Hans Haackes Star Gazing als Gegenbild zum Folterskandal in Abu Ghraib

Der deutsche Künstler Hans Haacke nimmt wiederholt das politische und wirtschaftliche Tagesgeschehen zum Ausgangspunkt seiner Arbeiten, um die jeweils herrschenden Machtverhältnisse kritisch zu beleuchten. Das Potenzial seines Werks Star Gazing als Gegenbild zu den Fotografien, die im Zuge der von US-amerikanischen Soldaten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib 2003 verrichteten Folterungen entstanden, ist Thema der folgenden Überlegungen.

Abb. 1: Hans Haacke, Star Gazing, 2004, Digital C-Print auf Aluminium, 127 × 24 cm, im Besitz des Künstlers.

Abb. 1: Hans Haacke, Star Gazing, 2004, Digital C-Print auf Aluminium, 127 × 24 cm, im Besitz des Künstlers.

Star Gazing, das auf Deutsch soviel wie „Sternenguckerei“ bedeutet, ist ein 127 cm hoher und 94 cm breiter Digital C-Print auf Aluminium aus dem Jahr 2004 (Abb. 1). Die Fotografie zeigt eine Person frontal im Brustbild vor schwarzem Hintergrund. Der Kopf ist jedoch nicht zu sehen, da er von einem blauen Stoffsack mit applizierten weißen Sternen verhüllt wird. Am Oberkörper trägt der Dargestellte ein rotes kurzärmeliges T-Shirt, das die Ellenbeugen am unteren Bildrand hervorblitzen lässt. Diese Inszenierung vermittelt den Anschein, als würde die Person dem Betrachter entspannt, aber teilnahmslos gegenübersitzen.

In Anbetracht der Entstehungszeit und des ersten Ausstellungskontexts kann die Arbeit als Kommentar Haackes zur Wiederwahl George W. Bushs als 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika im November 2004 verstanden werden. Star Gazing wurde im gleichen Jahr erstmals in der Ausstellung Election in der American Fine Art Gallery in New York präsentiert und anschließend auf einem der großen Billboards auf dem Times Square quasi als Werbebild gezeigt.[1]

I

Der Folterskandal in Abu Ghraib

Haackes Arbeiten setzen oftmals historische oder zeitgenössische Ereignisse als Ausgangspunkt.[2] Im Fall von Star Gazing ist es der Folterskandal im Gefängnis Abu Ghraib im Irak, der im Frühjahr 2004 durch in den Medien veröffentlichte Fotos weltweit publik wurde. Der Gefängniskomplex westlich von Bagdad wurde nach der Besetzung der Stadt durch die USA 2003 von der US-Militärpolizei kontrolliert. Diese nutzte ihn unter anderem als Militärgefängnis und „Verschiebebahnhof“ für Personen, die des Terrorismus, der Spionage und der Sabotage verdächtigt wurden sowie als Versuchslabor für die Erprobung neuer Methoden der Informations- und Geständnisermittlung.[3] Im Zuge dieser Verhörpraktiken wurden zahlreiche irakische Insassen von US-Soldaten misshandelt, vergewaltigt und – auch bis zum Tod – gefoltert. Die dabei von den Soldaten angefertigten, ‚dokumentarischen’ Fotografien zeigen Menschen in entwürdigenden Haltungen und Szenen.

Mark Halawa bezeichnet diese Folterpraktiken als „Attacken auf die Sichtbarkeit der Opfer.“[4] Das Fotografieren fungiere als „Mittel, um gleich mehrere folterstrategische Zwecke möglichst effizient zu erreichen: Zum einen wurde durch das Herstellen von Bildmaterial ein für die Tatopfer kaum noch überbietbarer schamvoller Moment apparativ dauerhaft und zirkulierbar gemacht. Zum anderen wurden die Folterungen offensichtlich bewusst so in Szene gesetzt, dass sie gezielt gegen Werte und Normen verstießen, die im überwiegend islamischen Irak vorherrschend sind.“[5] Die Gefolterten sollten also systematisch und fortdauernd in ihrem Schamempfinden verletzt werden; Sichtbarkeit wird auf diese Weise zur Qual. Damit steht für Halawa bei den Folterungen in Abu Ghraib nicht das Entlocken von Informationen, sondern die gezielte Produktion von Scham im Vordergrund.[6]

