machen (Vgl. Abb. 2, rechts unten), die allesamt Gruppenportraits von Männern und Frauen zeigten. The Atlas Group schaffte es in weiterer Folge, alle abgebildeten Personen zu identifizieren, „and it turned out that they were all individuals who had been found dead in the Mediterranean between 1975 and 1990“.[22]

Latente Bilder, die aus diesem atmosphärischen Blau rekonstruiert wurden, Erinnerungen an Menschen, die verstorben sind, tot aufgefunden im Mittelmeer. Es ist in mehrerlei Hinsicht (nicht) bezeichnend: Dieses Blau ist das am Weitesten vom Fotografischen entfernte Bild, es ist aber gleichzeitig das dem „Gemeinten“[23] nächste Bild, nicht insofern es etwas meint, sondern insofern es zu jedem Gemeinten, das nur wartet sich auf etwas zu beziehen, das Bild stellen kann. Erst die Betrachtenden erkennen, was es (für sie) meint, die Chance ist am größten, daraus alles zu konstruieren, was latent in ihnen vorhanden ist, die persönlichen Erinnerungen finden hier den Platz, sich zu manifestieren. Wie beim Betrachten eines ganz unscharfen Bildes kann der Blick „sogar so sehr von jeglichem gezielten Anschauen gelöst sein, daß er sich ebenso nach innen wie nach außen wendet. […] Das Äußere wird entsprechend dankbar als Spiegel des eigenen Ich erfahren, doch da sich nur matt ein konturloses Bild darauf zeigt, ist dieser Spiegel zugleich – und vielleicht noch mehr – Projektionsfläche.“[24] Eine Projektionsfläche, die Erinnerungen sonst oft verwehrt bleibt, wie Haugbolle feststellt: “Many private memories simply never find a voice, be this because of social, political, or emotional constraints and censure, and they die unuttered.”[25] Die Bilder aus Secrets in the Open Sea (und darin sind sie programmatisch für The Atlas Group Archive) helfen zur Rekonstruktion von Erinnerungen, aber ohne ihre Verortung in dem konfliktbeladenen Feld des Libanesischen Bürgerkriegs: Sie zeigen nicht mehr dorthin, wo jemand etwas verbrochen hat, sondern sie versichern, dass an jemandem – dem, der sich erinnert – ein Verbrechen begangen wurde. Er kann sich dessen dadurch sicher sein und seine Erfahrungen verarbeiten, weil seine Erinnerungen nicht „unausgesprochen sterben“. Es sind vor allem persönliche Erinnerungen, die vor dem Hintergrund dieses Blaus entstehen, das keinerlei Verweise mehr auf die Wirklichkeit trägt (selbst die rekonstruierten Fotografien sind so klein gehalten, das es schwerfällt, etwas zu erkennen). Was die Erinnerungsfunktion auslöst, ist der beigefügte Text, die Geschichte, die um diese Bilder herum erzählt wird. Mit dieser erst wird die Chance der Neukonfiguration genutzt und den durch den Krieg traumatisierten Betrachtenden ihrerseits die Chance gegeben, ihre verdrängten Erinnerungen aufzuarbeiten.

Aber birgt dieses Spiel letztendlich vielleicht doch Gefahr? Wenn The Atlas Group die Geschichte rekonstruieren kann, indem sie Artefakte „ortet, aufbewahrt, studiert und produziert“[26], wer könnte andere daran hindern, eine andere Geschichte zu zeigen, indem sie ihrerseits andere Artefakte produzieren? Doch die Produktionen der Atlas Group schreiben selbst keine Geschichte des Libanesischen Bürgerkriegs, sie helfen lediglich und ermutigen die Menschen, sich zu erinnern. Der manipulative Einsatz von (konstruierten oder nicht konstruierten) Fotos und anderen Artefakten ist aber zweifelsohne möglich und um ihn vom auxiliaren Einsatz unterscheiden zu können gilt es zuallererst, sich beider Möglichkeiten bewusst zu sein. Gerade dafür aber sensibilisiert die Beschäftigung mit The Atlas Group Archive. Mehr noch, Walid Raad kämpft mit seinem Projekt gegen die Verdrängung und gegen das Vergessen an. Auch wenn die Menschen durch die Kriege von ihrer Geschichte und ihrer Tradition abgetrennt wurden, bekommen sie so die unverbindliche Möglichkeit sich zu erinnern, die notwendig ist für eine Zukunft, in der sich die Geschichte nicht mehr wiederholt.


[1] Vgl. Julio Cortázar, Las babas del diablo [1958], in: Ders., Las armas secretas, Barcelona 2000, S. 49–64; das Zitat ist auf S. 60-61 und wurde von mir ins Deutsche übertragen: “[…] comprendí, si eso era comprender, lo que tenía que pasar, lo que tenía que haber pasado, lo que hubiera tenido que pasar en ese momento, entre esa gente, ahí donde yo había llegado a trastrocar un orden, inocentemente inmiscuido en eso que no había pasado, pero que ahora iba a pasar, ahora se iba a cumplir. Y lo que entonces había imaginado era mucho menos horrible que la realidad”. Eine weiterführende Analyse der Kurzgeschichte bietet Susanne Stemmler, „El gesto revelador“. Fotografisches Erzählen in Julio Cortázars Las babas del diablo, in: Silke Horstkotte/Karin Leonhard, Lesen ist wie Sehen, Köln 2006.
[2] Vgl. Sigmund Freud/Josef Breuer: Studien über Hysterie. Leipzig/Wien 1895, S. 106–116.
[3] Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, S. 313. Weiterführend vgl. Matthias Kettner, Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub, Die dunkle Spur der Vergangenheit, Frankfurt am Main 2001, S. 33–69.
[4] Kettner 2001, S. 38.
[5] Dass echte Erinnerungen an Ereignisse, die nicht stattgefunden haben durch Narrationen und/oder Fotographien erzeugt werden können, haben mehrere psychologische Experimente gezeigt. Vgl. insbesondere Maryanne Garry/John D. Read/D. Stephen Lindsay, A picture is worth a thousand lies: Using false photographs to create false childhood memories, in: Psychonomic Bulletin & Review, 9, 3 (2002), S. 597–603 zur Erzeugung von false memories mit manipulierten Photographien; D. Stephen Lindsay/Lisa Hagen/John D. Read/Kimberly A. Wade/Maryanne Garry, True photographs and false memories, in: Psychological Science, 15 (2004), S. 149–154 zum gleichen Effekt mit echten Fotographien und dazugehöriger schriftlicher Überlieferung und Maryanne Garry/Matthew P. Gerrie, When Photographs Create False Memories, in: Current Directions in Psychological Science, 6, 14 (2005), S. 321–325 für einen Überblick.
[6] Vgl. Johannes Meinhardt, (Re)Konstruktion der Erinnerung. Christian Boltanskis Untersuchung des Subjekts und des Sozialen, in: Kunstforum International, 113 (1991), S. 298–313, S. 302.
[7] Es sei hier noch einmal auf die in Anm. 5 angeführten Publikationen verwiesen.
[8] Kettner 2001, S. 68.
[9] Elias Khoury, On Beirut, in: Thomas Scheffler (Hg.), Religion between violence and reconciliation, Beirut/Würzburg 2002, S. 175–178, S. 176–177; für Aufarbeitung und Umgang mit Erinnerung an den Libanesischen Bürgerkrieg vgl. Sune Haugbolle, Public and Private Memory of the Lebanese Civil War, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East, 1, 25 (2005), S. 191–203.
[10] Haugbolle 2005, S. 202.
[11] http://theatlasgroup.com [05.03.2011].
[12] Walid Raad, Scratching on Things I Could Disavow: Some essays from The Atlas Group Project, Köln 2007, S. 54.
[13] Raad 2007, S. 68, S. 86 und Walid Raad, o.T., in: Kassandra Nakas/Britta Schmitz (Hg.), The Atlas Group (1989 – 2004). A project by Walid Raad, Köln 2006, S. 66–130, S. 67.
[14] O.A., How to prevent a civil war: Remember the last one, in: The Daily Star of Lebanon, 12.04.2003.
[15] Für den ganzen Absatz vgl. Raad 2007, S. 16–18, alle Zitate stammen ebenfalls von dort und wurden von mir ins Deutsche übertragen.
[16] Für den ganzen Absatz vgl. Siegfried Kracauer, Die Photographie [1926], in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1963, S. 21–39, alle Zitate stammen ebenfalls von dort.
[17] Haugbolle 2005, S. 191.
[18] Kracauer 1926, S. 39.
[19] Kracauer 1926, S. 39.
[20] Kettner 2001, S. 68.
[21] http://theatlasgroup.org [06.03.2011].
[22] http://theatlasgroup.org [06.03.2011].
[23] „Gleichviel, welcher Szenen sich ein Mensch erinnert: sie meinen etwas, das sich auf ihn bezieht, ohne daß er wissen müßte, was sie meinen. Im Hinblick auf das für ihn Gemeinte werden sie aufgehoben. Sie organisieren sich also nach einem Prinzip, das sich von dem der Photographie seinem Wesen nach unterscheidet. Die Photographie erfaßt das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint. Da das Gemeinte in dem nur-räumlichen Zusammenhang so wenig aufgeht wie in dem nur-zeitlichen, stehen sie windschief zur photographischen Wiedergabe.“ (Kracauer 1926, S. 24–25).
[24] Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2009, S. 42.
[25] Haugbolle 2005, S. 199.
[26] http://theatlasgroup.com [05.03.2011], übers. v. J.B.

Quellennachweis: Jürgen Buchinger, Wie man einen Bürgerkrieg verhindert. Walid Raads The Atlas Group Archive und der Versuch der Wiederherstellung einer nationalen Identität, in: ALL-OVER, Nr. 2, März 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=855.

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Modern Art Revisited: A Fascination for the Occult

Johann Heinrich Füssli, Robin Goodfellow-Puck, 1787 – 1790, oil on canvas, 106 x 82 cm, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen (© Adagp Paris 2012)

Only a couple of years ago the Musée d’Art Moderne in Paris (Centre Pompidou) organised a monumental exhibition on modern art and ‘the sacred’, entitled Traces du Sacré.[1] It continued where a much earlier show had left off: the 1986 exhibition The Spiritual in Art (Los Angeles and The Hague).[2] Now the Musée d’Art Moderne et Contemporain de la Ville de Strasbourg (MAMCS) has trumped both with a grand exhibition focusing on the same topic: L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750-1950.[3] Obviously where Traces du Sacré and The Spiritual in Art opted for terminology such as ‘the sacred’ and ‘the spiritual’, the curators of L’Europe des esprits have made no bones about the real topic under discussion: occultism.

