Albert Oehlen – postungegenständliche Abstraktion

In seiner langjährigen und ernsthaften Auseinandersetzung mit der Malerei unternimmt Albert Oehlen den Versuch, Aktualität und Relevanz eines im Laufe des 20. Jahrhunderts von allen möglichen Seiten unter Druck und in Verruf geratenen Mediums zu restituieren. Eine Anzahl von Retrospektiven gab in den vergangenen Jahren Anlass, dies unter Beweis zu stellen. Im Begleittext zur Ausstellung Albert Oehlen – Malerei, welche 2013 im Wiener mumok zu sehen war, liest man: „Er versucht, der totgesagten Malerei ihre Frische und Komplexität zurückzugeben, indem er die Angriffe und Polemiken auf ihre Tradition nicht beiseite schiebt, sondern das Bild zu ihrem lebendigen Austragungsort werden lässt.“[1] An einer anderen Stelle des Textes wird Oehlens bildimmanente Wiederbelebung der Malerei mit Verweis auf eine Serie von „Baumbildern“ aus den späten 1980er-Jahren exemplarisch veranschaulicht. Sie markierten, so heißt es, in seinem Schaffen den Wendepunkt hin zur abstrakten Malerei. Die zwischen Ungegenständlichkeit und Figuration changierenden Gemälde würden eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der abstrakten Malerei darstellen und sich auf Mondrians Ableitung totaler Abstraktion aus den konkreten Formen der Natur beziehen: „Oehlens Bilder sind weniger ein respektloser Rekurs auf die Ursprünge abstrakter Kunst, sondern stellen sich gegen die Vorstellung einer einseitigen Entwicklung im Sinne Mondrians, indem sie zeigen, dass der Weg Abstraktion – Figuration in beide Richtungen gegangen werden kann.“[2]

Abb. 1: Albert Oehlen, The Critic Sees, 1988, Öl auf Leinen, 200 x 380 cm.

Abb. 1: Albert Oehlen, The Critic Sees, 1988, Öl auf Leinen, 200 x 380 cm.

Angesichts solcher Charakterisierungen kann der Eindruck entstehen, Oehlens kritische Auseinandersetzung mit den modernistischen (Selbst-)Beschränkungen der Malerei bestehe lediglich in einer paradoxalen, bildimmanenten Zusammenführung von als dichotom vorausgesetzten,  gegenständlichen und ungegenständlichen Formelementen. Doch wenn man Oehlens Malerei ernst nehmen möchte, sollte gerade sein kontinuierliches Interesse an abstrakter Malerei – besser gesagt, an unterschiedlichen, teils sehr widersprüchlichen Konzeptionen von Abstraktion in der Malerei und deren normativen Gehalten – dazu anregen, es angesichts seiner Werke nicht dabei bewenden zu lassen, an ihnen offensichtliche Referenzen (wie jene auf Mondrian) und konfliktträchtige Synthesen von Gegenständlichem und Ungegenständlichem festzustellen. Anstatt dieses Gegensatzpaar und damit ein bestimmtes Vorverständnis von Abstraktion in der Beschreibung seiner Bilder vorauszusetzen, gilt es zu verstehen, in welchen verschiedenen Konstellationen die Begriffe zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen darüber anstellen, inwiefern künstlerische Praxis und Äußerungen des Malers einen Beitrag zur Neubestimmung von malerischer Abstraktion leisten können. Dabei nähere ich mich auf begrifflicher Ebene der Malerei Oehlens und versuche seiner künstlerischen Artikulation einer bestimmten Auffassung von abstrakter Malerei im Unterschied zu anderen Profil zu geben. Dies geschieht vor der Hintergrundfolie paradigmatischer moderner Konzeptionen von Abstraktion, wobei ich mich hierbei an eine Diskussion der Positionen von Clement Greenberg und Piet Mondrian halte.

Abstrahierung und Ungegenständlichkeit

In einem Interview aus dem Jahr 2010 äußert sich Albert Oehlen rückblickend über sein gesamtes bisheriges Schaffen:

„Dabei […] habe ich doch immer abstrakte Malerei betrieben, auch wenn mal was Gegenständliches herumirrte. Es gab verschiedene Phasen, einverstanden, aber letztlich bin ich bei etwas angekommen, was dem deutschen Informell recht nahekommt und wohl auch dem amerikanischen abstrakten Expressionismus – mit ganz anderer Bedeutung. […] Zumindest geht es nicht mehr um große Stimmungen, große Gefühle. Alles ist cooler geworden. Es geht um Farbe, Leinwand, Format, Hände, um mehr nicht. Es gibt nichts darzustellen, es gibt nur die Bewegung. Arm, Schulter, Hand. Und plötzlich wird einem immer klarer: Was auf den ersten Blick wie totale Freiheit aussieht, ist doch nur die Freiheit in der Gebundenheit.“[3]

Abb. 2: Albert Oehlen, Sturmschaden, 1981, Lack auf Leinwand, 110 x 150 cm.

Abb. 2: Albert Oehlen, Sturmschaden, 1981, Lack auf Leinwand, 110 x 150 cm.

