Geheimnisse und Trivialitäten der Oberfläche

„SECRET SURFACE. WO SINN ENTSTEHT“, KW Institute for Contemporary Art, Berlin

„Obwohl wir die Worte, die unseren Geist bevölkern, nicht selbst erfinden, haben wir den Eindruck, dass sie unsere eigenen sind. Wir sind wie ein geduldiges Blatt Papier, das sich nicht darüber beklagt, mit Buchstaben vollgeschrieben zu werden. Im besten Fall findet alles an der Oberfläche statt. Nur vergisst man leicht, dass eine solche Oberfläche erst hergestellt werden muss und immer fragil bleibt.“[1] Mit diesen Worten leitet Michael Turnheim seine 2007 publizierte Monographie zum Verhältnis von Oberfläche und Wahnsinn ein, in der er die ebenso einfache wie eindrucksvolle These darlegt, dass das, was man gemeinhin als Wahnsinn bezeichnet, auf nichts anderem beruhe, als dem titelgebenden Scheitern der Oberfläche.

Abb. 1: Bis zur Unentzifferbarkeit überschriebenes Blatt eines Autisten.

Abb. 1: Bis zur Unentzifferbarkeit überschriebenes Blatt eines Autisten.

Der Wahnsinn hat seinen Ort dort, wo die Herstellung der Oberfläche misslingt oder die hergestellte Oberfläche als Oberfläche zusammenbricht und mit ihr die sie konstituierenden Aufteilungen von Innen und Außen, Eigenem und Fremdem, Körperlichem und Unkörperlichem et cetera. Die Buchstäblichkeit seiner These führt Turnheim entlang einer Reihe von Beispielen des autistischen Umgangs mit Papier vor: „Ein autistisches Kind durchlöchert das Papier, auf das es geschrieben hat, und lässt dadurch die vergessene Gewalt von Schrift sichtbar werden. Ein anderes schreibt auf einem schon mit Zeichen erfüllten Blatt weiter, als ob Papier unendlich aufnahmefähig wäre: Missbrauch der Oberfläche, die zu Unentzifferbarkeit führt“[2] (Abb. 1).

In Homologie zum autistischen Umgang mit der Oberfläche des Papiers führt Turnheim die von den Kognitionswissenschaften als mindblindness bezeichnete Schwierigkeit der Autisten, sich in die Gedanken anderer hineinzuversetzen, auf einen merkwürdigen Umgang mit dem Fremden zurück.[3] Im psychoanalytischen Vokabular bedeutet das: Während die frühkindliche Entwicklung normalerweise entlang der projektiven Identifizierung und der Ausbildung der paranoid-schizoiden Position zu einer Aufteilung von Innen und Außen, Eigenem und Fremden führt, lässt sich vom autistischen Verhalten auf ein Fehlen eben dieser Prozesse schließen. „So betrachtet“, schreibt Turnheim, „kann man den Ursprung des Autismus nicht einfach einer Abwesenheit intellektueller oder neurologischer Fähigkeiten zuschreiben. Es würde eher um eine Modifikation oder um ein Ausbleiben jener ersten Spaltungsprozesse gehen, welche die Bedingung für einen bestimmten Umgang mit Heterogenität darstellen.“[4] Der im Autismus von der frühen Kindheit an gestörten Oberflächenorganisation stellt Turnheim entlang der Lektüre von Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken den psychotischen Zusammenbruch der Oberfläche entgegen: Nicht nur das Denken empfindet Schreber als einem fremden Einfluss unterworfen – einem geradezu physischen Denkzwang, einer buchstäblichen Strahlenwirkung –, selbst die eigenen Körperteile werden ihm zu Fremdkörpern.[5]