The MAMCS and the curators, Serge Faucherau and Joëlle Pijaudier-Cabot as well as a host of associated experts, have done a good job with this exhibition. It consists of one main show and two small complementary expositions, a film and lecture program, and a catalogue which contains a wealth of illustrations and a number of good contributions. The two small shows are in the same building but separated from the main show, to which the full first floor of the Museum is given over. Entitled L’Europe des esprits, arts et littérature, it is structured chronologically and ranges from early Romanticism to the late avant-gardes. One starts off with Les Romantiques et l’occulte and continues through Symbolismes and Abstractions et autres expressions d’avant-garde to the final part, Constellations surréalistes. The focus is exclusively European and on display are mainly paintings with some drawings and sculptures included for good measure.

The two complementary shows, though small, each highlight an important part of Europe’s occult fascination: Quand la science mesurait les esprits treats the relationship between science and occultism; and Histoire et iconographie de l’occulte: un monde d’écrits et d’images the paper trail of western esotericism generally, including occultism and spiritism.

Martin Schongauer, Temptation of the Saint Antony, ca. 1473, engraving, 30,7 x 27,2 cm, Strasbourg, Cabinet des Estampes et des Dessins. (Photo: M. Bertola / Musées de Strasbourg)

Let us start with this last small exposition of primary sources: it asks much from an audience and will not be appreciated by all, as many people generally consider looking at large paintings hanging well-lighted on walls easier and perhaps visually also more gratifying than peering at small books in tiny print, lying in cabinets. Yet this two-room show is essential to a well-grounded understanding of the overarching theme of the exhibition and as such demonstrates not only how thoroughly the curators have constructed the exhibition as a whole, but also how well they understand the topics they’re dealing with. Paper sources – on display are books, woodcut-prints, drawings, pamphlets, etc. – have always been one of the main channels by which any fascination for the esoteric generally or the occult specifically was sparked, sustained and transmitted to others and to other generations. The selection of shown sources is very relevant, ranging from Marsilio Ficino’s neo-Platonic works and Heinrich Khunrath’s Emerald Table to Emanuel Swedenborg’s many writings and the pamphlets of Joséphin Péladan. Such primary esoteric material is combined with many examples of literary and graphical sources (drawings, etches, woodblock-prints) that illustrate well to which considerable extent literature and the graphical arts appropriated esoteric thought, motifs and iconography. Examples displayed range from Dante’s Comedy to the poems of Charles Baudelaire and the stories of Arthur Conan Doyle, but include also etches of Albrecht Dürer and Hans Baldung Grien. By showing sources such as these, this small exposition offers an important two-fold insight: That occultism was not something to suddenly appear on the European stage, but rather a development that was a long time in the making, going back to Renaissance esotericism; and furthermore that literature and the arts have been engaging in esotericism since that time – in other words, that a relationship between the visual and literary arts and esotericism was already in existence by the time of Romanticism. Obviously by the nineteenth century and certainly in the twentieth the visual arts were taking their interest in esotericisms of their time, occultism and spiritism, to a whole new level, which is the central premise of this show, explored and visualised in the main exposition, entitled L’Europe des esprits, arts et littérature.

Europe of the spirits is aimed towards showing how the visual and also the literary arts were informed and inspired by and appropriated occultism. The tone is immediately set by a selection of dark drawings by Francisco de Goya. The first part is entitled Romanticism and the occult, but primarily develops the Romantic taste for the dark, wild, chaotic, haunting, gothic and otherwise rather heterodox side of things, which obviously also included occultism.

Francisco Goya, The Conjuration (The Witches), 1797-1798, oil on canvas, 43 x 30 cm, Fundación Lázaro Galdiano, Madrid. (Photo: Fundación Lázaro Galdiano, Madrid)

Thus the point is made that many Romantic artists gravitated rather naturally, more or less, towards occultism. Symbolism, the focus of the second part, is the period when certain modern artists really started to create occult art, that is, when they started to move beyond the mere use of established occult themes or tropes and towards developing a new and occultly informed iconography. Additionally to just reading or hearing about occultism, artists now became more or less personally involved in occult and/or spiritist milieus. In other words, occultism in the arts changed from being primarily a repository of information in which to find exciting or mysterious motives and tropes to something more of a worldview or lifestyle. This development reached its peak with the avant-gardes, the third part of the show.

Abstractions and other expressions of the avant-garde explores how modern artists continued on the path Symbolism had set out on, but moved beyond established forms and iconography to new forms and styles even. Obviously attention is paid to the connection between Early Abstract art and occultism and spiritism, particularly the impetus that the latter movements proved to be in certain artists’ move from figuration to abstraction. These artists, of which Wassily Kandinsky, Piet Mondrian and Hilma af Klint are the most famous examples, and their art have already been the central focus of The Spiritual in Art. In 1986 the connection between spirituality – or rather esotericism – and abstract art was still very new and exciting and the show came hard on the heels of the seminal and influential study of Kandinsky by Sixten Ringbom.[4] A decade later the Schirn Kunsthalle focussed on the same period and group of artists with Okkultismus und Avantgarde: von Munch bis Mondrian 1900-1915,[5]  while the same group moreover made its appearance in Traces du Sacré as well as now in L’Europe des esprits. The relationship between occultism and Early Abstract art is quite well established by now, and perhaps becoming rather stale. Yet it must be said that the curators of L’Europe des esprits have tried to find a new angle to this topic by including less known artists such as Maria Ender, Mikhaïl Matiouchine and Auguste Herbin alongside the more usual suspects Kandinsky and af Klint. In similar vein another usual suspect is on display, the book Thought-Formsby Theosophists Annie Besant and Charles Leadbeater and its colourful illustrations of thought-forms, but combined with something less frequently seen and just as relevant: colour-full conference designs by Rudolf Steiner explaining metamorphosis, thought-processes and the cabalistic Séphirot. Also the early avant-gardes are not limited to the abstract ones. By also including avant-garde artists who continued to work more or less figuratively, such as Tyko Sallinen, Alberto Martini or Paul Klee, the show does point out that others also engaged in occultism just as the abstract artists did.

Paul Klee, Demonic Young Lady, 1937, crayon and distemper on paper on carton, 45,6 x 30,9 cm, Bern, Zentrum Paul Klee. (Photo: D. R.)

The last part, Surrealist Constellations is a bit weaker than the earlier three, not so much in the art exhibited as in the direction indicated by that title. The curators do not quite make it clear how and why modern art’s obsession with occultism ends with Surrealism (or even if it did so). Nevertheless they have opted for an interesting array of artworks, including a separate room with spirit art and art brut. These forms of art, classified as ‘mediumistic art’ by Breton in the early 1920s, were much admired by the surrealists and played an important role in the surrealist exploration of automatic states and techniques. The rebranding of spirit art as ‘automatic art’ in Surrealism, for instance, showcases how for the surrealists the occult and the spiritual had become fully secularized. Unfortunately there are no hints as to how the fascination of the occult developed after 1950, something which Traces du Sacré did pay considerable attention to. One assumes that the chronological construct Romanticism + Modernism underlies the time-frame 1750-1950, and that the curators did not want to burn their fingers on postmodernism. That is a good choice as the show is imposing enough as it is and because the bonds between Romanticism and the avant-garde are apparent and make for a coherent whole. Perhaps next time, however, the Museum will provide visitors with a small pointer on what happened with occultism and art afterwards—because the fascination of the one by the other was far from over (and still is not today).

The majority of exhibited materials are paintings, with graphical works coming in second place. The literary angle takes the form of books shown here and there, for example by William Blake, Johann Wolfgang von Goethe and Edouard Schuré. It is not really developed in the main show, which, as it is developed in the side show detailing the paper trail, is not problematic. Amongst the paintings and drawings one will find a sculpture occasionally or perhaps a temple-model, but not much else. The prevalence of painting parallels the collection of the MAMCS itself, but also the current state of scholarship on occultism and the modern arts, in which painting has already received a significant amount of attention while sculpture or architecture lag behind, not to mention the performance arts such as theatre, dance and even music and cinema. It is not that such art disicplines are totally absent from the exhibition; the curators do point out the connections between the different disciplines of the arts, for instance with dance as developed by Loïe Fuller, Isidora Duncan and Rudolf Laban, and Rudolf Steiner. Photographs document these trailblazers and their dances. It is just that these arts all play second fiddle to painting, something they are frequently forced to do as painting is still considered the most eminent art form today. One can only hope that future exhibitions on such a grand scale will be devoted to the relationship between occultism and the performance and musical arts. Even more, one should hope for shows that focus on how occultism was in fact fascinated by the arts – because obviously admiration, inspiration, influence and appropriation went both ways. The products and objects of occultism, spiritism or esotericism generally usually only make their appearance in museums to illustrate developments in the ‘real’, that is canonised art movements, such as Symbolism and the avant-garde; this is also the case in L’Europe des esprits.

Yet in general the curators are to be commended for taking such a step forward, as they have certainly done with this show. This was achieved by taking a number of small steps, which all together make this exhibition stand out as a well-researched, comprehensive and valuable approach to the topic. For instance, the fact that masking terms such as ‘the spiritual’ are dispensed with is important. Spiritism and occultism are taken seriously as cultural forces in themselves, which had much more to offer than a mysterious iconography or some lurid ideas. The show’s emphasis upon the paper trail, embedding as it does occultism and spiritism in the larger overarching discourse of esotericism, testifies to the fact that all three of these movements – esotericism, occultism and spiritism – have now been upgraded to proper historical developments. Secondly, the curators show sensitivity to the differences between flirting with the gothic or heterodox, appropriating occult iconography and creating new occult art, providing room for a proper evaluation of the dynamic between a particular artist and their art, and occultism.

A third step taken is the choice to focus on Europe. Although the show also includes Scandinavian, Baltic and Eastern-European artists, obviously French and German art still form the heart of the displayed works (as they did in the other mentioned exhibitions). Nevertheless the aim to emphasize that modern art’s ‘fascination by the occult’, as they call it, was a pan-European thing, is commendable. Similarly to be praised is the effort to show that said fascination was furthermore shared across styles, schools, mediums and disciplines.