Diese Aussage bedarf einer Erklärung. Denn ein synoptischer Blick auf Oehlens Bilder bis Ende der 1980er-Jahre lässt die Behauptung, es hätte sich auch bei diesen schon um abstrakte Malerei gehandelt, fragwürdig erscheinen. Nicht nur, dass es den Betrachtenden der frühen Werke Oehlens oft nur allzu leicht gemacht wird, figurative Elemente vor einem oft gestisch-expressiven Hintergrund zu identifizieren; darüber hinaus scheinen auch die Titel vieler Bilder aus dieser Schaffensperiode den figurativen oder narrativen Gehalt derselben hervorzuheben (vgl. Abb. 3) und diesen selbst dort noch zu retten, wo sich die Gegenständlichkeit des Gemäldes nicht auf den ersten Blick erschließt. In dem Bild Sturmschaden von 1981 (Abb. 2) gibt etwa – zieht man den Titel als Legende heran – jenes Geflecht aus sich überkreuzenden, gestischen Farbbahnen, die den Vordergrund eines zunächst sehr abstrakt erscheinenden Bildraumes bilden, offenbar einen geknickten und entlaubten Baum in verwüsteter Szenerie zu erkennen.

Abb. 3: Albert Oehlen, Selbstportrait mit verschissener Unterhose und blauer Mauritius, 1984, 110 x 150 cm.

Abb. 3: Albert Oehlen, Selbstportrait mit verschissener Unterhose und blauer Mauritius, 1984, 110 x 150 cm.

Möchte man Oehlen nicht des Fehlers bezichtigen, sein eigenes Frühwerk zu vergessen, wenn er behauptet, er habe „doch immer abstrakte Malerei betrieben“, dann gilt es zu überlegen, in welchem Sinn der Begriff „Abstraktion“ im Kontext der Aussage und in Bezug auf das gesamte Werk des Malers verstanden werden kann. Zwei provisorische Ansatzpunkte bieten sich dafür an, von denen sich beide jedoch als letztlich unbefriedigend, wenn auch in gewissen Hinsichten als erhellend erweisen. Zunächst kann man sich auf eine weitere Aussage Oehlens stützen, in der von Abstraktion als Grundkonstante von (gegenständlicher) Malerei die Rede ist: „In der Malerei hat man ja einen völlig absurden Vorgang. Man hat, was dreidimensional ist, auf zwei Dimensionen gestutzt, und das ist Abstraktion. Ohne dieses Abstrahieren würde man ja versuchen, das Bildobjekt selber zu bemalen, oder versuchen, dieses Objekt selber zu werden…“[4]

Wie es scheint, wird hier in einem beinahe trivialen Sinn von Abstraktion gesprochen, insofern diese auf gegenständliche Bilder insgesamt zutrifft. „Abstraktion“ steht hier für nicht mehr und nicht weniger als das Absehen von bestimmten Eigenschaften (hier der Körperlichkeit) eines Gegenstandes bei der Herstellung seiner bildhaften Darstellung. Die Skulptur unterscheidet sich unter diesem Aspekt insofern von der Malerei, als sie als Abbild irgendeines Gegenstandes – unter welchen proportionalen Deformationen oder stofflichen Abweichungen auch immer – nicht von dessen Körperlichkeit abstrahiert. Zugleich muss aber auch sie, um ein konkretes Objekt zur Darstellung zu bringen, von einer ganzen Reihe anderer Eigenschaften desselben absehen. Um in mimetischer Hinsicht einen realen Gegenstand oder Sachverhalt erfolgreich in ein (skulpturales oder zweidimensionales) Bild „zu verwandeln“, muss von unbestimmt großen Menge an physikalischen Eigenschaften wie Materialität, Dichte, Temperatur, Gewicht, raumzeitlicher Verortung und so weiter abgesehen werden. Wollte man im Prozess der Bildherstellung auf solche „Abstrahierung“ – wie Abstraktion in dieser, von der Idee der Mimesis geprägten Auffassung im Weiteren zur terminologischen Klärung heißen soll – verzichten, würde notgedrungen vielmehr eine exakte Kopie, ein Imitat oder ein Klon dessen, was eigentlich als Vorlage für ein Bild dienen sollte, entstehen. Doch nicht nur bezüglich rein physikalischer oder optischer Eigenschaften der Bildvorlage, sondern auch solcher, welche die Identität derselben in anderen Hinsichten bestimmen, muss in der Bildherstellung Abstrahierung stattfinden. Das Porträt einer Person kann – wie Nelson Goodman in Languages of Art in seinem Argument gegen Repräsentation als Mimesis behauptet – diese immer nur in gewissen Hinsichten – als eine/n „so-und-so“ – darstellen und muss sogar in dem Versuch, sämtliche möglichen Eigenschaften derselben im Bild zu erhalten, als Darstellung eines bestimmten (oder überhaupt irgendeines) Menschen fehlschlagen:

„[…] for the object before me is a man, a swarm of atoms, a complex of cells, a fidler, a friend, a fool, and much more. If none of these constitute the object as it is, what else might? If all are ways the object is, then none is THE right way the object is. I cannot copy all these at once; and the more nearly I succeed, the less would the result be a realistic picture.“[5]