Der klassische Staatenkrieg, wie er vom 18. bis ins 20. Jahrhunderts, das heißt bis zum Kalten Krieg, praktiziert wurde, ist Herfried Münkler zufolge durch „neue Kriege“[7] abgelöst worden. Diese sind gekennzeichnet durch eine relativ kostengünstige und daher oftmals entstaatlichte Kriegsführung und bedürfen durch den Einsatz leichter (Hand-)Waffen geringer militärischer Ausbildung. Mit dieser gesteigerten Effizienz geht eine Asymmetrisierung kriegerischer Gewalt einher, sprich es treten ungleiche Parteien einander gegenüber und es werden weder Schlachtfelder abgesteckt, noch ‚Spielregeln’ eingehalten. Dies bedeutet die zunehmende Verlagerung der Gewalt in die Zivilbevölkerung, was wiederum dazu führt, dass „bestimmte Formen der Gewaltanwendung, die zuvor untergeordnete taktische Elemente einer militärischen Strategie waren“[8], selbst zur Strategie werden.[9]

Diese Merkmale der neuen Kriege finden sich auch im Folterskandal in Abu Ghraib wieder – vor allem Folter als eigentlich untergeordnetes Kriegsmittel erhält eine eigenständige strategische Dimension: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch befand, dass die Ereignisse in dem irakischen Gefängnis Resultat eines wohlüberlegten Plans der US-amerikanischen Regierung unter George W. Busch und Vize-Präsident Dick Cheney waren.[10] Wie die teilweise freigegebenen internen „Torture Papers“ dieser Regierung zeigen, wurden ab 2001 Maßnahmen eingeleitet, um Folter, illegale Verhörmethoden und das Verschleppen und Verschwinden-Lassen von Terrorverdächtigen durchzusetzen. Bush hatte schon direkt nach den Anschlägen von 9/11 angekündigt, dass sich die USA im „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht von Normen und Gepflogenheiten des internationalen Rechts einengen lassen werden.[11] Mit dem anschließend verabschiedeten „Presidential Finding“ genehmigte er, im Ausland geheime Verhörzentren zu errichten, „in denen die Vernehmer freie Hand erhielten und an keine gesetzlichen Vorschriften gebunden waren.“[12] Im „War on Terror“ sollten Informationen von den des Terrorismus verdächtigten Gefangenen so schnell wie möglich erlangt werden, um weitere Anschläge gegen US-amerikanische StaatsbürgerInnen zu verhindern.

Auch aus dem Taguba-Report, einem internen Untersuchungsbericht von Generalmajor Antonio Taguba vom März 2004, geht hervor, dass die Mitglieder der Militärpolizei die Misshandlungen nicht auf eigene Faust verübten: „Vernehmer des Militärgeheimdienstes (MI) und anderer US-Regierungsorganisationen (OGA) haben ausdrücklich darum ersucht, dass MP-Wachen die physischen und psychischen Voraussetzungen für günstige Zeugenbefragungen schufen.“[13] Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Häftlinge mit Folter und Misshandlungen „gebrochen“ werden sollen. Wie ein weiteres Strategiepapier der Bush-Regierung zeigt, wurde dafür das Konzept des „fremden ungesetzlichen Kämpfers“ („alien unlawful combatants“) entwickelt, das nicht nur die Genfer Konventionen – vor allem jene zum Schutz von Kriegsgefangenen – aushebelt, sondern auch das asymmetrische Gegenüberstehen ungleicher Gegner verdeutlicht.[14]

Der „Kapuzenmann“ als „Ikone“ des Skandals

Abb. 2: Sabrina Harmann, sogen. Kapuzenmann, 2003, Digitalfotografie der Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib (Bagdad).

Abb. 2: Sabrina Harmann, sogen. Kapuzenmann, 2003, Digitalfotografie der Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib (Bagdad).