A fifth important step that has been taken is to highlight the presence and role of science in the contemporary discourses of the arts and occultism and spiritism. This forms the theme of the other small side show, entitled When science took the spirit’s measure. This two-room exposition emphasises that a fascination with the occult was not something beholden to the literary and visual arts alone, but rather a culture-wide phenomenon, with a particular strong presence in the sciences. Many scientists and intellectuals engaged in research of the phenomena of spiritism, also known as psychical research. Unfortunately the small exposition does not quite rise above the level of a collection of curiosa. A number of very interesting devices and machines are displayed, for instance from the Science Museum of Strasbourg University, but the exposition fails to fully explain what they were supposed to measure, what they actually did measure, how they were employed within the séances and how mediums and other spiritists reacted to such machinery. Moreover, while we are informed that modern artists were aware of psychical research, it does not quite become clear how, why and also when that occurred – only in the early twentieth century, as seems to be suggested, or also before that? And what did it result in? Admittedly these issues are clarified more or less in the catalogue, yet for those just browsing through the show it will remain somewhat of a mystery how psychical research was conducted and what it provided to science, occultism, spiritism and the arts.

Yet this concerns a side-show. All in all L’Europe des esprits is a well-constructed exhibition, comprehensive, tracing a broad path while pointing out many particularities and sketching relevant developments succinctly and clearly. I am sure that it will set the standard for a long time to come.


L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750-1950
Musée d’Art moderne et contemporain de la Ville de Strasbourg, France: 8 October 2011 – 12 February 2012
Zentrum Paul Klee, Bern, Switzerland: 31 March – 15 July 2012[1] Centre Pompidou, Jean de Loisy, & Angela Lampe (eds.), Traces du Sacré (Cat.), Paris 2008.
[2] LACMA & Haags Gemeentemuseum, Maurice Tuchman (ed.), The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1985 (Cat.), Los Angeles & The Hague 1986.
[3] MAMCS, Joëlle Pijaudier-Cabot & Serge Faucherau (eds.), L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750-1950 (Cat.), Strasbourg 2011.
[4] Sixten Ringbom, The Sounding Cosmos: A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting, Abo 1970.
[5] Schirn Kunsthalle, Veit Loers (ed.), Okkultismus und Avantgarde: von Munch bis Mondrian 1900-1915, Frankfurt 1995.

Quellennachweis: Tessel M. Bauduin, Modern Art Revisited: A Fascination for the Occult. Review of the exhibition L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750-1950, in: ALL-OVER, Nr. 2, März 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=810.

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„I have no idea, what art is!“

Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der im kommenden Sommer stattfindenden dOCUMENTA (13), spricht dieser Tage viel über das anstehende Ausstellungsprojekt. Sie spricht über Hunde, ihre Reisen zu Freundinnen und Freunden und über altrömische Philosophen. Und es scheint fast so, als spräche sie ungern über Kunst oder über das Konzept ihrer documenta – wie auch immer dieses geartet sein wird. In verschiedenen Vorträgen und Interviews konstatierte Carolyn Christov-Bakargiev schließlich fast provozierend, dass sie nicht wüsste, was Kunst sei. Diese Aussage sollte aber nicht vorschnell als naiv missverstanden werden, sondern ist von einem Skeptizismus beeinflusst, der die Konzeption der dOCUMENTA (13) entscheidend prägen wird.

Dass eine philosophische Position den Hintergrund für eine Ausstellung liefert, ist sicher nicht ungewöhnlich und dass das vermeintlich autonome Kunstwerk als Zentrum eine enorme Bandbreite an Peripherien hat, ist unbestritten: Kunstkritik, Kunstvermittlung, Kunstphilosophie und der Kunstmarkt sind Teil des Systems Kunstwelt. Wirft man einen Blick auf weitere mit der dOCUMENTA (13) assoziierte Wissensfelder, kann sich durchaus Verwunderung einstellen: Die Teilnehmenden der Kunstausstellung in Kassel sind laut der Homepage Agenten / Agentinnen, Aktivisten / Aktivistinnen, Anthropologen / Anthropologinnen, Archäologen / Archäologinnen, Biologen / Biologinnen, Choreographen / Choreographinnen, Dichter / Dichterinnen, Feministen / Feministinnen, Filmemacher / Filmemacherinnen, Historiker / Historikerinnen, Hypnotherapeuten / Hypnotherapeutinnen, Kritiker / Kritikerinnen, Kulturtheoretiker / Kulturtheoretikerinnen, Künstler / Künstlerinnen, Kunstwissenschaftler / Kunstwissenschaftlerinnen, Kuratoren / Kuratorinnen, Lehrer / Lehrerinnen, Philosophen / Philosophinnen, Physiker / Physikerinnen, Schriftsteller / Schriftstellerinnen, Tänzer / Tänzerinnen, Übersetzer / Übersetzerinnen, Umweltschützer / Umweltschützerinnen, Wissenschaftler / Wissenschaftlerinnen, sowie Zoologen und Zoologinnen.[1] Die genuin Kunstschaffenden sind hier nur eine Gruppierung unter vielen, im Ankündigungstext für den Katalog wird ihnen lediglich zugedacht, die anderen Beiträge zu „bereichern“.[2] Handelt es sich bei der dOCUMENTA (13) wirklich noch um eine Kunstausstellung oder rücken bisher periphere Themen in ihren Mittelpunkt?

In Bezug auf Zentrum und Peripherie stellt Marius Babias in seinem Sammelband zur Kunstvermittlung eine bemerkenswerte Behauptung auf: „Die Peripherie beginnt das Zentrum – die autonome künstlerische Behauptung – auszuhöhlen. Kunst entsteht heute in dem Bewusstsein, dass sie auf ein Fachpublikum und eine Kennerschaft hin produziert und in einer gleichbleibenden Hierarchie rezipiert wird.“[3] Die daraus resultierende Ratlosigkeit bei einem Großteil der Besucherinnen und Besucher hat zur Folge, dass Peripherien für viele einen zentraleren Stellenwert einnehmen können als das Kunstwerk selbst. Dies beginnt bei der vermeintlichen Pflichtlektüre von Katalogtexten, geht über die Angebote der Museumspädagogik bis hin zur künstlerischen Kunstvermittlung. Durch letztere könnten sogar verschiedene Gegenöffentlichkeiten geschaffen werden, die sich mehr oder minder stark von der institutionellen Verankerung des Feldes Kunst abgrenzen.

Diese Entwicklung selbst lässt sich aber kaum als peripher, also randständig, bezeichnen und ist deutlich an den Kunst-Großausstellungen um die Jahrtausendwende, insbesondere den documenta-Ausstellungen 10 bis 12, und deren Standpunkten zu den Polen Zentrum und Peripherie abzulesen. Oliver Marchart beschreibt die Positionen dieser Ausstellungen als Grabenkämpfe zwischen Politisierung und Ästhetisierung – dem Außen und Innen der Kunst.[4] Die dOCUMENTA (13) scheint nun bevorzugt Randbereiche der Kunstwelt, das Außen der Kunst in den Fokus zu nehmen. Höhlt die Peripherie damit das Zentrum endgültig aus?

Um sich der Antwort auf diese Frage anzunähern, muss auf die Entwicklung der Ausstellungsreihe in den letzten zwei Jahrzehnten eingegangen werden: Nachdem Jan Hoet die eigene körperliche Erfahrung als Leitidee seiner vermeintlich konzeptfreien documenta IX (1992) postuliert hat, gelang es Catherine David mit der documenta X (1997), eine gewisse Politisierung von Kunst- und Ausstellungspraxen im Zentrum des Kunstfeldes zu ermöglichen, wie sie sich an der Peripherie des Kunstfeldes durchaus bereits seit Längerem vollzog.[5] Die Stadt Kassel wurde in Form eines Parcours in die documenta miteinbezogen und fungierte als Projektionsfläche für eine Bandbreite zunächst kunstferner Themen wie zum Beispiel „Weltkapitalismus“, „Eigentlichkeit“, „Vernetzung“ oder „Exotismus“. Diese Verschiebung zum Politischen ist besonders deutlich am Katalog selbst ablesbar, der unter dem Titel „politics/poetics“ eher ein Reader postmoderner Theorien als ein Ausstellungskatalog im klassischen Sinne ist. Interessanter Weise stand die Kunstvermittlung, der die Leiterin Catherine David misstrauisch gegenüberstand, in keiner angemessenen Relation zu diesem theoretischen Überbau, sodass die Theorien hinter Ausstellung und Katalog trotz ihrer Fülle für viele unzugänglich blieben.[6] Die Peripherie hatte in diesem Fall das Zentrum möglicherweise nicht ausgehöhlt, aber es wurde in jedem Fall versäumt,  den Überblick auf das Gesamtwerk documenta X zu ermöglichen.