Abgesehen davon, dass Oehlen in dem obigen Zitat mit Augenzwinkern bloß den naiven Vertreter einer mimetischen Konzeption von Malerei spielt, würde die Behauptung, er habe immer abstrakte Malerei betrieben (diesmal in Hinblick auf seine späteren, ungegenständlicheren Werke) in dieser Perspektive keinen Sinn machen. Zudem ließen sich unter dem Aspekt von Abstraktion als Abstrahierung seine frühen Werke von keiner Art von Malerei unterscheiden, die im geläufigen Sinne als „gegenständlich“ gilt; scheint die eben skizzierte Auffassung doch zu implizieren, dass sie sich ausschließlich auf gegenständliche Bilder anwenden lässt. Man müsste sich jedenfalls den Kopf darüber zerbrechen, was überhaupt damit gemeint sein könnte, wenn man von Abstrahierung in Bezug auf Bilder sprechen wollte, welche sich partout nicht als gegenständliche Abbildungen betrachten lassen. Man könnte sogar darauf bestehen, dass zusammen mit dem Einzug radikaler Ungegenständlichkeit in die Malerei, also der Preisgabe von figurativer Darstellung im weitesten Sinne (wie dies etwa bei den amerikanischen abstrakten Expressionisten, VertreterInnen des Informel oder der Farbfeldmalerei der Fall wäre), jene Abstrahierung, die zum Beispiel in der Aufhebung von Dreidimensionalität in einem flachen Bild besteht, obsolet wird. Viele Gemälde von Frank Stella, Joan Mitchell oder Jackson Pollock sind nicht abstrakt, weil sie flach sind, sondern weil sie prinzipiell von aller mimetischen Bezugnahme auf Gegenstände „abstrahieren“. Da es hier in der Verwendung des Begriffs „Abstraktion“ sozusagen zu einem Wechsel im Register kommt, wäre es sinnvoll, zwischen „Abstrahierung“ im vorhin besprochenen Sinn einerseits und „Ungegenständlichkeit“ andererseits zu differenzieren.

Wenn man diesem Vorschlag folgen möchte, lässt sich auch ersehen, dass es in der Kunstkritik des 20. Jahrhunderts, und insbesondere in Diskussionen zur Medienspezifik ausgehend von gewissen Tendenzen in der modernen Malerei bisweilen zu Vermischungen und Verwechslungen dieser verschiedenen Verständnisse von „Abstraktion“ kommt. Dies mag in besonders prominenter Weise auf Clement Greenbergs Versuch einer medienspezifischen Herleitung der ungegenständlichen Malerei aus der Flächigkeit des Mediums (welche sich aus den physischen Beschaffenheiten des Bildträgers, also der Leinwand beziehungsweise der Tafel ergibt) zutreffen. Wenn Greenberg argumentiert, dass die Malerei in der illusionistischen Generierung eines Bildraumes ihre wesentlichen, medienspezifischen Eigenschaften, allen voran ihre Flächigkeit, negiert und erst in der radikalen Betonung der Bildoberfläche und zuletzt in absoluter Ungegenständlichkeit zu sich selbst findet, scheint er ein (genealogisches) Kontinuum innerhalb der Abstraktion – einmal als „Abstrahierung“ und einmal als „Ungegenständlichkeit“ – vorauszusetzen; was bei genauerer Betrachtung jedoch nicht aufrecht zu erhalten ist. Um es entlang der von Wolfram Pichler und Ralph Ubl[6] jüngst vorgeschlagenen bildtheoretischen Terminologie zu formulieren: In illusionistischer Malerei besteht Abstrahierung von Räumlichkeit darin, dass ein flaches Bildvehikel (eine gemalte Oberfläche) geschaffen wird, in welcher ein dreidimensionales Bildobjekt visuell zur Erscheinung kommt. Dieses kann – muss jedoch nicht – einige seiner Eigenschaften mit dem Bildvehikel, in welchem es von kompetenten BetrachterInnen erkannt werden kann, teilen. Ein Glas kann – muss jedoch nicht – in einer transparenten Farbschicht gemalt, ein räumliches Objekt kann – muss jedoch nicht – in einer selbst plastisch modellierten Oberfläche zur Erscheinung gebracht werden. Die Abstraktionsleistung bezüglich der Räumlichkeit eines dargestellten Gegenstandes ergibt sich sozusagen aus dem Unterschied in der Dimensionalität von Bildvehikel und Bildobjekt, wobei gesagt werden kann, dass jene überhaupt nur in dem Maße gelingt als die Gestaltung des zweidimensionalen Vehikels das Erscheinen eines dreidimensionalen Objektes begünstigt.

Greenberg hingegen behauptet, Abstraktion (womit er eigentlich vollständige Ungegenständlichkeit intendiert) bestehe darin, dass sich die Zweidimensionalität/Flächigkeit des Bildträgers[7] auf das „Bildobjekt“, also auf das, was in einer gestalteten Fläche potenziell zur Erscheinung kommt, überträgt und letztlich sein Erscheinen in der Oberfläche gänzlich untergräbt. Seine Auffassung von Abstraktion ist dadurch charakterisiert, dass sie der Flächigkeit des Mediums gemäß der illusionistischen Darstellung wesensmäßig widerstrebt anstatt diese (wie in der skizzierten mimetischen Konzeption) zu begründen, und dass es in der modernen Malerei gilt, die immer schon statthabende Abstraktion (in einer Art aufklärerischen Geste) in die totale Flächigkeit des Mediums zu überführen. Es scheint jedoch illegitim, jene Abstraktion (Abstrahierung), welche seit jeher von gegenständlicher Malerei betrieben wird, als inkonsequente, unaufgeklärte Ausführung einer radikalen Abstraktion (Ungegenständlichkeit) und damit als eine Kontinuität zwischen den beiden Begriffen zu konstruieren. Diese suggeriert Greenberg jedoch an mehreren Stellen seiner Schriften, wie etwa an folgender:

