In Anbetracht prähistorischen Bildmaterials sehen wir uns mit einer großen zeitlichen Differenz konfrontiert, die historische Maßstäbe unter Spannung setzt, Sehgewohnheiten und grafisch-künstlerische Auffassungen infrage stellt. Christopher Chippindale und Frederick Baker umreißen in ihrer Publikation Pitoti. Digital rock-art from prehistoric Europe: heritage, film, archaeology von 2012 die als faszinierend bis fremdartig wahrgenommene Position als Rezipierende vor, zwischen und inmitten der noch heute begehbaren Areale prähistorischer Felsgravierungen im norditalienischen Tal Valcamonica wie folgt: „ […] since we cannot become prehistoric people, everything we try to find in them is a metaphor, an analogy with what we ourselves experience.“[1]
Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen betreffen eben solche Strukturen in der Rezeption dieser Vorkommen von Felsgravierungen. Sie befassen sich dabei explizit mit den Aufnahmetechniken und visuellen Produkten in der Forschungspraxis des 20. Jahrhunderts in Valcamonica und untersuchen diesen inhärente Momente medialer Aneignung. Im Fokus steht grafisches und fotografisches Material, das 1936 und 1937 während zwei ethnologischen Forschungsreisen des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie unter der Leitung von Leo Frobenius vor Ort angefertigt wurde.[2] Ich beziehe mich auf diesen Bestand im Sinne einer „informellen Struktur […], mit der die ganze Vielfalt der aus der Praxis geborenen Tricks und Besonderheiten festgehalten wird“[3] und untersuche das Verhältnis von Forschungsgegenstand, Mittel der Aufzeichnung und angefertigtem Bildmaterial. Von besonderem Interesse sind hierbei die spezifische Beschaffenheit der Felsgravierungen und ihre Übersetzbarkeit in abbildende Medien. Anhand der Wechselwirkungen von dokumentarischen und künstlerischen Techniken im wissenschaftlichen Bearbeitungskontext können die Charakteristika der Vieldeutigkeit in der wissenschaftlichen Bildproduktion aufgezeigt und die Potenzialität der technischen „Verarbeitungsketten“[4] verdeutlicht werden.
I.
Wo befinden wir uns? Die Schwarz-Weiß-Fotografie (Abb. 1) von 1936 dokumentiert diese Frage im Rahmen einer Forschungsszene vor Ort. Sie zeigt in Position und Gestus der drei auf dem Felskörper liegenden Personen[5] Möglichkeiten der Vergegenwärtigung der Felsgravierungen durch die Forschenden: unmittelbar physische Annäherung an die Gravierung und klare Hervorhebung derselben mittels manueller und technischer Verfahren. Der im Rahmen der Exkursion von mitreisenden Zeichnerinnen angefertigte und heute im Frobenius-Institut in Frankfurt am Main archivierte Korpus an grafischen Blättern und Schwarz-Weiß-Fotografien zeichnet sich durch den ästhetischen Eigenwert und durch die Vielfalt der verwendeten Techniken und Bildformate aus.[6]
Welche Funktion erfüllt dieses wissenschaftliche Bildmaterial hinsichtlich einer in Forschung und Archivierung forcierten Form des Registrierens und Abbildens von etwas da draußen?[7] Inwiefern wird dabei Bezug auf die folgenden Charakteristika der prähistorischen Vorkommen von Felsgravierungen genommen? Es lassen sich drei Problembereiche skizzieren, mit denen die Forschenden in Anbetracht der Erschließung dieser Vorkommen konfrontiert sind: Dimension, Materialität und Lesbarkeit.