Die Documenta11 (2002) unter der Leitung von Okwui Enwezor, dem ersten nicht-europäischen Kurator einer documenta, führte den Weg der Politisierung fort und versuchte sich nicht nur in einer theoretischen, sondern auch geografischen Dezentralisierung: Die Ausstellung in Kassel war nur eine von fünf Plattformen, die gemeinsam die Documenta11 bildeten. Die Plattformen 1-4 fanden als Tagungen in Berlin, Neu Delhi, St. Lucia und Lagos statt. Dort wurden allerdings nicht wie in Kassel künstlerische Arbeiten ausgestellt, sondern in verschiedenen Diskussionsrunden Themen wie „Creolite und Creolisierung“ oder „Experimente mit der Wahrheit“ abgehalten. Die Kunstvermittlerinnen und Kunstvermittler, die sich also auch mit Themen des Postkolonialismus, Orientalismus und der Institutionskritik auseinandersetzen mussten, bildeten die inoffizielle „Plattform 6“, und waren nach ihrer Schulung sicherlich in der Lage, die verschiedenen Peripherien ebenso wie die vielfältigen Kunstwerke der Ausstellung mit den Besucherinnen und Besuchern zu diskutieren.[7] Es sollte allerdings hinterfragt werden, ob es nicht zwei verschiedene documenta-Ausstellungen im Jahre 2002 gab: Die ideale Konzeption einer dezentralisierten Kunstausstellung – die nur ein peripherer Aspekt unter anderen sein konnte – auf der einen Seite und andererseits eine klassische und klassisch rezipierte Kunstausstellung, deren Theoriegehalt in der Wahrnehmung des Publikums an den Rand gedrängt wurde. Hier zeigt sich, wie schwierig es den Bemühungen der institutionskritischen Peripherie mitunter fällt, gegen hegemoniale Wahrnehmungsformen anzugehen. Das Kunstwerk und seine eurozentristische Rezeption ließ sich selbst durch den anerkannten Machtapparat „documenta“ weder aushöhlen noch verschieben. Dies hätte nach Oliver Marchart funktionieren können, wenn Okwui Enwezor die Ausstellung hätte ausfallen lassen und somit seine Dezentralisierung absolut umgesetzt hätte – doch damit hätte man sich gleichzeitig des Apparates beraubt, der diese radikale Nicht-Ausstellung publik machen könnte.[8]

Im Jahre 2007 ließ sich mit der documenta 12 eine deutliche Gegenbewegung beobachten, die als Rezentrierung und Re-Kasselisierung bezeichnet werden kann: Der theoretische Überbau wurde zugunsten einer Ästhetisierung entscheidend geschmälert.[9] Das Kuratorenteam Ruth Noack und Roger Buergel löste mit dem Konzept der Migration der Form die Werke aus ihren tradierten Kontexten und setzte sie in neue, provisorische Zusammenhänge. Erläuternde Beschriftungen der Werke in der Ausstellung waren selten und auch der Katalog bietet wenig mehr als die Basisinformationen zu den Künstlerinnen und Künstlern. Diese Konzentration auf das autonome Kunstwerk als Zentrum sollte den Rezipierenden ermöglichen, sich die Arbeiten aus einer ästhetischen Argumentation heraus zu erschließen und nicht durch ein wie auch immer geartetes Metawissen. Damit einher ging auch ein besonderer Fokus auf die Vermittlungsprogramme, welcher sich insbesondere in einer umfangreichen Begleitforschung unter der Leitung von Carmen Mörsch abzeichnet.[10]

Rückblickend scheint es, als hätte die documenta 12 durch ihren Fokus auf das Werk einem Großteil der Besucherinnen und Besucher mehr Zugang ermöglicht als die beiden vorherigen Ausstellungen, dennoch wurde das Konzept von Roger Buergel und Ruth Noack von der Fachpresse größtenteils kritisch beurteilt, da es die Komplexität der Einzelwerke und der (Kunst-)Welt im Allgemeinen zu stark vereinfache.

Insbesondere Oliver Marchart ist in seiner Kritik an der documenta 12 recht hart und schießt meines Erachtens in seiner Beurteilung mehrfach über das Ziel hinaus. Dennoch zieht er aber mit Blick auf die Vermittlung ein treffendes Resümee: Die Kunstvermittlung der documenta 12 konnte noch so ambitioniert sein, emanzipatorische, dekonstruktivistische und transformative Vermittlungsformate zu entwickeln – da die Ausstellung als solche keine emanzipatorische war, mussten die Vermittlerinnen und Vermittler an ihrer Aufgabe scheitern, oder zumindest auf halbem Wege innehalten.[11] Oder um es mit den Worten der Ausgangsfrage zu formulieren: Möglicherweise ist das Zentrum ohne seine Peripherien zu leer, um wirklich autonom zu bestehen.

Trotz aller und zum Teil sicherlich berechtigter Kritik an der documenta 12 sollte allerdings nicht übersehen werden, dass sie etwas geleistet hat, was die Jahre zuvor weniger gut gelungen ist: Das Publikum – welches sich nicht nur aus Expertinnen und Experten zusammensetzt – hatte mit der Migration der Form einen Zugangsschlüssel, mit dem die Ausstellung und die Einzelwerke selbstständig bis zu einem gewissen Grade erschlossen werden konnten.

Damit ist mit Blick auf die Kunstvermittlung eine entscheidende Herausforderung für die zukünftige documenta formuliert: Ist es möglich, eine Ausstellung zu konzipieren, die sowohl dem Kunstwerk als auch seinen Peripherien gerecht wird und gleichzeitig entsprechende Zugänge für alle Interessierten bereithält?

Die im nächsten Sommer stattfindende 13. Ausgabe der documenta scheint nun die vermeintlichen Randbereiche der Kunstwelt wieder verstärkt in den Fokus zu nehmen. Und dennoch lassen sich die Peripherien, mit denen sich Carolyn Christov-Bakargiev beschäftigt, nur bedingt mit denen von Catherine David oder Okwui Enwezor vergleichen: Schlagwörter wie „Hunde“ oder „Steine“, wie sie bereits in der Navigation der dOCUMENTA (13) Homepage zu finden sind, sucht man bei diesen vergeblich. Und was hat das überhaupt noch mit dem Zentrum – der Kunst – zu tun? Um diese Frage zu beantworten, muss ein erneuter Blick auf eben dieses Zentrum geworfen werden: Mit welchen Kunstbegriff geht Carolyn Christov-Bakargiev an ihre Aufgabe als Leiterin der documenta heran?

Ihre Behauptung, nicht zu wissen, was Kunst sei, gründet sich wohl kaum auf einem Informationsmangel, sondern eher auf einer Pluralität von Kunstbegriffen, die sich laut Christov-Bakargiev auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Deshalb wird sie wohl keine einfache Antwort geben, sondern eine Strategie der Skepsis wählen. Diese entwickelt sie auf Grundlage des Philosophen Sextus Empiricus, der in seiner Schrift Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis, auf die bereits auf mannigfaltige Art und Weise von Carolyn Christov-Bakargiev verwiesen wurde, zehn Gründe anführt, warum wir unserer Wahrnehmung kritisch gegenüber stehen sollten.

Als ersten Grund führt Sextus Empiricus die Problematik an, dass es für den Menschen nicht möglich sei, die Welt auf die gleiche Art wie Nicht-Menschen – also zum Beispiel die bereits mehrfach erwähnten Hunde – wahrzunehmen. Somit können auch keine Urteile über diese anderen Wahrnehmungsweisen gefällt werden: Sie bleiben uns unbekannt.[12] Weitere Gründe für Unentscheidbarkeiten sind die kulturellen Differenzen zwischen verschiedenen Völkern oder die Entwicklung von verschiedenen Wahrheiten über die Zeit hinweg. Sextus Empiricus behauptet nicht, dass es keine Wahrheiten gibt, sondern dass es uns als Menschen nicht möglich ist, diese ohne Weiteres durch Wahrnehmung zu erkennen. Wir verbleiben in der Rolle der Suchenden.

Gleiches gilt nach Carolyn Christov-Bakargiev für den Begriff  Kunst: Jeder Kunstschaffende hat ein anderes Verständnis davon, was Kunst ist. Aber radikaler: Wie kann behauptet werden, dass die Arbeit aus den Gebieten der Physik, der Archäologie oder der Übersetzung (vgl. Liste der Teilnehmenden) keine Kunst ist? Und Carolyn Christov-Bakargiev geht noch weiter: Könnte man die Tomate, die immerhin von der Tomatenpflanze hervorgebracht wurde, als Kunst betrachten?[13]

Ob diesen Sommer tatsächlich Tomaten im Fridericianum zu sehen sein werden, wird sich zeigen – aber es lässt sich bereits jetzt absehen, dass die dOCUMENTA (13) im Vergleich zu den anderen besprochenen Ausstellungen in mehreren Bereichen zwischen den Polen von Peripherie und Zentrum stehen wird: Dies gilt nicht nur für den Kunstbegriff, sondern auch für die (geografische) Verortung und insbesondere die Kunstvermittlung.

Ähnlich wie die Konzepte von Catherine David und Okwui Enwezor zieht auch die kommende documenta etliche Peripherien zu den Kunstwerken hinzu, es scheint sogar, als würden diese überwiegen. Gleichzeitig öffnet Christov-Bakargiev durch ihren skeptischen Kunstbegriff das Zentrum dermaßen, dass annähernd jedes Produkt, Konzept und jeder Prozess der dOCUMENTA (13) als autonomes Kunstwerk verstanden werden könnte. Folgt man diesem Verständnis, müsste es möglich sein, all diese Dinge auch ästhetisch zu erfahren, wodurch Peripherie und Zentrum im Aspekt des Kunstbegriffs annähernd zusammen fallen.

Die Kunstschaffenden und Kunstwerke, die bereits im Vorfeld bekannt gemacht wurden, lassen erahnen, dass die dOCUMENTA (13) bemüht ist, keine eurozentristische Ausstellung zu werden und anhand der Handlungs- und Ausstellungsorte – zum Beispiel Kabul oder das Banff Centre, Calgary – zeigt sich eine auch geografische Dezentralisierung. Gleichzeitig wird erneut eine Re-Kasselisierung forciert: Die Stadt Kassel und ihre Bürgerinnen und Bürger sollen stark in die Ausstellung eingebunden werden beziehungsweise die Ausstellung soll sich verstärkt mit Kassel verbinden. Dabei werden allerdings die Pole gewahrt: Kassel bleibt Kassel, andere Orte woanders. Es herrscht keine Gleichheit, aber es lässt sich eine gewisse Vergleichbarkeit feststellen, wie sie zum Beispiel die künstlerische Arbeit von Mariam Ghani deutlich macht, die die Ruinen aus Kabul im Jahre 2011 denen aus Kassel von 1943 gegenüberstellt.[14] Geografische und inhaltliche Peripherien und das Zentrum wahren also ihre Position, allerdings wird Kassel zu einem möglichen Zentrum unter vielen.

Es ist zu erwarten, dass ein Großteil des Publikums in Konfrontation mit Christov-Bakargievs radikal skeptischem Kunstbegriff und der Bandbreite an Themen ähnlich ins Straucheln gerät wie bereits bei den vorhergegangenen documenta-Ausstellungen und die Angebote der Kunstvermittlung großen Zuspruch finden werden. Und wieder trifft man auf einen Terminus der Ungewissheit: Vielleicht Vermittlung!