“Die realistische oder naturalistische Kunst pflegte das Medium zu verleugnen, ihr Ziel war es, die Kunst mittels der Kunst zu verbergen; der Modernismus wollte mittels der Kunst auf die Kunst aufmerksam machen. Die einschränkenden Bedingungen, die das Medium der Malerei definiert – die plane Oberfläche, die Form des Bildträgers, die Eigenschaften der Pigmente –, wurden von den alten Meistern als negative Faktoren behandelt, die allenfalls indirekt eingestanden werden durften. […] Die Betonung der unvermeidlichen Flächigkeit des Bildträgers war jedoch für die Selbstkritik und Selbstdefinition der modernistischen Malerei fundamentaler als alles andere. Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen. […] so führte die kubistische Gegenrevolution schließlich zu einer Malerei, die flächiger ist als die gesamte westliche Malerei seit Giotto und Cimabue – so flächig, daß sie kaum noch einem erkennbaren Bildmotiv Raum bieten kann.”[8]

Postungegenständliche Malerei

Wenn Oehlen in dem eingangs angeführten Zitat die immer schon vorherrschende Abstraktion seiner Malerei vereinzelten figurativen Elementen gegenüberstellt („…auch wenn mal was Gegenständliches herumirrte…“), scheint er darin also ganz jener modernistischen Sichtweise treu zu bleiben, welche Abstraktion als Ungegenständlichkeit in strikter Dichotomie zur illusionistischen Gegenständlichkeit in der Malerei begreifen möchte. Das „Herumirren“ kann uns auf diesem Weg zu einem zweiten Ansatz für ein adäquates Verständnis von Abstraktion in Bezug auf Oehlens Malerei hinleiten: Vielleicht, so wäre zu vermuten, denkt Oehlen, seine Gemälde hätten sich immer schon aus ungegenständlichen und figurativen Elementen zusammengesetzt. Zugleich habe jedoch die abstrakte Komponente seiner Bilder seit jeher deren eigentliche Substanz und (bildlichen wie auch intentionalen) Hintergrund ausgemacht. So gesehen wäre Ungegenständlichkeit stets, wenn auch nicht durchwegs vordergründig, für seine Malerei essenziell gewesen, und hätte erst nach einem Prozess der Purifikation als Kern seines künstlerischen Programms zum Vorschein kommen können. Und tatsächlich könnte man in vielen der Werke, welche vor 1990 entstanden, wunderbar ungegenständliche Gemälde erkennen, sobald man nur deren Bildhintergründe beachtet und zu ignorieren versucht, was vor diesen so alles „herumirrt“.

Abb. 4: Albert Oehlen, FN 23, 1990, Öl auf Leinwand, 214 x 214 cm.

Abb. 4: Albert Oehlen, FN 23, 1990, Öl auf Leinwand, 214 x 214 cm.

Doch auch dieses Verständnis von Abstraktion in Bezug auf Oehlens Malerei ist nicht zufriedenstellend. Es ist schwer zu glauben, dass Oehlen seine eigene Entwicklung ernsthaft in Analogie zu einem progressiven Weg aus der Gegenständlichkeit in die Ungegenständlichkeit begreift, den der Kanon der modernen Kunst und Kunstgeschichtsschreibung vor ihm mehrfach durchschritten hat, auch wenn er in einem Interview mit dieser Selbstcharakterisierung kokettiert.[9] Es wäre nicht schlüssig, den Begriff „abstrakt“ im Sinne einer vollständigen Überwindung von Gegenständlichkeit in einer Beschreibung von Oehlens Malerei, weder vor noch nach den frühen 1990-er Jahren, anzuwenden, da in ihr Abstraktion wohl kaum als Flucht- oder Endpunkt einer progressiven Entwicklung figuriert, wie das etwa im Werk Piet Mondrians exemplarisch der Fall war. Die Verfehlung einer solchen Charakterisierung zeichnet sich an einem Begriff ab, den Oehlen seit den frühen 1990-er Jahren konstant heranzieht, um sein Programm zu umschreiben: postungegenständliche Malerei. Die Kontrastierung gerade mit Mondrians Verständnis von Abstraktion kann, wie ich im Weiteren zeigen möchte, besonders instruktiv sein.

Die Formel „postungegenständliche Malerei“ klingt aus modernistischer Perspektive besonders absurd. Schließlich steht das Wort „ungegenständlich“, das häufig synonym mit „abstrakt“ gebraucht wird, spätestens seit Mondrian in Verbindung mit einer spezifischen Fortschrittslogik. Sie beruht auf der Ansicht, dass in der Entwicklung der modernen Kunst ungegenständliche Formgebung auf einer höheren und reineren Stufe alle Gegenständlichkeit ablöst, da sich in ersterer ästhetische Empfindungen von KünstlerIn wie BetrachterIn in unmittelbarerer Weise manifestieren als in letzterer, wo das Kunstwerk von narrativen Gehalten überlagert wird. Mondrian formuliert sein Glaubensbekenntnis zur selbstreinigenden Kraft moderner Kunst unter anderem in dem 1937 erschienen Aufsatz Plastic Art and Pure Plastic Art (Figurative Art and Non-Figurative Art) folgendermaßen:

„Gradually art is purifying its plastic means and thus bringing out the relationships between them. Thus in our day, two main tendencies appear: the one maintains figuration, the other eliminates it. […] Figurative art of today is the outcome of the figurative art of the past, and non-figurative art is the outcome of the figurative art of today. […] One can rightly speak of an evolution in plastic art. It is of the greatest importance to note this fact, for it reveals the true way of art; the only path along which we can advance.“[10]

In dieser Vorstellung von Purifikation der bildenden Kunst kommt Mondrians Hoffnung zum Ausdruck, dass Abstraktion im Sinne der Verungegenständlichung ein irreversibler Prozess sein könnte. Zudem wird ein mögliches Ende dieser Tendenz in Aussicht gestellt, von dem aus keine substanzielle Steigerung in der Kunst vorstellbar wäre: absolute Abstraktion. Auf dieses non plus ultra der Ungegenständlichkeit referiert das „post“ in Oehlens Begriff auf ironische und zugleich ernsthafte Weise. Jedoch nicht einfach in einer temporalen oder restaurativen Bedeutung: Natürlich kann, nachdem alle bereits ungegenständlich malen, immer noch jemand wie ein Fremdkörper im Pantheon abstrakter Kunst wieder figurativ malen oder alles vermischen, wie Oehlen dies zu Beginn seiner Entwicklung getan zu haben scheint. Doch an einer Rehabilitation der Gegenständlichkeit kann dem Maler angesichts seiner Selbstbeschreibung als Maler der Abstraktion nicht gelegen sein; würde es doch etwas eigenwillig anmuten, sich der „Postungegenständlichkeit“ just in dem Moment zu verschreiben, wo Ungegenständlichkeit im eigenen Werk eine größere, wenn nicht die Hauptrolle zu spielen beginnt. Spätestens an diesem Punkt sollte klar werden, dass das „post“ in Oehlens Formel vielmehr den Versuch der malerisch-konzeptuellen Revision gängiger Verständnisse von Abstraktion anzeigt, welche Abstraktion mit Ungegenständlichkeit in eins setzen.[11] Nun muss noch verdeutlicht werden, welche normativen ästhetischen Positionen genau in Gestalt des Abstraktionsbegriffs überwunden oder revidiert werden sollen, welches Ende einer Entwicklung der Malerei/Kunst mit dem Begriff der Abstraktion bei Mondrian etwa markiert und beschrieben wird.

Absolute Ungegenständlichkeit

Mondrian behauptet in dem obigen Zitat nicht nur einen Fortschritt von Figuration zu Abstraktion, er deutet zudem an, dass es sich bei diesen Gegensätzen auf rein formal-ästhetischer Ebene um distinkte sowie konträre Tendenzen handle. Mondrian begreift Abstraktion tatsächlich als eines von zwei Extremen eines Kontinuums in den Formen der bildenden Künste; und er ordnet diesen konträren Tendenzen der Formgebung weitere Gegensatzpaare zu: vom Gegenständlichen zum Ungegenständlichen, vom Konkreten zum Abstrakten, vom Partikulären zum Universellen. Es stellt sich heraus, dass es nicht leicht ist, diese Oppositionspaare im Gleichgewicht zu halten.

Abb. 5: Albert Oehlen, Akkordeon, 1997, Öl auf Leinwand, 143 x 239 cm, Berlin, Galerie Max Hetzler.

Abb. 5: Albert Oehlen, Akkordeon, 1997, Öl auf Leinwand, 143 x 239 cm, Berlin, Galerie Max Hetzler.

Man kann erahnen, dass jene Formelemente eines Kunstwerks, welche im Dienst der Abstraktion stehen, nicht zugleich gegenständlich und ungegenständlich sein sollen, sofern man auf irgendeine Weise durch formal-ästhetische Kriterien bestimmen möchte, worin sich der Fortschritt in die vollständige Abstraktion der Kunst phänomenal manifestiert. Doch eine Isolierung von genuin abstrakten Formen ist keine leichte Aufgabe. Denn auch in ungegenständlichen Kunstwerken (deren Abstraktionsleistung noch nicht in formaler Hinsicht, sondern ganz grob nur dadurch definiert sein könnte, dass sie auch auf den zweiten Blick noch nichts zu erkennen geben) begegnet man unter Umständen Formelementen, welche nicht im eigentlichen Sinne abstrakt zu nennen wären, da sie sich mitunter in anderer Konfiguration geradezu dafür anbieten, sehr Konkretes und Bestimmtes zur Darstellung zu bringen. Von solchen nur bedingt und unvollständig abstrakten Formen müsste man sodann jene unterscheiden, welche strictu sensu abstrakt genannt werden dürfen, da sie sich wesentlich schlecht zur Darstellung konkreter Gegenstände oder Sachverhalte eignen und dafür umso mehr zum Ausdruck universaler Relationen zwischen diesen. Darauf hat es Mondrian abgesehen, wenn er an anderer Stelle genauere Auskunft darüber gibt, in welchen gestalterischen Elementen er das Paradigma, die Destination der Abstraktion realisiert sieht:

„While the former [figurative art, C.S.] employs more or less complicated and particular forms, the latter [non-figurative art, C.S.] uses simple and neutral forms, or, ultimately, the free line and the pure colour. […] It is, however, necessary to point out, that the definitions ‚figurative‘ and ‚non-figurative‘ are only approximate and relative. For every form, even every line, represents a figure, no form is absolutely neutral. Clearly everything must be relative, but, since we need words to make our concepts understandable, we must keep to these terms. Among the different forms we may consider those as being neutral which have neither the complexity nor the particularities possessed by the natural forms or abstract forms in general. We may call those neutral which do not evoke individual feelings or ideas. Geometrical forms being so profound an abstraction of form may be regarded as neutral.“[12]