Von den zahlreichen Aufnahmen aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis ist vor allem eine zur „Ikone“ des Skandals geworden, nämlich jene eines Gefangenen, der mit einer grauen Decke behängt auf einer Kiste steht und dessen Kopf von einer schwarzen Kapuze verdeckt wird. Seine Finger sind verkabelt, weitere Drähte kommen unter der Kapuze zum Vorschein (Abb. 2). Diese sogenannte „hooded figure“ bzw. dieser „Kapuzenmann“ ragt aus der Flut der Folterbilder heraus und gehört zu einer Serie von sechs Fotografien, die am 4. November 2003 entstanden sind.[15]

Dass es sich bei der abgebildeten Szene um einen Folterakt handelt, ist augenscheinlich. Was aus der Fotografie jedoch nicht hervorgeht – und auch dem Gefangenen nicht bewusst war –, ist, dass es sich um eine Scheinexekution handelt: Dem Häftling wurde angedroht, einen tödlichen Stromschlag zu erhalten, sobald er von der Kiste fallen würde.[16]

Die Fotografie ist eine Amateuraufnahme und erscheint wie ein Schnappschuss, verfügt aber dennoch über eine große ikonische Prägnanz. Die Bildkomposition wird von der angedeuteten Kreuzform des stehenden Körpers mit den ausgestreckten Armen bzw. der Dreiecksform aus der spitz zulaufenden Kapuze und den Armen bestimmt. Diese Reduktion auf eine geometrische Silhouette und die gleichzeitige Korrespondenz mit traditionellen christlichen Bildtypen – etwa der Wunden zeigende Christus oder der Stigmata zeigende Hl. Franziskus – sichert ihr einen hohen Wiedererkennungswert.[17] Damit stellt die symbolhafte Qualität des „Kapuzenmannes“ auch einen einfachen Anknüpfungspunkt für künstlerische Meinungsäußerungen dar, so etwa für Richard Serras Stop BS, 2004 (Abb. 3).

Abb. 3: Richard Serra, Stop BS, 2004, Lithocrayon auf Mylar, 150,5 x 121,9 cm, im Besitz des Künstlers.

Abb. 3: Richard Serra, Stop BS, 2004, Lithocrayon auf Mylar, 150,5 x 121,9 cm, im Besitz des Künstlers.

II

Kunst hat für Hans Haacke eine meinungsbildende Funktion und kann bzw. soll zur Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit beitragen. Allgemein gesprochen ist es Ziel seiner Arbeiten, den BetrachterInnen Informationen über einen realen Sachverhalt zu liefern und sie gleichzeitig zu provozieren, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich zu positionieren.[18] Damit kann Haackes Arbeitsweise in gewissem Sinn auch als journalistisch oder aufklärerisch verstanden werden – er recherchiert Fakten und bereitet diese für die RezipientInnen visuell auf. Stellt sich nun die Frage, woher Haackes Interesse für politisch agierende Kunst, für diskursive Kunst kommt. Woher rührt das demokratische Anliegen die BetrachterInnen zu bilden?

„Im Zuge der politisch bewegten 60er Jahre mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem Vietnamprotest und der ‚68er-Revolution’ reflektieren Künstler verstärkt ihre gesellschaftliche Rolle und versuchen Kunst zur oppositionellen ‚Waffe’ gegenüber Kunstinstitutionen und einer Politik zu machen, die sie nicht mittragen wollen.“[19] Was Berthold Naumann in diesem Zitat als gesamtkünstlerisches Phänomen anspricht, beginnt bei Haacke 1969 in den USA. Von nun an adressiert er seine Arbeiten an politisch denkende und handelnde Personen; er möchte „das Kunstpublikum zu einer demokratischen Öffentlichkeit formen“[20]. Er verändert seinen ästhetischen Ausdruck radikal, indem er sein Interesse an physikalischen und biologischen Systemen[21] auf soziale Systeme ausdehnt. Während frühe Arbeiten wie Gallery-Goers’ Birthplace and Residence Profile, Part 1 (1969)[22] oder Shapolsky et al. Manhattan Real-Estate Holdings, a Real Time Social System, as of May 1, 1971 (1971)[23] einen vorwiegend institutionskritischen Charakter haben, nehmen gleichzeitig unmittelbar politische Agenden Einzug in sein Werk: In MOMA-Poll (1970) im Museum of Modern Art, New York fragte Haacke die BesucherInnen in einem Wandtext, ob die Duldung der Indochina-Politik von Präsident Nixon durch Gouverneur Rockefeller für sie ein Grund wäre ihn bei der nächsten Wahl nicht zu wählen. Je nach Antwort sollte man seinen Stimmzettel in eine bestimmte Box werfen, das aktuelle Ergebnis wurde jeden Abend in einer Tabelle präsentiert. Damit forderte er die BesucherInnen auf, sich über ein bestimmtes politisches Thema Gedanken zu machen, sich zu positionieren. Zugleich untersuchte er anhand der Fragestellung die politischen Gesinnungen des typischen Museumsbesuchers und zeichnete ein Bild der sozialen Zusammensetzung des Kunstpublikums im New Yorker MoMA.[24]