Carolyn Christov-Bakargiev scheint der klassischen Kunstvermittlung ebenso zu misstrauen wie Catherine David, aber ist sich wohl im Klaren darüber, dass ihre documenta sie benötigt, um nicht unter der Last der eigenen Anforderungen zusammenzubrechen. Sie spricht davon, dass sie das Vielleicht gerne hinter sich lassen möchte, aber noch nicht weiß, wie sich die Kunstwerke und die Ausstellung angemessen vermitteln lassen werden – auch hier zeigt sie sich als Skeptikerin.[15] Eines allerdings macht sie ganz deutlich: Die Kunstvermittlung der dOCUMENTA (13) hat die Aufgabe, nicht bloß durch die Ausstellung zu führen, sondern zu emanzipieren.[16] Das ist sicherlich nicht nur im Hinblick auf die assoziierten Themenfelder eine Herausforderung für die so genannten Worldly Companions! Diese soll dadurch gemeistert werden, dass die Vermittelnden eine ähnliche Bandbreite wie die künstlerisch Teilnehmenden abdecken, aber auch eine persönliche Verbindung zu Kassel haben und somit selbst den Freiraum zwischen Peripherie und Zentrum überbrücken sollen.[17] Die dOCUMENTA (13) geht also gewissermaßen einen Umweg zur Kunst, was auch bereits durch den Namen der Führungen angedeutet wird: dTOUR. Das kleingeschriebene d steht einerseits sicherlich für documenta, andererseits wird auf die englische Vokabel detour, also Umweg verwiesen. Und vielleicht (!) schaffen es diese Vermittelnden tatsächlich, einen Zugangsschlüssel zur Verfügung zu stellen ohne das Gezeigte zu trivialisieren und somit die Besucherinnen und Besucher so weit zu emanzipieren, dass all diese Peripherien sich in seinem Zentrum verorten lassen.


[1] Navigation der Unterseite Teilnehmer auf der dOCUMENTA (13) Homepage. URL: http://d13.documenta.de/de/#de/teilnehmer/ [30.10.2011].
[2] Ankündigungstext für den Katalog der dOCUMENTA (13). URL: http://d13.documenta.de/de/#de/publications/ [30.10.2011].
[3] Marius Babias, Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Dresden 1995, S. 9.
[4] Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008, S. 10.
[5] Marchart 2008, S. 27.
[6] Hubert Sowa, Agonale Betrachtung. Zur Phänomenologie und Hermeneutik der Ausstellungssituation, in: Materialien zur documenta X. Ein Reader für Unterricht und Studium, Ostfildern-Ruit 1997, S. 57.
[7] Marchart 2008, S. 77.
[8] Marchart 2008, S. 60 ff.
[9] Marchart 2008, S. 75.
[10] Vgl. Carmen Mörsch, Kunstvermittlung. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12, Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin 2009.
[11] Marchart 2008, S. 81.
[12] Sextus Empiricus, Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt am Main 2008, S. 110.
[13] Vortrag und Workshop von Carolyn Christov-Bakargiev in der Kunstakademie Münster am 18.10.2011.
[14] Vgl. Mariam Ghani, Dar ul-Aman 2010 / Fridericianum 1943. URL: http://www.kabul-reconstructions.net/mariam/correspondences/Correspondences/ [30.10.2011]
[15] Vortrag und Workshop von Carolyn Christov-Bakargiev in der Kunstakademie Münster am 18.10.2011.
[16] Carolyn Christov-Bakargiev im Gespräch mit Hanno Rauterberg, Kassel ist Australien, in: Die Zeit, 2. Juli 2009, Nr. 28.
[17] Vgl. Offene Ausschreibung zum Wordly Companion auf der Homepage der dOCUMENTA (13). URL: http://d13.documenta.de/de/#de/arbeiten/offene-ausschreibung/ [30.10.2011]

Quellennachweis: Tim Pickartz, „I have no idea, what art is!“ Die dOCUMENTA (13) zwischen Peripherie und Zentrum, in: ALL-OVER, Nr. 2, März 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=922.

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Grenzgänge. Dispositive der Hülle.

Als physische Grundlage der menschlichen Existenz steht der Körper seit jeher im Fokus naturwissenschaftlicher Forschung, aber auch geisteswissenschaftlicher Überlegungen, wo er insbesondere in der Phänomenologie eine Schlüsselrolle einnimmt. Wie etwa Maurice Merleau-Ponty gezeigt hat, ist der Leib unser maßgeblichster Berührungspunkt mit der Welt: Einerseits trennend, andererseits verbindend, markiert er einen Grenzgang, dessen Verlauf dynamisch, flexibel und vor allem nicht immer eindeutig oder begreifbar ist und so das rätselhafte Fundament der menschlichen Selbst- und Weltwahrnehmung bildet. Barbara Graf ist in ihrem künstlerischen Werk diesem vielschichtigen und allgegenwärtigen Phänomen auf der Spur. In ihren vorwiegend textilen Arbeiten manifestiert sich eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Thematik des Körpers, die sich von jener des Modedesigns grundlegend unterscheidet.

Barbara Graf, Hand-Brust-Schichten, Anatomisches Gewand XVI, Wien 2008. 15 Teile, Baumwolle, Druckknöpfe, Haken und Ösen.

Hannah Bruckmüller: Deine Gewänder bekleiden und gehen in die Tiefe. Sie werden sozusagen durchlässig, thematisieren das von ihnen Verhüllte. In den Bereichen des Modedesign hingegen scheint die Gestaltung der zweiten Haut an der Oberfläche verhaftet zu bleiben. Inwiefern unterscheidet sich deine künstlerische Herangehensweise an den menschlichen Körper von einer „modischen“ Auseinandersetzung, und welche Rolle spielen dabei Konzeptionen von Körperlichkeit?

Barbara Graf: Über die Oberflächen der textilen Verhüllungen zu einer Unterscheidung von modischen und künstlerischen Hüllen zu gelangen, erscheint mir nicht aufschlussreich, da auch bei modischen Umhüllungen das Verhältnis von „erster und zweiter Haut“ sehr differenziert sein kann. Wenn wir vorerst die Unterscheidungen in der Mode von Haute Couture, Prêt-à-porter, Alltagsmode, Streetwear et cetera ausblenden, wäre vielleicht die einfachste Unterscheidung von Kunstkleid und Modekleid, dass das Kunstkleid den Körper als Träger der Umhüllung nicht unbedingt braucht, das modische Kleid jedoch auf den Körper als Träger der Hülle angewiesen ist. Für eines meiner ganz frühen Anatomischen Gewänder von 1995 wollte ich zuerst den Titel Prêt-à-porter wählen und habe mich dann aber für Cut-to-fit entschieden. Prêt-à-porter war schon besetzt durch den Film von Robert Altman und inhaltlich hat meine Entscheidung mit der Weise zu tun, wie sich die Hülle auf den Körper bezieht. Meine Gewänder sind auf den Körper zugeschnitten und passen genau. Es steht jedoch weniger die Bereitschaft getragen zu werden oder die Aufforderung es zu tun im Zentrum. Insofern ist die Konzeption von Körperlichkeit ganz grundlegend sowohl für die Gestaltung wie auch für die Darstellung. Ich beziehe mich explizit auf Leiblichkeit, ohne dass der Körper anwesend sein muss, um präsent zu sein.

Barbara Graf, Hand-Brust-Schichten, Anatomisches Gewand XVI, Wien 2008. 15 Teile, Baumwolle, Druckknöpfe, Haken und Ösen.

Hannah Bruckmüller: Vielleicht habe ich mich hier etwas unglücklich ausgedrückt. Insbesondere der Begriff der Transparenz scheint tatsächlich fehl am Platz, werden deine Kunstkleider ja nicht auf die Tragenden selbst durchlässig, sondern thematisieren einen Körper, ohne dessen Präsenz (das Tragen also, wie du auch betonst) zu erfordern. Inwiefern modellieren oder artikulieren deine künstlerischen Hüllen den Körper?

Barbara Graf: Meine Hüllen nehmen direkt Bezug auf physische Erscheinungen. In älteren Arbeiten waren es vor allem innere Körperstrukturen wie Wirbelsäule oder Muskeln. In neueren Arbeiten bin ich immer mehr vom Inneren des Körpers in Richtung der Hautoberfläche gelangt. Etwa die Arbeit Hautverlauf stellt den Verlauf der Faserzüge des Bindegewebes der unteren Lederhaut dar. Die textilen Darstellungen der Brust-Schichten siedeln sich unter der Haut an und die Ebenen der Arbeit Hand-Brust-Schichten thematisieren die sichtbare Körperoberfläche und expandieren in den Raum. Meine ganz aktuelle Arbeit beschäftigt sich mehr mit der Darstellung von äußeren Phänomenen des Körpers, um in einer Art Umdrehung zu einem inneren Körperausdruck zu gelangen. So zum Beispiel eine Arbeit, die im Rahmen des Projektes Surgical Wrappings[1] entsteht: Hand-Bilder. Sich berührende Hände sind musterartig in eine medizinische Gaze gestickt. Dieses Tuch wird als Gegenstand für eine Serie von Fotografien verwendet. Die Handgesten sind in Auflösung begriffen. Ohne den gesamten Körper zu zeigen, entstehen Bilder mit leiblichem und innerlichem Ausdruck.

Hannah Bruckmüller: Ich würde noch gerne mehr über das Körperkonzept in deinen Arbeiten erfahren. Welche Rolle sprichst du beispielsweise Begrifflichkeiten wie der von dir bereits eingebrachten Leiblichkeit oder der Fleischlichkeit zu – und in welcher Beziehung stehen dazu etwa Körperwahrnehmung oder Körperbilder?

Barbara Graf: Die Unterscheidung von „image“ und „picture“ im Englischen dient vielleicht ganz gut dazu etwas über mein Verständnis von Körperbildern und Körperwahrnehmung zu sagen. In meiner Arbeit brauche ich den Körper als Gegenstand der Darstellung („picture“) um etwas zur Körperwahrnehmung zu erfinden („image“). Auch zum Körperkonzept meiner Arbeiten möchte ich auf eine Begrifflichkeit zurückgreifen: die Unterscheidung von „Körper“ und „Leib“ in der deutschen Sprache. Mit Körper verstehen wir zwar umgangssprachlich oft den menschlichen Körper, es kann jedoch der unbelebte Körper auch ein Gegenstand sein. Mit Leib wird ausdrücklich der beseelte menschliche Körper angesprochen. Durch den Leib, mit dem Leib oder Leib zu sein ist Voraussetzung, um uns in einem Verhältnis zur Umgebung zu verstehen. Ich sehe meine Arbeit als Erfindungen zur Leiblichkeit.