Wenn man sich Mondrians neoplastizistische Gemälde vor Augen führt, ist leicht zu erkennen, worin (formal-ästhetisch gesehen) der absolute Grad an Abstraktion verortet wird: Der Prozess terminiert in der Komposition einfachster geometrischer Formen, welche gewissermaßen das Allgemeine im Mannigfaltigen manifestieren. Dem Konkreten, das heißt dem anderen Extrem auf der Skala, entsprechen hingegen alle in sich komplexen, hochgradig individuellen und singulären Formen. So wird suggeriert, dass komplexe/konkrete Formen ihrem Wesen nach Universales/Abstraktes nicht zum Ausdruck bringen können, während andererseits vereinfachte, universelle Formen tendenziell nicht zu figurativer Darstellung taugen. Zwar ließen sich für beide Arten von in Mondrians Auffassung nicht vorgesehenen Fällen durchaus gute Beispiele nennen: Ein Muster aus monochromen Quadraten mag einen konkreten Gegenstand wie etwa eine bestimmte Fliesenwand oder eine Nachbildung des von Mondrian für Ida Biedert entworfenen Salons repräsentieren; genauso wie ein aus komplexen Formen bestehendes, höchst individuelles Gebilde der Manifestation einer universalen Idee, etwa der Wolke oder des Baumes, dienen kann. Doch Mondrian liegt wenig an einer Bestandsaufnahme realer, möglicher Konstellationen zwischen partikulärer beziehungsweise universaler Formgebung einerseits und der Darstellung von Konkretem beziehungsweise dem Ausdruck des Allgemeinen andererseits. Wenn hier auch kein Platz ist, um die Motivationen zu diskutieren, welche für den Versuch dieser theoretischen und ästhetischen Distinktion verantwortlich gemacht werden können und diese zum Teil wohl auch ideologischer Natur waren, kann festgehalten werden, dass hierin ein zentrales Anliegen und Problem in Mondrians Malerei besteht. Offenbar war sich Mondrian der Schwierigkeit, einen absoluten Maßstab an abstrakter Formgebung zu definieren, bewusst, wenn er eingesteht „[…] every form, even every line, represents a figure, no form is absolutely neutral“ und zuerst von „abstract forms in general“ spricht, ehe er innerhalb dieser breiteren Klasse die einfachsten geometrischen Formen als „so profound an abstraction of form“ hervorhebt.[13]

Abstract Reality –  „ . . . ein Bild zu malen, bei dem es egal ist, ob was zu erkennen ist“

Es wurde bereits angedeutet, dass nach Oehlens Hinwendung zur “Postungegenständlichkeit” in den 1990er-Jahren immer wieder Figuratives in seinen Gemälden herumirrt, es also nicht zutrifft, dass er den Weg zu einer „absolut“ ungegenständlichen Malerei einschlägt. Es lassen sich in seiner gestisch-expressiven Malerei aus dieser Zeit immer wieder Ansätze von Gegenständen, Augen, Hände, Münder, Silhouetten und so weiter erkennen (Abb. 4, ursprünglich „auf den Kopf gestellt“ reproduziert).

Abb. 6: Albert Oehlen, I 10, 2010, Papier auf Leinwand, 230 x 170 cm, Sammlung Rudolf und Ute Scharpff.

Abb. 6: Albert Oehlen, I 10, 2010, Papier auf Leinwand, 230 x 170 cm, Sammlung Rudolf und Ute Scharpff.

Im verwaschenen, nebeligen Grau seiner Gemälde der späten 1990er-Jahre zeichnen sich hier und da teils unbestimmt bleibende, teils konkrete Gegenstände andeutende räumliche Formen ab (Abb. 5). Die sich durchdringenden und überlagernden Grauwerte suggerieren einen abstrakten Bildraum innerhalb dessen alles, was dazu tendiert, Gestalt anzunehmen, sich zugleich wieder in eine Wolke aufzulösen scheint. Einerseits neigt also Oehlens postungegenständliche Malerei zur Figuration, andererseits schafft er ab den späten 2000er-Jahren großformatige, auf Leinwand montierte Collagen aus Werbeplakaten, in denen der figurative Gehalt des Bildmaterials zur eigenen Auflösung und Verunstaltung tendiert (Abb. 6). Die ursprünglichen Bild- und Schriftelemente der aggressiven, grellen Werbeästhetik verlieren in der Anwendung von Positiv-/Negativkonturen, Überlagerungen sowie Entstellungen der Sujets als bloße, scheinbar willkürlich gewählte Flächenfüllung jeden erkennbaren Inhalt. Schriftfragmente verkommen zu sinnlosen geometrischen Flächen, bildlich-illusionistische Details degenerieren zu ungegenständlichen Mustern, das Layout der Plakatwände löst sich in der Durchdringung scheinbar beliebig konturierter Flächen in eine an gestisch-abstrakte Malerei erinnernde chaotische Oberfläche auf.