Auch in seinen für den deutschsprachigen Raum konzipierten Arbeiten setzt sich Haacke fortan mit der politischen Vergangenheit der Staaten bzw. der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Verantwortung von Kulturinstitutionen auseinander, wie etwa in MANET-Projekt ’74 (1974),[25] Und Ihr habt doch gesiegt (1988)[26] oder Die Fahnen hoch! (1991).[27] In all diesen Arbeiten wählte er eine plakative Strategie um gesellschaftspolitische Missstände anzuprangern und aufzuklären. Nicht nur die Werke selbst, sondern vor allem auch die daraus resultierenden Reaktionen und Debatten, die Haacke als Teil seiner künstlerischen Arbeit betrachtet,[28] zeigen, dass es ihm immer wieder gelingt, Problematisches, Verdrängtes, Nichtaufgearbeitetes aufzuspüren. Damit stellt Provokation einen zentralen Bestandteil seiner Arbeiten dar – und Haacke scheint dabei einer recht einfachen, aber effizienten Formel zu folgen: Provokation leitet einen Skandal ein, dieser ruft eine Debatte hervor, welche Bedeutung schafft. Je skandalträchtiger ein Werk, desto wirkmächtiger – gerade auch über den Kunstbetrieb hinaus.

Neben ihren provokanten Grundzügen tragen Haackes Arbeiten stets auch eine didaktische Komponente in sich. Sie sind insofern pädagogisch, als sie Informationen nicht um ihrer selbst willen bereitstellen, „sondern um anderen die Freiheit zu geben, die Wahrheit zu entdecken“[29], wie Rosalyn Deutsche schreibt. Was etwas pathetisch klingt, meint einfach, dass die Kunst für Haacke ein Ausdrucksmittel ist, um auf Machtkonstellationen aufmerksam zu machen, diese zu hinterfragen und seine Betrachter auf ihre eigene Mündigkeit hinzuweisen. „A democratic society must promote critical thinking, including a constant critique of itself. Without it, democracy will not survive“[30], wie Haacke 1995 in einem Gespräch mit Pierre Bourdieu sagte.[31]

III

In Star Gazing greift Haacke auf die Bilderinnerung der Fotografien aus Abu Ghraib im kollektiven Gedächtnis zurück und kodiert diese gespeicherte Inszenierung um.[32] Der Stoffsack, der für die gesichtslose Anonymität und Blindheit des Folteropfers sorgen soll, wird durch die weißen Sterne mit der US-amerikanischen Flagge als Zeichen für Souveränität und Freiheit verschmolzen. Durch diese bildliche Ineinssetzung von Folterer und Opfer stellt sich die Frage, wer hier der Akteur ist. Während der verhüllte Kopf den/die BürgerIn einerseits zum leidenden Opfer der Landespolitik stilisiert und die Position eines von Politik und Medien geformten „Normalbürgers“ parodiert, deuten die entspannte und gelassene Körperhaltung sowie der Titel des Werks andererseits eine gewisse Mittäterschaft an. „Sternenguckerei“ erklärt ihn/sie zu einem/einer in die Sterne schauenden US-AmerikanerIn, der/die sich der Verhüllung nicht entledigen kann oder will.[33]

Star Gazing versinnbildlicht damit, wie der Folterskandal in Abu Ghraib bzw. der Krieg im Irak im Allgemeinen mit den US-amerikanischen BürgerInnen zuhause im eigenen Land verknüpft ist, und wie diese Ereignisse daher jeden und jede auch persönlich betreffen. Diese Wechselbeziehung zwischen Opfern und Tätern zu veranschaulichen und damit den Irakkrieg als Angelegenheit der US-amerikanischen Gesellschaft zu vergegenwärtigen, macht den diskursiven Gehalt des Werks aus.