Die autistischen und psychotischen Kronzeugen Turnheims bezeugen vor allem eines: das Scheitern der Zeichen- und Sinnproduktion ist ein Scheitern der Oberflächenorganisation. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Zeichen- und Sinnproduktion wesentlich an die Herstellung und Organisation von Oberflächen gebunden sind. Vom Scheitern der Oberfläche als Grund des Wahnsinns, vor allem aber von der Genese des Sinns als Oberflächeneffekt, handelte schon Gilles Deleuzes erstmals 1969 publizierte Arbeit zur Logik des Sinns.[6] In 34 Serien von Paradoxa und einem in sich verdoppelten Anhang zum Trugbild und antiker Philosophie einerseits, zum Phantasma und moderner Literatur andererseits, entwickelt Deleuze in der Logik des Sinns das Bild eines Denkens, in dem alles in der Tiefe der Körper, im lärmenden Unsinn beginnt, indem aber zugleich alles, was geschehen und gesagt werden kann, an der Oberfläche geschieht und gesagt wird. Die Oberflächenwirkungen werden als Ereignis des Sinns zum Ereignis schlechthin: Das Ereignis ist der Sinn selbst, „insofern er sich von den Dingzuständen abhebt oder unterscheidet, die ihn herstellen und in denen er sich verwirklicht.“[7]

Als Oberflächeneffekt bleibt der Sinn von Deleuze bis Turnheim auf immer instabil und an den Unsinn zurückgebunden, wie die Oberfläche auf immer in der Schwebe bleibt zwischen Organisation und Krise: „Nichts Fragileres als die Oberfläche.“[8] Mit Secret Surface. Wo Sinn entsteht greifen die von Ellen Blumenstein kuratierte Gruppenausstellung und das von Catherine Wood und Adela Yawitz kuratierte begleitende Performanceprogramm damit ein Thema auf, das spätestens seit dem Poststrukturalismus einen in alle Richtungen sich ausbreitenden theoretischen Feuerherd markiert. Ein feuerrot flackerndes Bild einander überlagernder NASA-Aufnahmen der Sonne, der Mutter aller Feuer, empfängt die BesucherInnen dann auch gleich zu Beginn des Parcours durch die Gruppenausstellung der Kunst-Werke in Berlin (14. April – 1. Mai 2016).[9] Genauer gesagt steht die digitale Filmprojektion Die Sonne um Mitternacht schauen (Red) (2011–12) der Künstlerin Katharina Sieverding am Übergang vom Prolog zu den eigentlichen, von der Kuratorin so bezeichneten, drei übergeordneten Kapiteln der Ausstellung. Auf den Prolog unter dem Titel Geheimnis der Oberfläche folgen das erste Kapitel: Unter dem Firmament, das zweite Kapitel: Welt als Oberfläche und schließlich das dritte Kapitel: Subjektivierungsweisen. Entlang dieses konzeptuellen Strangs präsentiert die Ausstellung eine Auswahl zeitgenössischer künstlerischer Positionen, die eine Kartographie der ausgezeichneten Orte der Sinnproduktion im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert abstecken sollen und die eine Antwort auf die Frage danach, wo Sinn heute entsteht, nicht länger in den Tiefen und Untiefen der Metaphysik, sondern auf der Oberfläche der Erscheinungen selbst suchen.

Abb. 2: Anna Barham, 52nthjt3k8, 2015,
bearbeitetes, gefundenes Video, Stahlrohre, 01:00 min, Loop. 


Abb. 2: Anna Barham, 52nthjt3k8, 2015,
bearbeitetes, gefundenes Video, Stahlrohre, 01:00 min, Loop.