Hannah Bruckmüller: Würdest du dich selbst denn auch als „Bildhauerin“ bezeichnen?

Barbara Graf: Ja, würde ich gerne. Auch wenn der Begriff Bildhauerei sowie auch der Skulptur für mich nicht zutreffen. Im eigentlichen Sinne werden darunter ja Artefakte verstanden, die dadurch entstehen, dass von einem bestehenden Material Teile weggenommen (gehauen) werden. Ich schneide Flächen und füge sie konstruierend zusammen. Mir gefällt jedoch der Ausdruck als Referenz zur langen Tradition der „gehauenen Bildern“ und auch zum Bild, ich bin ja ursprünglich Malerin.

Hannah Bruckmüller: Wie schon in der gängigen Redewendung „in Mode sein“ deutlich wird, ist diese Disziplin sehr eng an den jeweiligen Zeitgeist gebunden. Demgegenüber erscheinen deine Gewänder von diesem Aktualitätsbestreben entkoppelt zu sein und vielmehr auf eine vielleicht sogar ahistorische Sensibilisierung abzuzielen.

Barbara Graf: Hand-Bilder, 2011. Fotografie, 26.7 x 35.6 cm

Barbara Graf: Wenn du von unterschiedlicher Zeitgebundenheit sprichst, kann das vielleicht zu einer Annäherung an diese Frage dienen. Bis jetzt haben wir vor allem über die Nähe oder Differenz zur Mode gesprochen, meine Arbeit hat in ihren Grundsätzen nichts mit Mode zu tun, sondern mit (flexibler) Skulptur und Bild – mit Körperbildern. Damit meine ich vor allem auch Körperwahrnehmungen und Imaginationen über den Körper und nicht nur dessen Darstellung. Kunstformen, die über den Bildrand oder über ein statisches Volumen im Verhältnis zum Raum hinausgehen (wie Performance und interaktive Ausdrucksformen) haben die Entwicklung unterstützt, dass Kleidung zur autonomen Kunstform werden konnte. Das heißt auch, dass man die Begriffe der Darstellung, Repräsentation und Rezeption neu diskutieren müsste, weil neben der Betrachtung auch die Handlung wichtig wird. Mir gefällt der Begriff der „ahistorischen Sensibilisierung“, obwohl ich nicht glaube, dass ich eine ahistorische Position einnehme. Ich verstehe mich als Teilhabende an einem Diskurs, auch wenn meine Weise zu arbeiten einer Langsamkeit verpflichtet ist, welche nicht so „zeitgeistig“ ist und vielleicht ein wenig asynchron.

Hannah Bruckmüller: Mich interessiert der Diskurs, den du ansprichst. Ich bin nicht sicher, inwieweit ich dich hier richtig verstanden habe, daher die Nachfrage, worauf genau du anspielst: eine Transformation des Verständnisses von „Kleidung“ – oder von „Körper“?

Barbara Graf, Hand-Bilder, 2011. Fotografie, 26.7 x 35.6 cm

Barbara Graf: Vor dem 20. Jahrhundert war Kleidung als Gegenstand der Kunst etwas Dargestelltes. Dass die Körperhülle autonom wird und das Werk selbst verkörpert, ist eine neuere Entwicklung. Die Hülle wird dreidimensionale und flexible Leinwand und thematisiert sozial-politische Positionen, verhandelt kulturelle Verortungen, Identitäten und – was mich persönlich am meisten interessiert – die Hülle als Kommunikationsebene: Wie wir in unserer Verletzlichkeit und Antastbarkeit der Welt begegnen. Pionierinnen wie etwa Rosemarie Trockel, Louise Bourgeois oder Yayoi Kusama haben wesentlich dazu beigetragen, dass Kleidung als Form des Ausdrucks in der Kunst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Stellvertretend für die unzähligen Positionen in der Gegenwart könnte man beispielsweise Lalla Essaydi oder Zineb Sedira nennen.

Hannah Bruckmüller: Erscheint eine disziplinäre Grenzziehung zwischen Kunst und Mode in deinen Augen überhaupt relevant, sinnvoll oder sogar notwendig?

Barbara Graf: Ja, unbedingt. Interdisziplinarität ist ja nur interessant, wenn es auch Disziplinen gibt. Das heißt ja nicht, dass sich Disziplinen nicht ändern können. Was Kunst und Mode anbelangt, da haben sich die beiden Disziplinen ja tatsächlich transformiert. Wenn man jedoch durch ihr Naheverhältnis die Grenzen, die nicht immer so scharf sind, auflösen würde, könnte das zu einer sehr langweiligen Beliebigkeit führen. Durch Verbindlichkeit, das heißt mit Kriterien und Bedingungen ausgestattet, entstehen meist intelligentere Manifestationen. Differenz ist interessanter als Auflösung. Auch wenn es in der Mode Kreationen gibt, die eine Dysfunktionalität behaupten, ist das als Bruch, Irritation oder Statement zu sehen, die sich auf eine Funktionalität beziehen, die in jeder angewandten Kunst nach wie vor wichtig ist. Funktionalität in der Kunst wäre unter anderen Kriterien zu diskutieren.

Hannah Bruckmüller: Gerade hinsichtlich der Funktionalität in der Kunst scheint mir an dieser Stelle der Hinweis auf eine aktuelle Ausstellung im Wien-Museum spannend. „Mehr als Mode“ – so der Titel der Schau, in welcher die kürzlich vom Museum angekaufte Sammlung von Katarina Noever zu sehen ist. Wie mir scheint, laufen derartige Ausstellungsprojekte Gefahr, das Potential des interdisziplinären Territoriums, auf dem sie sich bewegen, nicht ausreichend auszuschöpfen, indem sie versäumen, dieses adäquat zu thematisieren – zu kritisieren oder zu befürworten. Gleichzeitig liefert vielleicht genau jene Haltung das Angebot einer Diskussion…

Barbara Graf: Ich denke, dass in der Ausstellung „Mehr als Mode“ das „Mehr“ keinen ausführlichen Raum einnimmt, auch wenn neben den Kleidern der Sammlung Katarina Noever durchaus Materialien gezeigt werden, die eine Vorstellung davon geben, was damit gemeint ist. Dieses „Mehr“ erscheint mir eher als attraktiven Titel für eine Ausstellung als inhaltlich präzise, beinhaltet eine Avantgarde-Lifestyle-Inszenierung in ihrer Zeit immer eine Ausweitung der Grenzen; das ist ja wichtiger Inhalt der Mode und da bräuchte es kein „Mehr“.

Hannah Bruckmüller: An der Universität für angewandte Kunst in Wien unterrichtest du das Fach „Textil – Kunst, Design, Styles“, wohingegen du als Gastdozentin in Basel am Institut für Mode-Design gearbeitet hast. Inwiefern beeinflusst dies die thematische Ausrichtung deiner Lehrveranstaltungen? Wo und wie manifestieren sich die für dich grundlegendsten Unterschiede zwischen einer Kunst-Klasse und einer Mode-Klasse?

Barbara Graf: In Basel am Institut Mode-Design war ich über mehrere Jahre Gastdozentin und als Künstlerin mit einem speziellen Bezug zum Körper und zu Körperhüllen eingeladen. Mein Beitrag bestand darin, Sichtweisen aus der Kunst im Kontext der Mode zu diskutieren und praktisch zu unterstützen. Für die Studierenden des Mode-Designs steht im Vordergrund, zu einer Praxis der Entwicklung einer eigenen Kollektion zu gelangen und bezieht auch deren Darstellung und Vermittlung im Bereich der Mode mit ein. In Wien im „Textilen Gestalten“ ist das Gebiet sehr breit angelegt und lässt sich, kurz formuliert, mit einem künstlerischen Erforschen der Kultur des Textilen umreißen. Auch wenn Themenstellungen und Untersuchungs- respektive Recherchemethoden ähnliche sein können, sind die zukünftigen Berufsfelder verschieden und das „Textile Gestalten“ ist auch stark auf Vermittlung ausgerichtet, sei es als Lehrtätigkeit oder als soziokulturelle Reflexionen durch oder über künstlerische Manifestationen. Ich bin dafür verantwortlich, künstlerisch konzeptuelle Unterstützung zu bieten. Die aus den Lehrveranstaltungen hervorgehenden Arbeiten sind durch das textile Medium zwar oft auf den Körper bezogen, haben aber manchmal in ganz anderer Weise mit kulturellen Verortungen und Kommunikationsstrukturen zu tun.

Hannah Bruckmüller: Ich möchte noch auf das Projekt Corporealities[2] zu sprechen kommen, das sich vor allem der Schnittstelle von Kunst und Medizin zuwendet. Dies zeugt von deinen Aktivitäten in interdisziplinären Bereichen. Deshalb möchte ich gern noch allgemeiner fragen: Wie stehst du zu den disziplinären Grenzen? Gilt es, diese kritisch zu hinterfragen und vielleicht sogar deren Auflösung anzustreben – oder haben sie auch heute noch ihre Berechtigung?

Barbara Graf: Ja, ich würde sie kritisch hinterfragen hinsichtlich einer differenzierten und stetig im Wandel begriffenen Grenzziehung. Vom Begriff der „Schnittstelle“ bin ich nicht sehr überzeugt. Ich würde eher von Berührungsmomenten sprechen, die durch aktive Untersuchungen, Betrachtungs- und Darstellungsweisen entstehen können. Auch das Wort „Grenze“ ist verfänglich, entsteht ja der Eindruck einer klaren Linie; ich würde lieber von unscharfen Rändern sprechen. Auch müsste die Frage nach dem Naheverhältnis von Disziplinen ganz spezifisch gestellt werden und im jeweiligen Verhältnis zueinander. Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich sicherlich von anderen und haben ein großes Potential, Räume zwischen den unscharfen Rändern und über die Ränder hinaus zu bespielen – so auch die Kunst.

Hannah Bruckmüller: Bezugnehmend auf die Berührungsmomente deiner Kunst mit naturwissenschaftlichen Herangehensweisen, im Besonderen mit der medizinischen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper, möchte ich abschließend noch auf das derzeit aktuelle Thema des „Artistic Research“ zu sprechen kommen. Inwiefern siehst du deine Arbeiten als Manifestationen künstlerischer Forschung? Und wie stehst du zu diesem aktuellen Begriff des „Artistic Research“?

