Klappe auf für das A – Z der kinematografischen Objekte

Wörterbuch kinematografischer Objekte, August Verlag, Berlin 2014
Marius Böttcher, Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg, Linda Waack, Regina Wuzella (Hg.)
190 S., Paperback

„Alles beginnt mit einem Knall – zumindest im Tonfilm. […] Die vor der Kamera zusammengeschlagene Klappe und der entstehende Knall bilden zwei sehr kurze Ereignisse, die gleichzeitig sicht- bzw. hörbar sind und zusammen eine Synchronmarke bilden, an der die Tonspur nachträglich mit den Bildern verknüpft werden kann.“[1] Der Knall, Thema und Hauptakteur eines Objekteintrags im Wörterbuch kinematografischer Objekte, Konsequenz des Schließens der Klappe und konstitutiv für die Entstehung des Films selbst, ist mediale Markierung und Schwelle zwischen Vorfilm und Film.

Doch was ist ein kinematografisches Objekt? Welche Rolle spielen die Dinge im Film? In welchem Verhältnis stehen sie zur Außenwelt, zu anderen Dingen im Film oder zum Publikum?

Die Autorenschaft des jüngst im August Verlag erschienenen Handbuchs kinematografischer Objekte stellt sich diesen Fragen, ohne sich eines restriktiven Bestimmungsapparats zu bedienen. Im Hintergrund wirkt die Akteur-Netzwerk-Theorie mit ihrem Begriff des offenen Objekts. „Eine äußerst ökonomische Metonymie erlaubt es, in der Wissenschaft wie in der Politik, mittels eines winzigen Teils das unermessliche Ganze zu fassen.“[2] Latour spricht hier vom Objekt als Glied wissenschaftlicher Datengewinnungssysteme. Nach erfolgten Feldforschungen, Analysen, Kartierungen, et cetera werden die gewonnenen Fakten zu komprimierter Erkenntnis, zum wissenschaftlichen Symbol wie beispielsweise der Tabelle. „Indem man den Urwald verliert, gewinnt man das Wissen über ihn.“[3] So wie anhand einer Selektion von Pflanzen die Wissenschaft ökonomisch den Urwald darzustellen versucht, so spielen die Filmemacher und letzten Endes der Requisiteur mithilfe des Objekts im Film auf die mit ihm assoziierten und verbundenen Abläufe und Welten an. „Und mit Latour können wir sagen, dass ,das neue Objekt zu Beginn noch undefiniert ist. […] Zum Zeitpunkt seines Auftauchens kann man es nur dadurch beschreiben, dass man eine Liste seiner Aktivitäten und Eigenschaften erstellt‘“.[4] Im Agenten-Thriller James Bond jagt Dr. No wurde beispielsweise als Blickfang der Sammlung des Bösewichts eine Kopie eines damals erst kürzlich gestohlenen Gemäldes von Goya eingebaut und somit auf den viel diskutierten Kunstraub verwiesen. Die 007-Setdesigns von Ken Adams sind ihrerseits mittlerweile so berühmt, dass Produktionsskizzen in Galerien und Museen bewundert werden können. So erschließt sich ein kinematografischer Objektbegriff, der sich verflochtenen Einwirkungen und Ausgängen zuwendet und beweglich ist: „Jeder Schritt ist Materie für den, der folgt, und Form für den, der voraufgeht“.[5] Das kinematografische Objekt ist ein vermengtes Gebilde: Das Ding im Film, die objekthafte Festhaltung des Bilds auf Zelluloid sowie zahlreiche apparative Abläufe stellen das komplexe Objekt her/dar. Seine Funktion als Dreh- und Angelpunkt ist zentrale Ausgangslage dieser Taxonomie der Dinge und Undinge im Film, die anders als gängige Klassifikationen über benachbarte Dinge und über Abläufe das kinematografische Objekt als Zwischen-Sein, Transformation und verzahntes Ding entschlüsselt.

