Rektangulierung

Review: Manfred Sommer, Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur, Berlin 2016

Der Philosoph Manfred Sommer legt mit seiner Monografie Von der Bildfläche den Versuch einer Archäologie der Lineatur, so der Untertitel, vor. Er hat sich dabei nicht weniger vorgenommen, als den Umständen nachzugehen, wie wir zur Bildfläche gekommen sind, was wir über die Geschichte hinweg über den Prozess ihrer Entstehung beziehungsweise Entwicklung lernen können und welche Konsequenzen das auch für uns als NutzerInnen dieser Flächen hat. Die Bezugskonstanten dieser ambitionierten Unternehmung sind zahlreich: Neben der Vor- und Frühgeschichte oder der Anthropologie ist Edmund Husserls späte Philosophie eine zentrale Referenz für Sommer.

Husserls Hinwendung zu Geschichte und Lebenswelt, die er in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie vollzog, beschreibt, etwas verkürzt gesagt, die titelspendende Krise der Wissenschaften als Ausklammerung des menschlichen Subjekts aus der neuzeitlich-modernen, positivistisch ausgerichteten Forschung. Dass Sommer ausgerecht in sprichwörtlichen Zeiten wie diesen, die von Debatten zwischen radikalontologischen MaterialistInnen und subjektorientierten EpistemologInnen mitgekennzeichnet sind, in seiner Studie produktiv auf das Subjekt abzielt, ist auf jeden Fall positiv anzuerkennen. Es verwundert deshalb nicht, dass Phänomenologie und Kulturanthropologie ihn dazu bringen, im menschlichen „Tun“ (S. 11) eine Aktivität zu sehen, die zwischen allem „was rechteckig aussieht“ (S. 11) Verbindungen stiftet. Das Rechteck gilt dem Autor dabei, je nach Betrachtungsweise, als Figur oder als Grund, die sich akkumulierend in ihrer Mehrzahl aufeinander stützen und schichten. Seine recht programmatische Geschichte der „Rektangulierung“ (erstmals S. 13), so sein Neologismus, legt er als Genese einer Ausformung und Wandlung von Gestaltung beziehungsweise gegenwärtigem Weiterwirken an: „Ich untersuche, wie in den archäologisch faßbaren Formationen sich elementare Muster ausbilden und wandeln, sich konsolidieren und zu lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten sedimentieren. Eine Untersuchung dieser Art könnte man als gestaltgenetische Archäologie bezeichnen.“ (S. 61) In Anschluss an Husserl und an Maurice Merleau-Ponty will Sommer rekonstruieren und beschreiben, wie die Bildfläche – also „was übrig bleibt, wenn alles von ihr verschwunden ist“ (S. 49) – zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.

Die von ihm realhistorisch gelesene Archäologie setzt er entsprechend in Bezug zum Lebensvollzug des Menschen mit (und: in) all seinen Praxen. Geschichtlich geht Sommer dabei von einer, so mein Eindruck, neolithischen Wende aus, in der erste Felder bestellt, erste feste Häuser errichtet, Stoffe gewebt und verarbeitet wurden. In diesen Aktivitäten sieht der Autor ein Stiften von Kulturtechniken mitabgebildet, die das Rechteck als neue Bildfläche präferieren. Die hier angelegte Lineatur und Rasterung setzt er im ersten Hauptabschnitt in Bezug zu Leon Battista Albertis De pictura (1435), und mehr noch zu Albrecht Dürers Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes (1538). Dürers Bild liest Sommer, unter Bezugnahme auf die Zentralperspektive als Wahrnehmungsangebot und nicht als Konstruktionsanleitung, überzeugend als den verzweifelten ersten Versuch über das, was noch kommen mag. Dabei rechnet der Autor allerdings nicht ein, dass mit dem Bild an sich auch schon die Überwindung der Krise des Anfangens vorliegt. Sommers Analyse von Dürers Schnitt führt beispielhaft seine phänomenologische Betrachtungsweise vor: Sehen wird als aktiver Akt verstanden, als Beteiligung der Wahrnehmenden – und immer als eine „reine Ikonik reduzierter Sichtweisen“ (S. 32). Dieser auf Deskription fokussierte Ansatz, der gerade aufgrund des Anspruchs auf bloße Deskriptivität nicht frei von möglichen Problematiken ist, prägt die gesamte Monografie.