Barbara Graf: Der Begriff „Artistic Research“ scheint mir sehr komplex zu sein. Ich habe keine Übersicht wie verschiedenartig dieser im gegenwärtigen Diskurs verwendet wird, auch wenn die Aktualität offensichtlich ist und „Artistic Reseach“ wird ja nicht nur als Schlagwort verwendet sondern bezeichnet eine wichtige aktuelle Position. Du hast es, was meine Arbeit anbelangt, gut formuliert: „Manifestationen künstlerischer Forschung“. Das bedeutet zuerst gar nicht nur die thematischen Bereiche meiner Beschäftigung, sondern mehr den Prozess, die Herangehensweise, die Methode wie ich zu meinen künstlerisches Visualisierungen gelange, das hängt natürlich zusammen. Man kann den Begriff auf verschiedene Weisen verstehen, zum Beispiel auch als künstlerische Herangehensweise in wissenschaftlicher Forschung. Ich sehe jedenfalls das Ineinandergreifen von reflektierten Recherchen und den Möglichkeiten des künstlerischen Formens und Ausdrucks als grundlegend für innovative Kunst – im Sinne von „Artistic Research“ gesprochen: als künstlerische Erkenntnis mit Eigenleben.


BARBARA GRAF ist freischaffende Künstlerin und unterrichtet an der Universität für angewandte Kunst Wien. Sie lebt und arbeitet in Wien und Kairo.

[1] Christina Lammer (Projektleitung) u.a., URL: http://wwtf.at/projects/research_projects/details/index.php?PKEY=986_DE_O [18.02.2012].
[2] URL: http://www.corporealities.org/ [18.02.2012].

Quellennachweis: Hannah Bruckmüller, Dispositive der Hülle. Barbara Graf im E-Mail-Interview zum Verhältnis von Kunst, Mode und Körper, in: ALL-OVER, Nr. 2, März 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=845.

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Das Haus-Werk

„Eine Funktion bestimmt ein Haus, im Unterschied zum Kunstwerk, das nur so aussieht, wie ein Haus, es muss keine Funktion erfüllen, dadurch wird dieses Haus zu einer Privatangelegenheit des Architekten […].“[1]

Das Schaulager in Basel erfüllt seine Funktion, während das dazugehörende Gebilde vor der Eingangsseite nur so aussieht wie ein Haus. Aber ist es deshalb schon ein Kunstwerk?

Abb. 1: Herzog & de Meuron, Schaulager, 1999, Basel, Hofseite des Hauses.

Das Architekturbüro Herzog & de Meuron hat den Auftrag zum Bau des Schaulagers angenommen, weil für sie „die Mischung […] aus Schauplatz und Lager ein interessantes Thema darstellt, weil die Funktion des Museums damit hinterfragt wird.“[2] Das Schaulager entstand 1999, es ist ein Kunstlager, in dem die Werke so aufbewahrt werden, dass sie jederzeit einsehbar sind. Gleichzeitig wird ein Viertel der Nutzungsfläche für Ausstellungen verwendet. Begonnen bei der institutionellen Idee bestimmt dieses Prinzip der Verschränkung gezielt die Wahl der Lage, der Bauformen, der Materialien und der Strukturierung von Baumaterialien und -teilen. Die Motivierung und Umsetzung dazu wird in der Gesamtschau von Gerhard Mack[3] dokumentiert, ohne jedoch das kleine Gebilde zu erwähnen, welches in Form eines Hauses vor der Eingangsseite des Hauptbaus steht. (Abb. 1 & 2) Auch von den Architekten selbst scheint dieser Bau am Bau nicht näher erläutert zu werden. Dabei treffen an dieser Stelle die meisten Assoziationsbilder zusammen, welche in der Presse mannigfaltig interpretiert werden. Im Übrigen hat sich die Form, die hier eine vergleichsweise wenig vertiefte Funktion erhält, bereits als ein ikonischer Liebling in das Werk der Architekten eingeschrieben. Lediglich genutzt als Eingangstor zum Hauptgebäude gerät das Haus unter dem Gewicht der Interpretationsmöglichkeiten und durch die exponierte Positionierung in ein fragwürdiges Licht: Ist dieses Haus am Ende ein Kunstwerk, also eine Skulptur der Architekten vor ihrer Architektur?

Schaulager

Abb. 2: Schaulager, Vorderseite.

Im Spiegel der Lage des Gebäudepaars manifestiert sich das erste Motiv der Architekten für das Haus. Das Schaulager befindet sich in einem Lagerareal, gelegen am Stadtrand. Vorbereitend dafür entstand eine von den Architekten selbst geführte Studie über die mittel- und langfristigen Perspektiven des sogenannten Dreispitzareals[4], die unter anderem dazu beitragen sollte, den Ortsteil neu zu bewerten. Die Konfrontation mit dem gegenüberliegenden Wohngebiet hat sie dabei besonders beschäftigt.[5] Am Bau selbst wird diese Schnittstelle verkörpert, indem der Lagerhaustypus und der Wohnhaustypus ineinander geschoben sind. Der monolithische Hauptbau gleicht in seiner Größe und Geschlossenheit den Nachbarbauten des Dreispitzareals, während das dazugehörende Häuschen einen Bezug zur angrenzenden Wohnhausarchitektur herstellt.

Abb. 3: Schaulager, Grundriss, Erdgeschoss.

Eine besondere Position erhält das Haus nicht nur dadurch, dass es zentral vor dem Hauptbau steht, sondern auch im Kontrast zu dem vergleichsweise verdichteten Grundrissprinzip (Abb. 3). Die polygonale Außenkontur spannt eine quadratische Fläche auf, deren Maße auf einem orthogonalen Grundriss basieren. Bestimmt ist diese durch die gesetzlich kleinstmöglichen Maße eines Lagerraumes, wodurch sich nicht nur von außen optisch, sondern auch von innen strukturell eine Verschränkung abzeichnet. Demgegenüber fügt sich das Haus in keine rechtwinklige Ordnung, sondern ist schräg dazu platziert auf der imaginären Linie zwischen den Außenkanten der Eingangsseite, sodass es übersteht. Man könnte meinen, es wolle mit allen Mitteln im Vordergrund stehen.

In Bezug auf das Material ist das Haus vor den weiß gestrichenen Wänden der Eingangsseite ebenfalls besonders hervor gehoben. Die Wahl der groben, erdigen Betonmasse, die den Hauptbau umgibt, folgt dabei anderen Motiven. Hier konzentrierte man sich auf die Fragen des Lagerns sowie auf die Gestaltung eines Strukturkanons. Die geschlossene Mauermasse lehnt sich dabei zum einen an die grobe, unbehandelte Erscheinung der Wände von Lagerhallen an, zum anderen wird mit der Verwendung des Aushubs der Baustelle ein direkter Bezug zum Bauplatz hergestellt. Das Lasten und Lagern soll ebenfalls optisch in der Bauhülle widergespiegelt werden, erinnert doch die grobe, durchzogene und dichte Struktur an den Ausdruck von Sedimentgestein, ein Urbild für die Lagerung von Dingen.[6] Unter anderem dient die Hülle einem praktischen Zweck, da sie das Innenklima stabilisiert und damit optimale Lagerungsbedingungen erzeugt werden können.

Abb. 4: Schaulager, Südseite mit Fenster, Mauerausschnitt mit Metallpaneel, Shop.

Darüber hinaus bildet diese Wand den Ursprung für eine Strukturreihe, die sich bis in das Innere des Gebäudes fortsetzt (Abb. 4). Der Boden vor dem Gebäude besteht ebenfalls aus einem Gesteinsgemisch, während die innen und außen angebrachten Metallpaneele die wellige Prägung der Wand übernehmen. Die linearen Fenster wiederum zeigen die vergrößerte Form einer deformierten Metallstange. Als ob sie die Kontur des Wandreliefs vergrößert nachzeichnen, bilden sie ein amorphes Band, welches von innen wie eine künstliche Landschaft wirkt. Wie ein umgekehrtes Panorama von der Industrielandschaft draußen verbindet diese Kontur damit die Außenseite mit der Innenseite des Gebäudes. Nochmals vergrößert findet sich die Struktur der Wand im Shop des Schaulagers als ein höhlenartiges Pendant zu dem scheinbar nach oben verrutschten Aushub von außen.

Herzog & de Meuron erzeugen schließlich einerseits durch die Wahl des Baumaterials eine neue lokale sowie inhaltliche Anbindung, andererseits sind die weiterentwickelten Strukturen wie ein Pfad zu verfolgen. Somit wird der Außenkomplex mit dem Innenleben verbunden, indem einzelne Bereiche, wie der Boden vor dem Gebäude, die Türen und die Fensteröffnungen sowie die Raumgestaltung des Shops ineinandergreifend aktiviert werden. Wie ein ornamentales Band spannt diese Strukturfolge einen Bogen zwischen amorph-natürlicher Materialität und abstrakt-künstlicher Umformung. Da trotz der gleichen erdigen Ummantelung hier die charakteristische Form dominiert, ist in diesem Zusammenhang das Haus weniger als ein Spannungspunkt zu betrachten. Das Material trägt hier dazu bei, das Haus vor der nüchtern-weißen Eingangsseite optisch hervorzuheben und zum anderen die Gesamtgestaltung des Gebäudepaars durch eine Materialwiederholung zu schließen. Und doch ist es verlockend, dem Haus das Bild eines Architekturfossils anzudichten, welches durch den Aushub entdeckt wurde.

Ein weiterer Schwerpunkt der Hausform liegt in der Tradition, diese zu verwenden. Mit der Urform des Hauses beschäftigten sich Herzog & de Meuron von Beginn an. Am Schaulager-Haus sind diesbezüglich Spuren von im Vorfeld entstandenen Bauten zu erkennen, welche auf die rechteckige Hausform mit Giebeldach zurückgehen. Auch das Schaulager-Haus erhält diese Gestalt – mit dem Unterschied, dass die Zeichenhaftigkeit dieser Grundform weiter in den Vordergrund rückt.

Abb. 5: Herzog & de Meuron, Blaues Haus, 1980, Oberwill.