Indem Haacke auf den Bildaufbau des „Kapuzenmannes“ zurückgreift, aber die Symbolsprache verschiebt, wird Star Gazing zum Gegenbild, das Petra Maria Meyer als „Suchbegriff für einen ungewöhnlichen Umgang mit menschlichen Leiden in Kriegen und durch Kriege“[34] beschreibt: „Seine Funktion kann innerhalb der Gedächtniskultur im Sinne von Aleida und Jan Assmann als kritische ‚Gegenerinnerung’ verstanden werden, die als Delegitimierung bestehender Herrschaftszusammenhänge und Machtverhältnisse innerhalb des Funktionsgedächtnisses einer Kultur wirkt.“[35] Träger dieser kritischen Gegenerinnerung sind „die Besiegten und Unterdrückten“[36] bzw. ihnen solidarisch Gesinnte, welche sich die vormals gegen sie eingesetzten Praktiken aneignen und in nur marginal veränderter Form weiterverwenden.[37] Gegenbilder sind also Gegenplatzierungen oder Gegenentwürfe, die mit den gleichen Mitteln arbeiten. Sie sind Bilder unter entgegengesetzten Vorzeichen.

Star Gazing bleibt mit der frontalen Ansicht und dem von einem Sack verhüllten Kopf nahe an der Vorlage des „Kapuzenmannes,“ vermeidet aber die Übernahme der markanten Pose mit den zur Seite gestreckten Armen. Stattdessen ist die Arbeit eigenständig genug, um Raum für weitere Assoziationen zu eröffnen. So erinnern der Bildausschnitt und die Haltung des „Star Gazer“ etwa an die Ausweisfotos von Soldaten, und die Kapuze mag auf das Internierungslager auf Guantanamo ebenso gut passen wie auf allzu patriotischen Gehorsam.

In Hinblick auf die von der US-Regierung bewusst gewählte Kriegsstrategie der systematischen Folter zeigt Haacke in Star Gazing jedoch nicht mehr als ohnehin schon – wenn auch indirekt – in den vielschichtigen Fotografien aus Abu Ghraib angelegt war: Dokumentieren die Aufnahmen auf einer ersten Ebene das, was im Gefängnis passierte, so offenbaren sie in einer zweiten, weitreichenderen Bedeutungsdimension „das System hinter dem System,“[38] das solche Bilder ermöglichte bzw. gar begünstigte. Diesen Umstand kehrt Haacke in seinem Werk, das als Gegenbild dem/der US-amerikanischen BürgerIn ein Pflichtbewusstsein abringen und ihn/sie zu ethischem Verhalten aufrufen will, explizit hervor. Dabei zeigt er jedoch kein Bild, das durch seine Grausamkeit die voyeuristische Lust am Betrachten des Brutalen wecken und durch ein ausgelöstes Gefühl des Schocks das Geschehene in große Distanz rücken könnte.[39] Er präsentiert vielmehr auf symbolische und vermittelte Weise Gewalt, Leid, Schmerz und Entsetzen und trägt vor allem der Unmöglichkeit Rechnung, die unzähligen begangenen Gewalttaten und die damit verbundenen menschlichen Traumata und Schicksale künstlerisch zu erfassen. Zudem zielt er damit auf eine reflexive Haltung anstatt einer „bloßen“ emotionalen Erschütterung und Überforderung ab. Als Gegenbild versteht sich Star Gazing damit als widerständige Haltung, die aufklären und den „in die Sterne schauenden“ US-AmerikanerInnen die Augen öffnen will – jedoch nicht aus einer besserwisserischen Position heraus, sondern aus einer verantwortungsbewussten.


[1] Vgl. Magdalena Kröner, New York nach 9/11. Political Landscapes. Eine Ortsbeschreibung, in: Kunstforum International, Band 189,  Jan. – Feb. 2008, S. 43 – 83, hier: S. 68.