Man könnte hier gewissermaßen visuelle Argumente gegen die von Mondrian exemplarisch propagierte Purifizierung einer absolut abstrakten Formgebung sehen. Oehlens demonstrative Indifferenz gegenüber der Frage wie Figuration sich formal-ästhetisch zu Abstraktion verhält[14] deutet an, dass sein Projekt postungegenständlicher Malerei ein ernsthafteres Interesse daran, was abstrakte Malerei definieren könnte, aus der Frage nach dem Verhältnis des/der Malers/in und seiner/ihrer Malerei zur Realität bezieht. Mondrians Streben nach absoluter Ungegenständlichkeit geht einher mit seiner Überzeugung, dass man hinter oder in der äußeren Erscheinungsweise der wahrnehmbaren Realität auf universale Beziehungen stößt, welche in non-figurativer Kunst zum Ausdruck gebracht werden können. Mondrian legt daher seiner formalistischen Unterscheidung eine ontologische Differenz zwischen „natürlicher“ und „abstrakter Realität“ bei, wobei letzterer in theosophischer oder platonischer Manier ein höherer Stellenwert beigemessen wird.[15] Oehlens Auffassung von Abstraktion scheint ebenfalls ein bestimmtes, jedoch grundlegend anderes Verhältnis zur Realität zu umfassen. Bereits zweimal hat Oehlen den Titel Abstract Reality für Ausstellungen gewählt.[16] Im Katalog zu einer von diesen kommentiert Oehlen diesen Titel so: „Er kommt von einer sehr guten Metal-Band, ’Nasty Savage’ […]. Es hört sich an, als meinten sie abstrus oder schwierig zu verstehen. Ich mag es, wenn es im Sinne eines Schimpfwortes benutzt wird, so wie Krankheit oder Durcheinander. Und das kommt meiner Definition davon sehr nahe.“[17] „Abstrakt“ bezeichnet hier keine Ordnung, welche sich hinter den singulären Erscheinungsweisen und Gestalten einer konkreten Realität verbirgt. Abstrakt ist jene einzige Realität, an der wir teilhaben, insofern alle erkennbaren Formen und Gestalten, welche diese hervorbringt, sich ständig aufs Neue verunstalten und verunklären.

Abb. 7: Ausstellungsplakat: Albert Oehlen, Markus Oehlen: Realidad Abstracta, Universidad Internacional Menendez Pelayo, Santander 1990.

Abb. 7: Ausstellungsplakat: Albert Oehlen, Markus Oehlen: Realidad Abstracta, Universidad Internacional Menendez Pelayo, Santander 1990.

Die Malerei zieht, wie vielleicht kein anderes künstlerisches Medium, ein Arsenal an Theorien und Begriffen nach sich, durch das sie betrachtet, bewertet und kritisiert wird. KünstlerInnen wie KritikerInnen tragen gleichermaßen zu den oft mit Ansprüchen auf Absolutheit auftretenden (Selbst-)Beschränkungen malerischer Praktiken bei. Modernistische Begriffe und Theorien der Abstraktion, welche in das Kunstverständnis von Publikum und KritikerInnen Eingang gefunden haben, sind zentraler Bestandteil dieses Arsenals, das im Lauf des 20. Jahrhunderts eine enorme Aufrüstung erfahren hat. Die „Bewegung“, von der Oehlen im anfangs wiedergegebenen Zitat spricht, scheint nun nicht allein auf den physischen Spielraum der Gliedmaßen des Malers beim Malen zu verweisen, sondern auf die ästhetischen Freiräume innerhalb eines diskursiven Kräftefeldes, welche sich KünstlerInnen angesichts theoretischer Beschränkungen durch Kunstkritik und Kunstgeschichtsschreibung stets auf Neue zu erobern haben. Mondrian malte, so scheint es, um zu universalen Regeln zu gelangen, die sein Werk legitimieren würden; Oehlen setzt sich selbst lokale Regeln, um – mit und gegen einen Kanon bestehender Regeln – weiterhin zu malen.