Der zweite, umfängliche Abschnitt ist dann der Entstehung des Ackerbaus und der Ausgestaltung des rechteckigen Felds gewidmet. Der/die Bauer/Bäuerin wird bei Sommer als „Akteur“ (S. 13) beschrieben, der das Rechteck weniger schafft, als dass es ihm vielmehr während er seine pflügende Tätigkeit vollzieht so gerät. Über drei Stränge entwickelt der Autor seine Auseinandersetzung mit der landwirtschaftlichen Kultivierung: erstens die „Erdverbundenheit“ (S. 66) des Bauern als auch des Malers, wobei ihm Plinius als Hauptzeuge gilt und Husserl einmal mehr gegen Heidegger ausgespielt wird; zweitens der permanente, streckenweise wettbewerbsartige Versuch, eine vollkommen gerade Linie zu ziehen, wobei sich die Idealform des Rechtecks eben nicht als gegeben, sondern als Ergebnis einer prozessualen „Vervollkommnungspraxis“ (Husserls Begriff; zitiert bei Sommer unter anderem auf S. 74) mittels „leiblich-motorischer“ (S. 176) Weiterentwicklung beschrieben sieht; und drittens die Fassbarmachung einer holistischen Wirklichkeitsbeziehung, die deutlich an das erste Hauptkapitel anknüpft, da sie eine Plinius-Lektüre nutzt, um über eine herausgearbeitete Reaktivierung von Evidenz die Aktivierung im Betrachten festzuschreiben. Ein über André Leroi-Gourhan argumentierter „anthropolgische[r] Gesamtentwurf“ (S. 522) lässt Sommer die Dominanz des Rechtecks erklären, wobei die von ihm mitverhandelten „Rundungsphänomene“ (S. 138) kein Ausdruck von Ergänzung, sondern von Antagonismus sind: Auf das von Sommer beispielsweise sehr ausführlich beschriebene „konzirkuläre Rundfeld“ (S. 139) folgt dann eben die apostrophierte „Rektangulierung“ (S. 13). Es ist dies für Sommer also eine Gestaltung, die eben kein vorgegebenes geometrisches Ende mehr kennt, sehr wohl aber einen Rand – oder eben einen (historisch später folgenden) Rahmen.

Konsequent führt der Autor im dritten Hauptkapitel deshalb vom Feld zur Wand, zu Fenstern, Türen und zwangsweise zum Haus. Für die Beschreibung der „Domestikation“ des Bildes an der Wand, also die Vervollständigung seiner in sich schon angelegten Heimisch-Werdung, knüpft Sommer überzeugend an die antike Philosophie an: Über Aristoteles argumentiert er den topos oikos, also den Ort, dem ein Element immer schon zustrebt und an dem es sein will; über die Stoiker reaktiviert er das Prinzip der oikeiosis, also der existenziellen Hauswerdung des Menschen. Im Hausbau ahmt, so Sommer, der steinzeitliche Mensch die „originäre Formungstätigkeit“ (S. 301) der Natur nach. Mit der Wand kommt es zu einer Vertikalisierung der betrachteten beziehungsweise betrachtbaren rechteckigen Fläche. Den sesshaften Ackerbauern definiert Sommer dabei in Abgrenzung zum Jäger und seiner mobilen Zeltstatt – ein Umstand, der mit dem vierten, abschließenden Kapitel zu korrespondieren scheint. Überraschend ist dabei aber, dass Sommer in der kürzer gehaltenen Auseinandersetzung mit der „Webtechnik“ und der „Textil- und Selbstgestaltung“ dem stofflichen Gewebe den Vorrang über Acker- und Wandflächen einräumt – eben weil es aufgrund seiner Beweglichkeit am besten zum Menschen passen würde, er uns also „im Stoff zur Mobilität befreit“ (S. 518) sieht.

Manfred Sommers selbsterklärtes, immer wieder behauptetes Themenfeld ist die „Gestaltgeschichte“ (S. 14), ganz gleich ob seine Beispiele aus der Urgeschichte oder der Architekturtheorie stammen. Von der Bildfläche ist geprägt vom phänomenologischen Wunsch, Entwicklungen zu durchschauen und Voraussetzungen zu verstehen. Seine Archäologie der rechteckigen Fläche und der Lineatur entfaltet sich, insbesondere in den ausführlichen Abschnitten über Grund und Boden, als eine „Untergrund-Exploration“ (S. 188), die auch „Kultur-Explikation“ (S. 188) sein möchte. In ihrer methodologischen Gerichtetheit und der Konzentration auf die verhandelte Sache will er aber erklärtermaßen ausschließlich auf „das Auffinden von Symptomen und deren Verwendung als Indizien“ (S. 404) hinaus, auf das Beschreiben verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Flächen und Linien. Sommers klare philosophische Positionierung mag diese streckenweise interpretationsscheue Ausrichtung und das damit einhergehende Aussparen zentraler neuerer Texte zum Thema (wie etwa von Jacques Derrida, Michel Serres oder Tim Ingold) erklären helfen – die fehlenden Bezugnahmen zu aktuellen bildphänomenologischen Arbeiten bleiben aber bei aller Überzeugungskraft des Buchs trotzdem auffällig. Unabhängig davon erweist sich die Lektüre der Monografie als lohnend, nicht zuletzt auch wegen der vielen Einblicke und Details in den eingeflochtenen Unterkapiteln (zum Beispiel zur Gestalt des Labyrinths, über die Linearisierung der Schrift oder den gewitzten Bezügen zu Ovids Metamorphosen). Im übertragenen Sinn lässt sich Manfred Sommers Von der Bildfläche als eine phänomenologische Betrachtungs- und Wahrnehmungslehre lesen, die sich nicht zuletzt über die Beschreibung von Abwesenheiten – wenn er etwa über Fenster, Öffnungen und Aussparungen schreibt – formuliert sieht.

Manfred Sommer
Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
544 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 39,10 Euro

 

Thomas Ballhausen ist Autor, Literaturwissenschaftler und Archivar. Er lehrt unter anderem an der Universität Wien und ist Leiter der Pressedokumentation an der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien. Mehrere selbständige wissenschaftliche und literarische Publikationen, zuletzt „Mit verstellter Stimme“ (2017).
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