Das aus dem Junior-Fellow-Programm des Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar hervorgegangene Wörterbuch kinematografischer Objekte versammelt rund 100 Einträge von 62 AutorInnen. Die kurzen, alphabetisch geordneten Einträge ergeben eine bunte Auswahl von Objekten, die bei näherer Betrachtung in Überkategorien eingeteilt werden können: filmgeschichtlich populäre Szenerien sowie ihre Bestandteile (Monument Valley, Empire State Building, Fenster, Tonbandgerät, Flipper) stehen neben filmtechnischen und ästhetischen Manövern und dem dazu verwendeten Material (Close-Up, Zeitlupe, Zoom, Kamera, Leinwand, Split-Field Diopter, Lichtdouble), atmosphärischen Elementen (Licht, Ton, Farbe, Regen, Nebel) und schließlich den Einzelteilen des Akteurs (Haut, Haar, Hand, Auge, Narbe, Blut) und seinen Gadgets (Zigarette, Kaugummi, Revolver, Koffer). Einige Objekteinträge sind spartenübergreifend, dazu gibt es nicht weiter zu kategorisierende Einzelgänger (Unding, Tesla-Transformator, Atombombe). So ergibt sich über das Alphabet hinaus keine strengere Systematik.

Das Wörterbuch der versammelten Filmobjekte bewegt sich durch viele Schichten vorwärts, seine Intentionen sind eindeutig extrapolierend. Der kürzeste Eintrag ist ein reiner Zitatdialog: „BlutCahiers: ‚Man sieht viel Blut in Pierrot le fou.‘ – Jean-Luc Godard: ‚Kein Blut, rot.‘ (↑Filmblut)“.[6] Blut wird somit losgelöst von seiner ursprünglichen Identität und Filmumgebung neu erfahrbar. Der Eintrag Filmblut eröffnet mit der filmhistorischen Bedeutung von Blut, um von seinen verschiedenartigen Inszenierungen (tropfen, pladdern, fontänen- oder duschartiges spritzen, gerinnen, erstarren) über seine Beschaffenheit als „Realitätsmaschine“ zu seinen vielfältigen Erscheinungsformen in der Filmindustrie zu gelangen (Theater-, Zauber- und Filmblut, Blutkissen, -paste, -puder, Wundenfüller).[7] Abschließend werden in einer längeren „Phänomenologie des Bluts“ im bewegten Bild seine stereotypen Erscheinungsformen angesichts von Filmverweisen betrachtet (z.B. Blutsbruderschaft und artifizielle Familiarität, Winnetou, 1963).[8] Zahlreiche Verweise führen zu verschiedensten Ebenen in realem und gedachtem Raum und Sinn. Der Eintrag Leinwand von Dennis Göttel wird selbst zur reinen Projektionsfläche und bietet Raum für eine Sammlung von Zitaten und Metaphern zum Thema. Fäden weiterspinnend und verbindend wird durch Querverweise auf andere Einträge, auf Filme und auf Literatur verwiesen. Diese kommunikative Verflechtung durchdringt die panoramenartige Breite des Objektspektrums. Das Kino als philosophisch fassbare Einheit findet sich facettenhaft aufgeteilt in vielen ausladenden metaphorischen Exkursen kinematografischer Objekte. Bereits das Vorwort eröffnet das Hintersinnen kinematografischer Objekte mit dem Fenster, dem Ding der Selbstreflexion des Kinos par excellence. Manchmal schlüpft Text äußerst reizvoll direkt ins Bildliche. Wenn zum Beispiel Linda Waack einleitet mit: „Die Geschichte des Nylonstrumpfs als kinematografisches Objekt lässt sich am Bein aufrollen“ oder Ute Holl den Eintrag über das Telefon abschließt mit: „Das muss doch einleuchten. Da muss doch was klingeln!“[9]

Das Wörterbuch kinematografischer Objekte liest sich lustvoll und unangestrengt: Es bietet Einblick in unbekanntes Gedankengut, die Heterogenität der verschiedenen Schreibstile bildet ein reizvolles Nebeneinander und die kurz gefassten Einträge laden zum Weiterdenken und Ausführen ein. Dieser Charakter einer Momentaufnahme, die keine Abgeschlossenheit anstrebt, wird dem unerschöpflichen Kosmos des Films gerecht.