[2] Vgl. etwa Manet-PROJEKT ’74 (1974), Die prognostische Erkenntnistheorie des Gewährbietens, dargestellt am Beispiel des Ausbildungsverbots der Christine Fischer-Defoy (1976), A Breed Apart (1978), Oelgemaelde, Hommage à Marcel Broodthaers (1982), U.S. Isolation Box, Grenada (1983), Und Ihr habt doch gesiegt (1988), Die Fahnen hoch! (1991), Germania (1993) und Der Bevölkerung (2000).

[3] Vgl. Gerhard Paul, Der Kapuzenmann, in: ders. (Hg.), BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 601 – 627, hier: S. 602.

[4] Mark A. Halawa, Betroffene Sichtbarkeiten – Abu Ghraib und die Gewalt des Blicks, in: Mauerschau, 2/2008, S. 7 – 24, hier: S. 18.

[5] Ebd.

[6] Vgl. ebd., S. 20.

[7] Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 9.

[8] Ebd. S. 11.

[9] Vgl. ebd., S. 7 – 11.

[10] Vgl. Human Rights Watch, The Road to Abu Ghraib, Bericht veröffentlicht am 8. Juni 2004, URL: https://www.hrw.org/report/2004/06/08/road-abu-ghraib [22.09.2015].

[11] Vgl. Alexander Bahar, Auf dem Weg in eine neues Mittelalter? Folter im 21. Jahrhundert, München 2009, S. 57 – 59.

[12] Seymour M. Hersh, Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib, Reinbek 2004, S. 35.

[13] Taguba-Report 2004, S. 12, zit. nach: Bahar 2009, S. 113.

[14] Vgl. Bahar 2009, S. 65 und S. 113.

[15] Vgl. Werner Binder, Abu Ghraib und die Folgen. Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror, Bielefeld 2013, S. 295.

[16] Vgl. Paul 2013, S. 603.

[17] Vgl. Sarah Boxer, „Torture Incarnate, and Propped on a Pedestal“, The New York Times, 13. Juni 2004, (URL: http://www.nytimes.com/2004/06/13/weekinreview/the-world-torture-incarnate-and-propped-on-a-pedestal.html, 04.03.2015).

[18] Vgl. Berthold Naumann, Rationalität und Innerlichkeit. Strategien des Umgangs mit der gesellschaftlichen Realität im Werk von Hans Haacke, K.H. Hödicke, Matt Mullican und Werner Tübke, Weimar 1997, S. 31f.

[19] Naumann 1997, S. 80.

[20] Rosalyn Deutsche, Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, in: Akademie der Bildenden Künste Berlin/Deichtorhallen Hamburg (Hg.), Hans Haacke. Wirklich. Werke 1959-2006, Düsseldorf 2006, S. 62 – 79, hier S. 64.

[21] Vgl. etwa A8-61 (1961), Kondensationswürfel (1963/65), Blaues Segel (1964/65) und Große Welle (1965).

[22] Bei dem in der Howard Wise-Gallery in New York stattfindenden Projekt Gallery-Goers’ Birthplace and Residence Profile, Part 1 bat Haacke die Ausstellungsbesucher, ihren Geburts- und Wohnort mit unterschiedlichen Nadeln auf einem großen Stadtplan an der Wand zu markieren. Damit steht die soziale Welt als Studiengegenstand im Zentrum der Arbeit.

[23] Shapolsky et al., das die kurzfristige Absage einer Einzelausstellung Haackes im Solomon R. Guggenheim Museum in New York 1971 nach sich zog, besteht aus Gebäudefotos, Tabellen von geschäftlichen Transaktionen und Plänen von Harlem und der Lower East Side. Texte beschreiben die Lage der dargestellten Häuser und die sie betreffenden Finanztransaktionen durch die Shapolsky-Immobiliengruppe. Haacke dokumentierte damit unlautere Praktiken und Geschäfte der Immobilienspekulation, die von der Justiz erstaunlich nachsichtig behandelt wurden.

