Editorial

Seit nunmehr fünf Jahren bieten wir mit all-over eine Plattform für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Feld von Kunst und Ästhetik aus den verschiedensten Blickwinkeln an. Inzwischen sind wir mit Bildstrecken und Textbeiträgen, die sich auf künstlerische Weise mit unserem spezifischen Medium der Online-Publikation auseinandersetzen, mitunter aus dem theoretischen Feld ausgebrochen. Umso mehr sehen wir es auch in der zehnten Ausgabe von all-over immer noch als unsere Aufgabe, „ein weites Versuchsfeld kunstwissenschaftlicher Überlegungen” zu eröffnen, „in dem sich – ähnlich den Gemälden Jackson Pollocks – verschiedene Gedankenlinien berühren, kreuzen und auseinander laufen, um sich insgesamt zu einem breiten Gewebe zu verdichten.”[1] Die thematischen Fäden der einzelnen Artikel bündeln sich diesmal zu einer nuancierten Perspektive auf den politischen und theoretischen Unterbau der zeitgenössischen Kunst.

Ulrike Gerhardt befasst sich in ihrem Beitrag Localising socialist memory mit einem veränderten Konzept von Erinnerung in der Welt digital gespeicherter Vergangenheit. Anhand zweier Werke von Anri Sala und Hito Steyerl, die die Transformation sozialistischer Staaten von ihrem persönlichen Standpunkt her zu ergründen versuchen – ohne sie erster Hand erlebt zu haben –, zeigt sie Möglichkeiten einer aktiven, alternativen Aufarbeitung des Geschehenen auf.

Markus Stickler diskutiert in seinem Essay The Inflicted Voice einen Knotenpunkt politischer und künstlerischer Fragen im brisanten Feld der Asylpolitik. Ausgangslage dafür ist die Audiodokumentation The Freedom of Speech Itself von Lawrence Abu Hamdan, die die fragwürdige Praxis der Stimmanalyse zur Herkunftsbestimmung von AsylwerberInnen thematisiert.

Anlässlich der Tagung Aesthetics of Standstill in Düsseldorf führte Katharina Brandl für all-over ein Gespräch mit Peter Osborne, in dem der britische Philosoph die historiographischen Mechanismen der Kunstgeschichte, verschiedene Konzepte von Zeitlichkeit und die Virulenz des Begriffs „(the) contemporary“ umreißt.

David Misteli nimmt in seinem Beitrag den Besuch des von Pamela Rosenkranz bespielten Schweizer Pavillons auf der Venedig Biennale 2015 als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen philosophischen und künstlerischen Bestrebungen um die Auflösung des Subjekts. An die Stelle der Verabschiedung von Subjektivität tritt eine Topologie des synthetischen Subjekts, die sich in Rosenkranz’ Arbeiten zeigt.

Hannah Bruckmüller hat Katharina Hoins’ präzise recherchierte Dissertation zur Zeitung als künstlerisches Material rezensiert, wobei der begrifflich-systematische Blick der Autorin die vielgestaltige Verwendungsgeschichte der Zeitung nicht immer passgenau erfasst.

Die Fragilität der Oberfläche, die unsere sinnorientierte, alltägliche Wahrnehmung bildet, fungiert als Folie, vor der Angelika Seppi die Ausstellung Secret Surface der KW Berlin liest. Nur selten werden hier Einblicke in den Konstitutionsprozess der fraglichen, vor allem digital angezeigten Phänomene eröffnet.

An Stelle einer Bildstrecke steht dieses Mal eine virtuelle Jubiläumsausstellung, realisiert von Viktor Lundgaard, der seit längerem mit 3D-Modellen arbeitet. Im Zuge dessen entstand auf Basis des Hauptraums der Wiener Secession ein virtueller Ausstellungsraum, der nun eine Gruppenausstellung beherbergt. Alle bisher mit einer Bildstrecke oder Intervention in all-over vertretenen KünstlerInnen haben einen Beitrag dazu geliefert: Walter Derungs, Gregor Graf, Elisabeth Greinecker, Clare Kenny, Max Leiß, Ulrich Nausner, Matt Taber und Thomas Tudoux. Am Präsentationsabend der zehnten Ausgabe von all-over in der Wiener Secession konnte die Ausstellung am Eingang zum realen Ausstellungsraum erstmals virtuell begangen werden. Sie ist bis zur Publikation der nächsten Ausgabe online auf unserer Website geöffnet.

Wir danken an dieser Stelle allen, die über zehn Ausgaben hinweg zum Zustandekommen und Bestehen von all-over beigetragen haben und uns in vielerlei Hinsicht – schreibend, beratend, lesend – unterstützt haben.
Wir freuen uns auch in Zukunft auf spannendes Zusammenarbeiten und wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Barbara Reisinger | Stefanie Reisinger


[1] Hannah Bruckmüller/Jürgen Buchinger/Dominique Laleg, Editorial, in: all-over, Nr. 1, Juli, 2011. URL: http://allover-magazin.com/?page_id=210.

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