Zuerst wurde diese Form für das Blaue Haus verwendet, ein Einfamilienhaus in Oberwil bei Basel, erbaut 1980 (Abb. 5). Die runden Fenster an der Giebelseite, welche am Schaulager-Haus auf dem Dach wieder zu finden sind, verweisen dabei auf den Architekten Aldo Rossi, einem Lehrer von Herzog & de Meuron.[7] Des Weiteren wird die Fassade in einer Farbe eingekleidet, die wie ein aufgehelltes Yves-Klein-Blau wirkt. Hier besteht bereits der Gedanke, ein Haus neben der Funktion, welche formal evoziert wird, durch die Oberflächenbehandlung mit einem skulpturalen Kontext zu bespielen. Am Haus Rudin, 1997, ein Wohnhaus in Leymen, wird diese Idee weiter verstärkt (Abb. 6). Die Betonwände erscheinen zusammen mit dem fast gleichfarbigen Giebeldach wie aus einer Form gegossen. Das Schaulager-Haus ist schließlich übergangslos überzogen. In der Innengestaltung wird dieser Eindruck in reinem Beton fortgeführt.

Abb. 6: Herzog & de Meuron, Haus Rudin, 1997, Leymen.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Wohngebäuden befreiten Herzog & de Meuron das Schaulager-Haus von allen ursprünglichen Funktionen eines Wohnhauses. Es gibt weder Fensteröffnungen in den Wänden noch eine Raum- oder Etagenaufteilung im Inneren. Darüber hinaus wird auch die klassisch-rechteckige Form verändert, um sie gestalterisch in den schräg zulaufenden Eingangshof einpassen zu können. Die Lösung bestand darin, zwei schräg zueinander gerichtete Scheiben von dem Haus abzuschneiden. Auf einem trapezförmigen Grundriss fügt sich das Haus nun in den ebenfalls trapezförmigen Hof ein wie ein zu klein geratenes Pendant. Ein neuer Körper ist entstanden. Zusammen mit der Reduktion auf die notwendigsten Öffnungen für den Durchgang wird dessen Kontur dichter, die Materialität aktiver, als ob ein abstrakter Körper aus einer Traditionsform herausgepresst würde (Abb. 7).

Abb. 7: Schaulager, Shaping der klassischen Form.

Die neueste Anwendung dieser bei den Architekten beliebten Hausform findet sich wieder im VitraHaus, dem 2006 erbauten Shop des Vitra-Design-Museums in Weil am Rhein. Hier wird allerdings statt einem Einzelteil eine multiple Zusammenschiebung verwendet. Von außen sieht es aus wie eine vergrößerte Skulptur aus Spielzeughäusern. Verglichen mit dem Schaulagerhaus steht aber der symbolische Verweis in einem größeren Gleichgewicht mit der Funktion des Gebäudes. Es unterstreicht die Vielseitigkeit des Wohnens, welche durch die ausgestellten Möbel in den Schauräumen ihre Entsprechung findet (Abb. 8).

Abb. 8: Herzog & de Meuron, VitraHaus, 2006, Weil am Rhein.

Zuletzt ist die Frage, für welche Funktion das Haus errichtet wurde, näher zu beleuchten, da sich die Vielseitigkeit der Interpretationsmöglichkeiten in ihr spiegelt. Tatsächlich hatte man eine Reihe von Funktionen für das Haus angedacht. Das große Deutungsfeld, welches sich vor der Eingangsseite beziehungsweise vor dem Hauptbau für das Haus bietet, steht dabei in einem ungleichen Verhältnis zu der vergleichsweise geringen Funktion, die es am Ende erhielt.

Ein erster Anknüpfungspunkt für das Haus, zusammen mit der Eingangsseite, liegt in der Geschichte des ursprünglichen Zollgebietes. Verbunden mit der Einzäunung, die den Hof abgrenzt, verweist es auf das im 19. Jahrhundert gegründete Gewerbegebiet, als jede Firma ein Wärter- beziehungsweise ein Torhaus und eine deutliche Gebietsabgrenzung besaß.[8] Die erste Funktionsgebung passte zu diesem Bild: Es sollte zuerst ein Eingang für ein unterirdisches Auditorium, und danach als Eingang und Museumsshop genutzt werden – wie ein Torhaus, das auch zum Verkauf von Erzeugnissen der Fabrik dient.

Ein weiteres Assoziationsfeld wird bestimmt von der Eingangsseite in ihrer Funktion als Schauseite: das Kino. Bestehend aus einer Frontwand, den Seitenwänden, der zur Wand abfallenden Deckenfläche und dem schräg abfallenden Boden erinnert der Innenhof an die Raumform eines Kinosaals. Die Raumtiefe hingegen ist vergleichsweise gering gehalten, sodass die Mittelwand zusammen mit den Seitenwänden, wie eine auf dem Boden aufgeklappte Tafelschauwand ausieht. Sieht man den Bezug zu dem frei stehenden Haus davor, erinnert dieses Bild auch an ein Autokino.[9] Das Haus symbolisiert in diesem Fall das Projektionsgebäude für die Filme. Von der Idee, dass man tatsächlich durch die drei Fenster der zum Hof zeigenden Dachseite Filme projizieren könnte, blieben nur eingebaute Scheinwerfer übrig, welche in der Nacht auf die Schauseite leuchten. An den Seitenwänden kann man nun stattdessen Filme betrachten, die gleichzeitig auf zwei großen LED- Screens abgespielt werden. Jedoch werden sie endlos, also nicht nur nachts gezeigt. In der Mitte bleibt die Wand frei.

Auch Hiroshi Sugimoto[10] macht von einer weißen Schauseite Gebrauch – während allerdings hier die Filmsäle wechseln und die Filme selbst nicht mehr zu erkennen sind. Diese werden nämlich in seiner Fotoreihe Theater von 1978 immer so fotografiert, dass die Blende für die gesamte Dauer eines vorgeführten Films geöffnet bleibt, sodass man auf dem entwickelten Foto eine strahlend weiße Kinoleinwand sieht. Während am Schaulager die Filme wechseln, wechseln bei Sugimoto die Spielräume. Bei beiden bleibt eine weiße Fläche übrig: „Der Monitor [die Mittelwand], ist weniger eine Werbefläche, noch eine Projektionswand, denn er [sie] bleibt makellos weiß, der Monitor ist blind.“[11] Man sieht nichts als das, was vor dem inneren Auge entsteht und man kann bei so viel bildlicher Aktivierung an einem Gebäude einen Moment der Entspannung nutzen, bevor man durch das Haus zum eigentlichen Hauptbau tritt.

Das Haus stellt somit eher ein Bündel an Assoziationen über Funktionen dar, die nicht umgesetzt wurden. Neben weiteren Vorschlägen an potentiellen Funktionen, wie einer Cafeteria oder einem Atelier für eingeladene Künstler und Künstlerinnen, sollte das Haus zeitweise nicht mehr gebaut werden. Das hing damit zusammen, dass beispielsweise der Shop, das Auditorium und die Cafeteria bereits an einer anderen Stelle im Hauptbau untergebracht waren, wodurch die Begründung für die Umsetzung fragwürdig wurde. Letztendlich setzte sich Jacques Herzog durch. Die erste Idee – die einer Konfrontation mit dem Wohngebiet gegenüber – schien für ihn Motiv genug zu sein.

Vermutlich wird man der Funktion des Hauses dann gerecht, wenn man annimmt, dass die Architekten selbst ihrer Funktion noch treu bleiben wollten, obwohl das eigentliche Motiv nicht mehr im funktionalen, sondern im künstlerisch-intentionalen Bereich liegt. Verstärkt wird der Eindruck durch die vielseitigen Hintergründe und durch eine Gestaltungsweise, die auf Verschränkungen beruht, die eine polyseme Deutungsstruktur evozieren. Durch dieses Kaleidoskop an Bildern blickend, gerät die Frage nach der Nutzung in den Hintergrund. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem Reichtum der Interpretationsmöglichkeiten und dem vergleichsweise einfachen Zweck – gleichsam als werde man Zeuge einer Verschleierungstaktik der Architektur bei der gleichzeitigen Emanzipation von ihrer ursprünglichen Aufgabe.


[1] Adolf Loos, Essay zur Architektur, Wien 1910, S. 15.
[2] Philip Ursprung (Hg.), Herzog & de Meuron – Naturgeschichte, Baden 2005, S. 197.
[3] Gerhard Mack (Hg.), Herzog & de Meuron. Das Gesamtwerk, Band 4, 1997-2001, Basel 2008. U. a. direkt über das Schaulager, S. 3.
[4] Jacques Herzog und Pierre de Meuron, Vision Dreispitz: eine städtebauliche Studie, Basel 2003. Als neuer urbaner Knotenpunkt wird damit auch das trinationale Verständnis der Stadt Basel gefördert.
[5] Ich beziehe mich hierbei auf ein Interview mit Lukas Weber, dem stellvertretenden Projektleiter von Herzog & de Meuron für den Bau des Schaulagers, am 26.05.2011.
[6] Vgl. das Lagerhaus Ricola, 1986 in Laufen: Hier wird ein Lagergebäude nahe an eine Steinbruchwand gerückt, um unter anderem die Rhythmisierung der Längsstruktur der Felswand in der Gebäudefassade zu spiegeln.
[7] Die Zusammensetzung von einem Rundfenster in der Giebelseite eines einfachen, rechteckigen Hauses verweist auf einen Signaturbau von Aldo Rossi, ebenfalls rechteckig mit Giebeldach.
[8] Vgl. Ahmed Arbutu, Die grosse Form – und ihre Versehrung, in: Archithese, Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur / Revue thématique d‘Architecture, Jg. 3, Nr. 4, Sulgen 2003, S. 66-71, S. 67; Judit Solt, Erdiges Faszinosum, in: TEC 21, Nr. 25, Zürich 2003, S.20-26, S. 23.
[9] Vgl. Arabutu 2003, S. 68.
[10] Herzog & de Meuron arbeiten unter anderem mit diesem Künstler zusammen, dessen Fotoreihe sie beeinflusst haben könnte.
[11] Jacques Lacan, Eine Werkstatt des Schauens, in: Werk, Bauen + Wohnen, Jg. 90 /57, Nr. 7/8, Zürich 2003, S. 4-11, S. 5.

Quellennachweis: Katharina Herrmann, Das Haus-Werk. Überlegungen zur Architektur des Schaulagers von Herzog & de Meuron, in: ALL-OVER, Nr. 2, März 2012. URL: http://allover-magazin.com/?p=914.

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