Der Prolog verspricht eine an der Verführungsmacht der Oberfläche orientierte Einführung in die Thematik der Ausstellung. Nicht das, was sich unterhalb der Oberfläche abspielt oder auf der Oberfläche bedeutet wird, die Oberflächen selbst sollen als augenscheinliches Geheimnis präsentiert werden – in ihrer spezifischen Materialität und Medialität, in ihrem Schimmern, Flackern und Flimmern, in ihrer Sanftheit oder Rauheit, in ihrer Glattheit oder Porosität, in ihrer anziehenden oder abstoßenden Kraft, in ihrem Vermögen, den Blick und das Begehren auf sich zu ziehen oder von sich zu weisen. Vor dem Hintergrund dieses kuratorischen Versprechens wundert man sich darüber, dass es in der Regel eine Oberfläche ist, die von Kapitel zu Kapitel dominanter wird und deren Charakteristikum ausgerechnet darin besteht, ihre Materialität geradezu auszulöschen: der Bildschirm. Sei es als bevorzugtes Medium, sei es als Gegenstand, mit dem sich die künstlerischen Arbeiten inhaltlich auseinandersetzen – der Bildschirm als analog-digitales Interface ist das eigentliche Geheimnis, um das Secret Surface insgesamt kreist. Dabei ist der Grat, entlang dessen das Geheimnisvolle der Oberfläche in die Eintönigkeit und Eindimensionalität ihrer puren Selbstpräsentation umzuschlagen droht, ein dünner. Die bloße Zurschaustellung der Oberfläche, selbst der faszinierendsten, wie etwa die von Anna Barham im Video 52nthjt3k8 (2015) inszenierte, auf Licht und Berührung reagierende Haut eines Tintenfisches, ist jedenfalls noch lange keine Garantie für eine gelungene künstlerische Arbeit (Abb. 2). Vor allem aber lässt der Fokus auf die je schon konstituierte Oberfläche die prozessuale und dynamische Dimension der Herstellung der Oberflächen und der damit verbundenen Genese von Sinn ebenso unterbeleuchtet, wie den Grund und die Grenzen des Sinns im Unsinn und Wahnsinn.

Abb. 3: Beth Collar, The Island of The Dead, 2014, digitales Video, 28:00 min.

Abb. 3: Beth Collar, The Island of The Dead, 2014, digitales Video, 28:00 min.

Dagegen sind es Arbeiten wie Beth Collars Island of the Dead (2014), die uns im Prolog präsentiert wird, oder Hollis Framptons Surface Tension (1968), zweifellos das Highlight des zweiten Kapitels der Ausstellung, die den Geheimnissen der Oberfläche am nächsten kommen und die Oberflächenspannung tatsächlich aufrecht zu erhalten wissen. Auf durchaus heterogene Art und Weise lassen die beiden Videoarbeiten Sinn dort entstehen und vergehen, wo (mindestens) zwei heterogene Ordnungen aufeinandertreffen: eine Ordnung des Sichtbaren, des Auges, des Lichtes, der Helligkeit und Dunkelheit, des Glitzerns und Glänzens, der Farbe, der Erscheinungen, des Zeigens, der Evidenz da; eine Ordnung des Sagbaren, der Worte, Sätze und Präpositionen dort. Ein Schatten wandert durch Beth Collars 28-minütiges digitales Video und verweist in Gesten und Worten auf eine allseits von Meereswellen umspülte Gesteinsformation (Abb. 3). Die Hände zeigen in wechselnden Gesten, was die Worte in unablässiger Wiederholung bezeichnen: „this is where the dead go, this is where all the dead go.“ Erst in der wiederholten Überkreuzung mit den gestischen und sprachlichen Zeichen wird die vor uns liegende Gesteinsformation zur Toteninsel und The Island of the Dead damit zur Grab- und Geburtsstätte (von Sinn) in einem.

Abb. 4: Hollis Frampton, Surface Tension, 1968, Video, 09:31 min.

Abb. 6: Hollis Frampton, Surface Tension, 1968, Video, 09:31 min. Abb. 5: Hollis Frampton, Surface Tension, 1968, Video, 09:31 min. Abb. 4, 5, 6: Hollis Frampton, Surface Tension, 1968, Video, 09:31 min.