[24] Haacke führte seitdem immer wieder derartige Umfragen durch, die jüngste bei der diesjährigen Biennale in Venedig. Im zentralen Pavillon der Giardini befragt er die Besucher in der World Poll via Ipad zu sozialer Ungleichheit oder zu Bedingungen für Bauvorhaben in Abu Dhabi. Die ermittelten Ergebnisse werden für alle sichtbar in Echtzeit an die Wand projiziert.

[25] Im MANET-Projekt ’74, das ursprünglich für das Wallraff-Richartz-Museum in Köln konzipiert war, erläuterte Haacke die Provenienz von Edouard Manets Spargel-Stilleben (1880), den Erwerb des Werks für die Sammlung durch den damaligen Fördervereinsvorsitzenden und Bankier Hermann Josef Abs sowie dessen Verstrickungen in Zwangsenteignungen und Beschäftigung von Zwangsarbeitern während des Nationalsozialismus. Dass Haackes Projekt wenige Tage vor der Eröffnung aus der Ausstellung ausgeschlossen wurde, zeigt wie wenig beleuchtet die Angelegenheit war und wie empfindlich man daher auf sie reagierte.

[26] Unter dem Titel Und Ihr habt doch gesiegt rekonstruierte Haacke für den Steirischen Herbst in Graz ein 1938 anlässlich des von Hitler verliehenen Ehrentitels „Stadt der Volkerhebung“ errichtetes Monument als Mahnmal für die Opfer des Regimes. Als mit einer Feuerschale bekrönter, roter Obelisk originalgetreu nachgebildet, ist Haackes einziger Eingriff in die nationalsozialistische Ästhetik eine Auflistung der Opferzahlen sowie eine Plakatwand mit Faksimiles von Ausschnitten aus Grazer Zeitungen aus dem Jahr 1938.

[27] Die Installation Die Fahnen hoch! konzipierte Haacke 1991 vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkriegs auf dem Königsplatz in München, einem zentralen Platz für Versammlungen der Nationalsozialisten. Darin setzt er mit drei schwarzen Bannern mit dem SS-Totenkopf und dem Schriftzug „Zum Appell: Deutsche Industrie im Irak“ sowie mit einer Liste mit Namen von deutschen Unternehmen die wirtschaftliche Unterstützung heimischer Firmen sowohl Adolf Hitlers als auch Saddam Husseins in Beziehung. Das Projekt hatte ein juristisches Nachspiel: Die auf den Fahnen erwähnte Ruhrgas AG erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen die Nennung ihres Namens, da nicht sie, sondern ein Tochterunternehmen mit dem Irak Geschäfte gemacht hatte.

[28] Vgl. Sabine Breitwieser, Hans Haacke – Eine Ausstellung in Österreich, in: Generali Foundation Wien (Hg.), Mia san mia. Hans Haacke, Dresden/Wien 2001, S. 15 – 25, hier: S. 21.

[29] Deutsche 2006, S. 73 f.

[30] Pierre Bourdieu/Hans Haacke, Free Exchange, Cambridge 1995, S. 54.

[31] Bezüglich Haackes Sensibilität für ein mögliches Aufkommen antidemokratischer Tendenzen in Demokratien verweist Rosalyn Deutsche auf seine Erfahrungen als Jugendlicher im post-nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. Deutsche 2006, S. 64.

[32] Vgl. Petra Maria Meyer, Vom Bild zum Gegenbild. Einleitender Problemaufriss, in: dies. (Hg.), Gegenbilder. Zu abweichenden Strategien der Kriegsdarstellung, München 2009, S. 35 – 82, hier: S. 75.

[33] Vgl. William J. T. Mitchell, Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, Berlin 2011, S. 160.

[34] Meyer 2009, S. 53.

[35] Ebd.

[36] Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 139.

[37] Vgl. ebd.

[38] Mitchell 2011, S. 159.

[39] Vgl. Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, München/Wien 2003, S. 104.

Iris Hasler studiert Moderne und Zeitgenössische Kunst im Master an der Ruhr-Universität Bochum. Den Bachelor in Kunstgeschichte absolvierte sie an der Universität Wien. Sie arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Kunstgeschichtlichen Institut und in den Kunstsammlungen der Ruhr-Universität.
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