Trotz aller angelegten Offenheit bewegt sich das Verweissystem als Ganzes in mancherlei Hinsicht in engem Rahmen. Unter der großen Fülle der zitierten Filme, die, zwischen 1896 und 2013 angesiedelt, zeitlich die komplette Filmgeschichte abdecken, finden sich zwar neben dem klassischen Filmformat auch Kurzfilme, Trilogien, Serien und Musikvideos, der geografische Radius der ausgewählten Werke ist jedoch deutlich begrenzter. Das US-amerikanische Kino ist stark vertreten. Aus europäischen Filmproduktionen werden vorwiegend deutsche, italienische und französische Werke zitiert. Es findet sich russisches Kino und einige chinesische und japanische Filme; indisches Filmschaffen oder Spuren eines Dritten Kinos findet man im Buch aber kaum. Wie die Filmauswahl den impliziten Kanon der Autorenschaft spiegelt, so verraten auch die Literaturhinweise einiges über die gemeinsame Heimat der meisten AutorInnen an film- und medien-wissenschaftlichen Institutionen im deutschsprachigen Raum.

Wenn das Objekt mit Latour als Glied einer reversiblen Referenzkette, als Übergang und Verweis konstituiert wird, so lässt sich fragen, weshalb zur Erfassung ebendieser das geschlossenste aller Medien – das gute alte Buch – gewählt wurde. Wäre ein ständig erweiterbarer Onlinekatalog, in den immer wieder neue Objekte und neue Referenzen eingefügt werden können, einem solchen Projekt der Form nach nicht gerechter geworden? Andererseits ist die buchspezifische Leseweise durch das Lexikonformat ja bereits aufgehoben. Durch die kurzen, abgeschlossenen Einträge mit zahlreichen Verweisen liest man sprunghaft kreuz und quer. Der Eindruck, fertig gelesen zu haben, entsteht somit nie. Der suchende, sich orientierende Blick erfasst aufmerksam und intuitiv adaptierend seine Umwelt. Friederike Horstmann schreibt in ihrem Eintrag Leuchtturm vom tollwütigen Turmwärter in Gardiens de Phare: „Sein Leuchtturmlicht gibt keine Orientierung, kennt keine kontinuierlich kreisenden Kegel mehr, sondern wirft irrlichternd flackernde Licht- und Schattenspiele an die Wände, wölbt klaustrophobisch die kreisförmigen Innenräume und verzerrt Gesichter“.[10] Da das Wesen des Filmobjekts bereits zergliedert ist, erstaunt es nicht, dass sich auch die vorliegende Publikation einer eindeutigen Klassifizierung widersetzt: Das Wörterbuch kinematographischer Objekte ist eine Art unabgeschlossenes, filmisches Alphabet, das sich als Verbindung auswärts orientiert und unendlich neu gedacht werden kann.


[1] Axel Volmar, Knall, in: Marius Böttcher, Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg, Linda Waack, Regina Wuzella (Hg.), Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin 2014, S. 77.
[2] Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 202.
[3] Latour 1996, S. 205.
[4] Jan Philip Müller, Liste, in: Böttcher et al. 2014, S. 93 – 94.
[5] Latour 1996, S. 244.
[6] Böttcher et al. 2014, S. 26; das Zitat stammt aus: Jean-Louis Comolli, Michel Delahaye, Jean-André Fieschi und Gérard Guégan, Parlons de ,Pierrot‘. Nouvel entretien avec Jean-Luc Godard, in: Cahiers du cinéma, Vol. 171, Oktober 1965, S. 18 – 35.
[7] Julia Barbara Köhne, Filmblut, in: Böttcher et al. 2014, S. 48.
[8] Köhne 2014, S. 49.
[9] Linda Waack, Nylonstrumpf, in: Böttcher et al. 2014, S. 107 und Ute Holl, Telefon, in: Böttcher et al. 2014, S. 150.
[10] Friederike Horstmann, Leuchtturm, in: Böttcher et al. 2014, S. 87.

Matthias Egger studiert Kunstvermittlung an der Hochschule der Künste in Bern, an der Universität Bern und an der pädagogischen Hochschule Bern und unterrichtet Kunst an der Steinerschule in Langnau.
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