Hollis Framptons Surface Tension führt dagegen ein Umkehrmanöver durch: wo Sinn sich immer schon eingenistet hat, soll der konstitutive Unsinn aufgezeigt werden. Das neun Minuten und 31 Sekunden lange Video ist in drei Teile gegliedert: der erste Teil zeigt einen Mann vor einem geöffneten Fenster, neben ihm eine Uhr mit Umblätterfunktion. Während wir den Protagonisten des ersten Teils sprechen und gestikulieren sehen, hören wir nichts weiter als das schrille Klingeln eines Telefons. Noch immer im Zeitraffer zeigt der zweite Teil des Videos Straßen, Passanten, Häuserfassaden – kurz: das typische Getümmel einer amerikanischen Großstadt der späten 1960er Jahre – während wir auf der Tonspur der Schilderung eines seinerseits dreiteiligen Filmprojektes lauschen. Der Protagonist des dritten Teiles von Surface Tension schließlich ist ein Goldfisch in einem Aquarium an einem Strand (Abb. 4, 5, 6). In weißer Druckschrift durchziehen Informationen wie „PART ONE“, „SOUNDS/COLOR“, „GIRL“, „5 MIN.“, „PART TWO“, „MONKEYS“, „PART THREE“ et cetera die nunmehr in Realzeit ablaufenden Aufnahmen, bevor die Projektion mit einer letzten, sich überschlagenden Meereswelle abbricht. Mit den Mitteln des Films, des Schnitts und der Montage, verrückt Frampton jede sinnvolle Überkreuzung zwischen der Zeit der Aufnahme und der Zeit der Projektion, zwischen der apparativen und der imaginären Projektion, zwischen den bildlichen und den sprachlichen Zeichen, zwischen den innerbildlichen und innersprachlichen Verweisen selbst. Immer schon verrückt, zu früh oder zu spät, treffen die einzelnen Elemente des Films nie zur rechten Zeit an diesem oder jenem möglichen Treffpunkt ein und setzen so eine Übersetzungsarbeit in Kraft, die in metonymischen und metaphorischen Wellen ein Meer an Bedeutungen aufwirbelt. In bester, man möchte fast sagen post-strukturaler Manier ist Surface Tension zugleich eine analytische Erörterung und komödiantische Inszenierung der Bedingungen des Films selbst.

Weniger analytisch, ähnlich komisch, präsentiert sich Andy Holdens Wandinstallation Obsession (2016). Auch in Obsession spielen Metonymie und Metapher, wie in vielen anderen Arbeiten des britischen Multimedia-Künstlers, eine entscheidende Rolle. Die bedruckte, sich über 1800 x 540 cm erstreckende und mit unzähligen Kulleraugen bedeckte Wandtapete gibt sich – auch weil es der Titel des ersten Kapitels Unter dem Firmament suggeriert – als kosmische Metapher zu lesen, nicht ohne die heraufbeschworene Metaphorizität zugleich mit feinem Witz zu brechen: Das erhabene Moment des „bestirnten Himmels über mir“ stellt sich jedenfalls nicht ein[10] (Abb. 7). Dagegen geht einem wie im Comic oder Cartoon, die als feste Bezugsgrößen innerhalb der künstlerischen Arbeit Holdens fungieren, sprichwörtlich ein Licht auf: Nicht nur schaut das, was wir sehen, auf uns zurück, in der Überkreuzung der Blicke liegt eine ursprüngliche Übertragung, die allen rhetorischen Figuren der Übertragung – Metapher, Metonymie, Hyperbole et cetera – vorausgeht. Im hyperbolischen Stil des Cartoons bringt Obsession die ursprüngliche Inadäquation zwischen einem per se bezeichnenden Universum – es gibt immer schon zu viele Zeichen – und einem gedeuteten Universum – die Zeichen lassen sich nie eindeutig einem Signifikat zuordnen – auf dem Punkt.[11] Das Universum hat sich mithin immer schon verdoppelt und zwischen den Zeichen und ihrer Bedeutung ist eine Gegenübertragung wirksam, die das Subjekt zwischen den Gesetzen der physikalischen und der symbolischen Ordnung hin- und herspringen lässt, wie Charlie Brown oder Bugs Bunny in der Arbeit Laws of Motion in a Cartoon (2011), die Andy Holden in Kooperation mit Tylor Woolcott produzierte.