[1] Vgl. mumok Wien (Hg.), Albert Oehlen – Malerei (Begleitheft), Wien 2013.
[2] mumok Wien 2013.
[3] Hans-Joachim Müller, Wenn die ganze Kleinstadt zur Galerie wird, in: Die Welt, 25.09.2010. URL: http://www.welt.de/kultur/article9778083/Wenn-die-ganze-Kleinstadt-zur-Galerie-wird.html [19.03.2015].
[4] mumok Wien 2013.
[5] Nelson Goodman, Languages of Art, Indianapolis 1984, S. 6.
[6] Vgl. Wolfram Pichler/Ralph Ubl, Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014, S. 27 – 32.
[7] Pichler/Ubl unterscheiden übrigens explizit zwischen dem Bildträger (der Leinwand), welcher in der Betrachtung des Bildes beziehungsweise zum Erscheinen des Bildobjekts nichts beisteuern muss, und dem Bildvehikel als materielle Konfiguration, worin ein Bildobjekt (wieder-)erkannt werden kann.
[8] Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: Karlheinz Lüdeking, Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 267 – 271.
[9] Auf die Frage, was ihn veranlasst hätte sich mehr der abstrakt-ungegenständlichen Malerei zu widmen, sagt Oehlen in einem Interview: „It was an old dream. I had this idea for years. I was carrying it with me. [laughs] In a way it was because I thought that art history went from figurative to abstract…And I should do the same. I should have the same development in my life as art history.“ vgl. Glenn O’Brien, Albert Oehlen, in: Interview Magazine online, URL:http://www.interviewmagazine.com/art/albert-oehlen [19.03.2015].
[10] Piet Mondrian, Plastic Art and Pure Plastic Art (Figurative Art and Non-Figurative Art), in: The Tokyo Shimbun (Hg.), Mondrian from figuration to abstraction (Kat.), Tokyo 1987, S. 15f.
[11] Der Einsatz ist vielleicht höher als es zunächst scheint, denn mittels des Begriffs „Abstraktion“ wurde mit Greenberg nicht zum letzten Mal in der Kunstkritik anhand rein formalistischer Kriterien normativ auf den gesellschaftlichen und ästhetischen Wert von Malerei insgesamt Bezug genommen. Man vergleiche dazu das im Katalog zur eingangs erwähnten Ausstellung im Wiener mumok publizierte Gespräch zwischen dem Kurator Achim Hochdörfer und Hal Foster, der als Herausgeber von October über Jahre hinweg die ungegenständliche Malerei als gesellschaftlich und politisch relevantes Medium, sowie ihre Fähigkeit an die Kritikalität der Modernen Abstraktion anzuknüpfen, pauschal in Frage gestellt hat: „Bis zu, sagen wir, Ryman konnte man noch glauben, dass es ein Projekt namens moderne Malerei gab, das eine gewisse Kontinuität mit der großen Abstraktion des frühen 20. Jahrhunderts aufwies. Von den abstrakten Malerinnen und Malern der 1970er- und 1980er-Jahre kann man das meiner Ansicht nach nicht behaupten, (…) und noch viel weniger von den heutigen.“ Vgl. Hal Foster/Achim Hochdörfer, Oehlen als Schönberg – ein wilder Gedanke!, in: mumok Wien (Hg.), Albert Oehlen – Malerei (Kat.), Köln 2013, S. 143.
[12] Mondrian 1987, S. 15f.
[13] Greenberg scheint mit Mondrians Konzeption von absoluter Abstraktion nicht ganz einverstanden gewesen zu sein und das Problem ihrer formalistischen Definition erkannt zu haben, wenn er – die all-over-Malerei der zeitgenössischen abstrakten Expressionisten verteidigend – schreibt: „Mondrian bemerkte, daß der Kubismus […] weitgehend auf dem Motiv der vertikalen und horizontalen Linie beruhte […]. Die daraus hervorgegangenen Bilder sind die absolut flachste Staffeleimalerei, die jedoch noch immer an starken dominanten Formen festhält, wie sie von den sich überkreuzenden geraden Linien und den Farbrechtecken erzeugt werden, und so vereinfacht und ausbalanciert das Gemälde auch sein mag, es präsentiert sich immer noch als Schauplatz von Formen und nicht als ein einziges, unteilbares Stück Textur.“ Clement Greenberg, Die Krise des Staffeleibildes, in: Lüdeking 1997, S. 152. Greenberg scheint hier einen Widerstreit festzustellen zwischen totaler Flächigkeit einerseits, welche jedoch nur um den Preis der Festhaltens an klar definierten, geometrischen Formen erreicht werden kann, und andererseits der Inkaufnahme eines gewissen Grades an Suggestion von räumlicher Tiefe durch die totale Aufgabe von Mondrians „neutral forms“. Er benennt damit indirekt eine weitere begriffliche Schwierigkeit im Versuch einer Definition von absoluter Ungegenständlichkeit, die darin besteht, dass in gewissem Sinne Mondrians einfache geometrische Formen (als einzelne Elemente, nicht unbedingt in ihrer Komposition) nämlich weitaus figürlicher sind, als die Formen so mancher gestisch-expressiver Malerei; was sich darin zeigt, dass sich jene leichter beschreiben, kopieren, übersetzen lassen als diese.
[14] „Was ich vorhabe, ist, ein Bild zu malen, bei dem es egal ist ob was zu erkennen ist, das aber trotzdem zwingend ist.“ Vgl. mumok Wien 2013.
[15] Vgl. dazu Piet Mondrian, Natural Reality and Abstract Reality, in: Herschel B. Chipp u.a. (Hg.), Theories of Modern Art: A Source Book by Artists and Critics, Berkeley/Los Angeles 1984, S. 321/322: „The cultivated man of today is gradually turning away from natural things, and his life is becoming more and more abstract. Natural (external) things become more and more automatic, and we observe that our vital attention fastens more and more on internal things. (…) The new plastic idea cannot, therefor, take the form of a natural or concrete representation, although the latter does always indicate the universal to a degree, or at least conceals it within. This new plastic idea will ignore the particulars of appearance, that is to say, natural form and color. (…) If, then, we focus our attention on the balanced relation, we shall be able to see unity in natural things. But even though we never find unity expressed exactly, we can unify every representation, in other words, the exact representation of unity can be expressed; it must be expressed for it is not visible in concrete reality.“
[16] Einmal in einer Ausstellung mit seinem Bruder Markus in der baskischen Stadt Santander im Jahr 1990 und ein weiteres Mal für eine retrospektive Werkschau im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris/ARC im Jahr 2009.
[17] Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris/ARC (Hg.), Albert Oehlen, Abstract Reality (Kat.), Köln 2009, S. 19.

Christian Scherrer hat Philosophie an der Universität Wien sowie Kunst und Kommunikative Praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien studiert. Er ist seit März 2014 als Mitbegründer in der Leitung des Ausstellungsraums wellwellwell tätig und schreibt derzeit an seiner Diplomarbeit mit dem Titel Physiologie du refusé – Ausdruck in Cézannes Impressionismus.
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