Abb. 7: Andy Holden, Obsession, 2016, Druck auf Wandtapete, Wackelaugen, 1800 x 540 cm, Detail.

Abb. 7: Andy Holden, Obsession, 2016, Druck auf Wandtapete, Wackelaugen, 1800 x 540 cm, Detail.

Wer so Lust bekommt auf einen Zick-Zack-Kurs durch die kosmischen Weiten des Sinns und Unsinns, erfährt im zweiten Kapitel Welt als Oberfläche einen libidinösen Crash. Die meisten der hier versammelten, sich vornehmlich am Dispositiv zeitgenössischer Displays orientierenden Arbeiten, halten sich unentschieden in der Grauzone zwischen Technofaszination und -kritik auf. Einmal mehr werden wir im Spiegel der zeitgenössischen Kunst mit den techno-kapitalistischen Bedingungen konfrontiert, die seit dem 20. und 21. Jahrhundert und im Zuge einer zunehmenden Technisierung, Kybernetisierung und Kapitalisierung unsere Wahrnehmungs-, Handlungs-, Wissens- und Existenzräume organisieren.[12] Darüber, die techno-kapitalistischen Bedingungen und Sinnverschiebungen rein symptomatisch anzuzeigen, reichen die meisten der in diesem Kapitel präsentierten Arbeiten nicht hinaus.

Abb. 8: Mark Lecky, Living Within The Ecstasy of Always Bursting Forth, 2015, Video, ohne Ton, 03:20 min; Mark Leckey, The Half-Tone Ecstasy of Always Bursting Forth, 2015, Siebdruck, 150 x 100 cm. Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art.

Abb. 8: Mark Lecky, Living Within The Ecstasy of Always Bursting Forth, 2015, Video, ohne Ton, 03:20 min; Mark Leckey, The Half-Tone Ecstasy of Always Bursting Forth, 2015, Siebdruck, 150 x 100 cm. Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art.

Lustvoller geht es dagegen wieder im dritten und letzten Kapitel zu, das sich zeitgenössischen Subjektivierungsweisen widmet. Den Auftakt machen zwei Arbeiten Mark Leckeys: die Videoarbeit Living Within The Ecstasy of Always Bursting Forth (2015) und der Siebdruck The Half-Tone Ecstasy of Always Bursting Forth (2015, Abb. 8). In beiden Arbeiten greift Leckey ein Motiv aus Billy Wilders Screwball-Komödie Eins, Zwei, Drei (1961) auf, das auch schon in We Transfer (Secession, Wien 2015), Leckeys erster Solo-Show in Österreich, als Leitmotiv fungierte. Dabei ist es immer schon die Spur, die das betreffende Motiv im Web hinterlassen hat, die Mark Leckey als Ausgangsmaterial dient. Herausgelöst aus dem filmischen Kontinuum, isoliert sowohl vom historischen als auch vom filmischen Fluss der Zeit, eingegangen in die Gleichzeitigkeit und schiere Unendlichkeit im Web zirkulierender Daten, herausgefischt aus dem digitalen Datenstrom, übersetzt in das flimmernde Raster rot-grün-blauer LEDs, maskiert vom Schwarz-Weiß des Drucks/Videos, wird das Motiv des im Tupfenkleid und -hut an einer Bordsteinkante knienden, sichtlich fassungslosen Schauspielers (Hans Lothar) als ekstatischer Augenblick schlechthin inszeniert. Während die im Siebdruck stillgestellte Zeit den Polka-Dot-Man mit weißen Handschuhen, Hornbrille, und leicht geöffnetem Mund zur Ikone gerinnen lässt, schlüpft Mark Leckey im Video Living Within The Ecstasy of Always Bursting Forth buchstäblich in das Standbild hinein. In der Überlagerung von Stand- und Bewegtbild blickt uns aus den Gläsern und hinter die eingefrorene Fassade des Schauspielers gebannt der Künstler selbst entgegen. Ein klaustrophobisches und gerade darin quasi-transzendentales, kairologisches Moment zeichnet diese Inszenierung des Polka-Dot-Man insgesamt aus: Zu Fall gebracht, am Boden kniend, den Blick auf jene konkrete oder abstrakte Instanz gerichtet, in deren unsichtbarer Hand sein Schicksal zu liegen scheint, findet sich da Subjekt maximal reduziert. Es ist nichts als Erwartungshaltung. Maximal verdichtet dagegen ist der Augenblick selbst. Das Subjekt kann dem Ereignis dieses Augenblicks nichts entgegensetzen – es kann ihn nur entgegennehmen.

Abb. 9: Reena Spaulings, Mollusk, 2012, Marmor, 199 x 51 x 4 cm, Galerie Neu, Berlin / Privatsammlung, Berlin. Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art.

Abb. 9: Reena Spaulings, Mollusk, 2012, Marmor, 199 x 51 x 4 cm, Galerie Neu, Berlin / Privatsammlung, Berlin. Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art.

Mit einem dramma giocoso dagegen, der 3-Kanal-Videoinstallation Osservate, Leggete con me (2012) von Frances Stark, wird der Ausstellungsparcours quasi kontrapunktisch mit einem Augenzwinkern abgeschlossen. Mozarts Don Giovanni im Ohr lesen wir uns durch das in schnörkelig-weißen Schriftzügen an die Wände projizierte, redaktionell manipulierte und fröhlich-frivol inszenierte Protokoll mehrerer Cybersex-Chats, die Frances Stark mit unterschiedlichen Chatpartnern geführt hat. Weit ab der als „Ohhhhh“ und „ahhhhh“ und „mhhhh“ symbolisierten orgiastischen Gefühle, entlockt einem die Arbeit Starks doch das eine oder andere Schmunzeln. Ein Wiedergutmachungs-Angebot der Kuratorin an alle LiebhaberInnen des Unsinns? Vielleicht. Gerne hätte man jedenfalls mehr solcher Arbeiten gesehen, denen es wie etwa Reena Spaulings‘ Mollusk (2012) in bewundernswerter Leichtigkeit und Prägnanz gelingt, Unsinn zu stiften und etwas Unordnung in die immer schon von Sinn und Ordnung überdeterminierten Oberflächen zu tragen (Abb. 9).

Was von Reena Spaulings‘ Mollusk ebenfalls angezeigt wird, ist das problematische Verhältnis von Kunstproduktion und Ausstellungspraxis. Dem, was wir sehen können – die marmorne Kopie eines in Hinsicht auf seine ursprüngliche Materialität, Funktionalität und Kontextualität maximal entfremdeten Surfboards –, steht eine Menge an Informationen gegenüber, die uns schlicht vorenthalten wird: zum Beispiel, dass Reena Spaulings eine Kunstfigur ist, die vom New Yorker Kollektiv Bernadette Corporation geschaffen wurde, um in neo-situationistischer Manier die zeitgenössischen Identitätspolitiken und die Automatismen des Kunstbetriebs in einem zu unterlaufen; dass der Titel der Arbeit auf den gleichnamigen, mit Kultstatus versehenen Surfshop in Williamsburg, Brooklyn, verweist; dass die Arbeit im Kontext eines Tauschgeschäfts – Kunst gegen Material – mit Josef Dalle Nogare, einem Kunstsammler und Inhaber einer Marmorfabrik in Venedig entstanden ist und im Rahmen eines Ausstellungsprojektes entwickelt wurde, das unter dem Titel The Belgian Marbles (Sutton Lane, London 2009) den geopolitischen und ökonomischen Kreislauf und Zuschnitt von Waren und Werten thematisierte. Was den BertrachterInnen im Entzug all dieser Informationen entgeht, ist der gesamte Kontext des künstlerischen Produktionsprozesses: von seiner kollektiven Anlage bis hin zu den geopolitischen und sozio-ökonomischen Verwicklungen und Verschiebungen, an denen er teil hat und die ihrerseits als integraler Bestandteil der künstlerischen Praxis der Bernadette Corporation zu betrachten sind. Derart von der Tiefendimension seiner Produktionsbedingungen abgeschnitten, geht Mollusk im allgemeinen Oberflächenrauschen zwar nicht unter – als eine Art in Marmor gebanntes Oxymoron kann die Arbeit durchaus für sich selbst stehen – sie wird aber auf ihre ästhetisch-allegorische Dimension reduziert. So alt der Hut auch sein mag, der besagt, dass die modernen Ausstellungsformate zu einer Ästhetisierung der Kunst beigetragen haben, die sie von der Tiefendimension ihrer Produktionsbedingungen trennt und in ihrer möglichen gesellschaftlichen Wirkung neutralisiert, er sitzt auch weiterhin nur allzu gut. So läge dann eines der Versprechen des Sinns, innerhalb und außerhalb des Kunstbetriebs, gestern wie heute, gerade darin, die opake Faktizität der Oberflächen auf das Geheimnis ihrer Herstellung hin durchsichtig zu machen.


[1] Micheal Turnheim, Das Scheitern der Oberfläche. Autismus, Psychose und Biopolitik, Zürich/Berlin 2005, S. 7.

[2] Turnheim 2005, S. 7.

[3] Vgl. zur kognitivistischen Perspektive: Simon Baron-Cohen, Mindblindness, Cambridge 2001.

[4] Turnheim 2005, S. 23.

[5] Vgl. Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1903.

[6] Gilles Deleuze, Logik des Sinns [Logique du sens 1969], übersetzt von B. Dieckmann, Frankfurt a. M. 1993.

[7] Deleuze 1993, S. 260.

[8] Deleuze 1993, S. 110.

[9] Mit Beiträgen von niv Acosta, Auto Italia (Kate Cooper, Marianne Forrest, Andrew Kerton und Jess Wiesner), Trisha Baga, Anna Barham, Eduardo Basualdo, Viktoria Binschtok, Gwenneth Boelens, Beth Collar, Hollis Frampton, Spiros Hadjidjanos, Andy Holden, Alex Israel, Philipp Lachenmann, Mark Leckey, Lawrence Lek, Ying Miao, Philippe Parreno, Elizabeth Price, Naufus Ramírez-Figueroa, Emily Roysdon, Georgia Sagri, Prem Sahib, Nora Schultz, Katharina Sieverding, Reena Spaulings, Patrick Staff und Cara Tolmie, Philipp Timischl, Frances Stark und Martijn in ‘t Veld.

[10] Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 288: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

[11] Vgl. Claude Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Band I, München 1974, S. 38 ff.: „Das Universum hat schon bezeichnet, lange bevor man zu wissen begann, was es bezeichnete […]. [D]er Mensch (verfügt) von seinem Ursprung her über eine Gesamtheit von Signifikanten […], die er nur mit Mühe einem, wenn auch gegebenen, so doch noch nicht erkannten Signifikat zuordnen kann. Zwischen beiden besteht immer eine Inadäquation.“

[12] Zur technologischen Sinnverschiebung, vgl. Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin 2011.

Angelika Seppi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor“. Sie promovierte an der Universität Wien mit einer Dissertation zum Verhältnis von Schrift und Gerechtigkeit und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zu „Form-Code-Milieu“.
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