Im Fall von Valcamonica zeugen weder in Ausgrabungen zutage geförderte Artefakte noch gemalte Bildprogramme von der menschlichen Präsenz und sozialen Aktivität der einst Ansässigen. Vielmehr handelt es sich um direkt in die Steinoberflächen eingetragene Markierungen, die über eine lange Zeitspanne zwischen dem Ende der Eiszeit und der Ankunft der Römer im 1. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind und sich als zusammenhängende Bildareale in die Landschaft einfügen. Im Unterschied zu frontalen, umlaufenden und geschützten Wandflächen in den dunklen, abgeschlossenen Innenräumen von Chauvet und Lascaux oder zu Felsvorsprüngen im Außenraum befinden sich diese Gravierungen auf begehbaren und der Witterung ausgesetzten Felsmassiven. In den auf natürliche Weise abgeschliffenen Grund aus Sandstein und Schiefer wurden die Motive anhand von Klopflinien und Klopfflächen mit taktiler, unebener Oberflächenstruktur eingraviert. Ihre (Un-)Sichtbarkeit wird nicht zuletzt von den ständig wechselnden Lichtverhältnissen bestimmt, welche die Wahrnehmung durch Effekte des Erscheinens und des Verschwindens maßgeblich mitbestimmen. Die Vorkommen von Felsgravierungen lassen sich explizit durch ein Changieren zwischen Makro-Ebene und Micro-Ebene erschließen – vom einzelnen Einschlag zum landschaftlichen Panorama.[8]
II.
Die zwei kleinformatigen Blätter (Abb. 2 und Abb. 3) aus dem Felsbildarchiv zeigen eine vergleichbare Figur mit verdicktem, oberen Ende, länglicher, leicht gebogener Form und einer abschließenden Verjüngung. Im ersten Fall wird sie zentral und gerade auf das Blatt gesetzt, im zweiten Fall erfolgt die Positionierung diagonal. Das erste Blatt (Abb. 2) ist in der linken unteren Ecke mit Angaben zum Standort beschriftet, sodass die Ausrichtung des Einzelblattes vorgegeben ist. Beide Darstellungen reproduzieren die ursprüngliche Größe der archäologischen Funde. In dem manuellen Übertragungsprozess kommen Abreibung und Aquarell zum Einsatz. Was erzeugen die angewendeten Verfahren mit ihren unterschiedlichen Qualitäten des direkten und indirekten Abnehmens? Von welchen Parametern sind Interpretation und Kontextualisierung der Vorkommen abhängig?
Durch direktes Auflegen des Papiers auf den Stein wird auf dem ersten Blatt (Abb. 2) die Struktur so übertragen, dass eine Negativform entsteht: Die dunkle, knapp um das Motiv geführte Farbe gibt den erhabeneren Fels wieder, während die weiße, leicht brüchige Spur die vertiefte Gravierung angibt. Auf diese Weise wird die Materialität des Umfeldes aufgenommen, jedoch nicht die bearbeitete Struktur der Gravierung selbst. Der untere Teil der Figur wird nicht zu Ende geführt und bleibt undeutlich. Im Falle des Aquarells (Abb. 3) zeichnet der Pinsel die gravierte Spur nach. Es entsteht eine flüssige, bruchlose Linie in dunkler Farbe und eine geschlossene, herausgelöste Form, die nicht auf eine körnige Materialität schließen lässt. Das Aquarell wird in Abstand zur originalen Form ausgeführt. Die körnige Textur auf dem Papier entsteht dabei durch Aufrauen und Verwischen der Farbe. Auch hier bleiben einige Stellen der Darstellung offen. Zum einen zwei dünne, verwischte Linien, die an die Form angesetzt sind, zum anderen die untere rechte Ecke, die farblich und durch einen Knick im Papier abgetrennt erscheint. Mit welchem Motiv haben wir es zu tun?
Die frontal aufgenommene Fotografie (Abb. 4) zeigt weiß umrandete Gravierungen, die als Dolchformen interpretiert werden: von links nach rechts mit Knauf, Griff, Schneide. Bei der Aufnahme des rechten Felsabschnitts handelt es sich um dieselbe Gravierung wie bei der auf den beiden archivierten Papierarbeiten angeführten Form (Abb. 2 und Abb. 3) – nur wird anhand der Fotografie die vorgeschlagene Lesart deutlicher nachvollziehbar. Die offenen Stellen auf dem Papier stellen sich als Spalten und Risse auf dem Felsgrund und nicht als Gravierung heraus. Aus der Zeichnung wird dies allerdings nicht ersichtlich, sie suggeriert eine Gleichwertigkeit von gravierter und natürlicher Spur im Fels. So entfernen sich die grafischen Aufnahmen entscheidend von der Vorlage und verunklären für eine Analyse entscheidende Informationen. Einzelne Elemente des zugrunde liegenden Materials werden nicht einfach 1:1 übertragen, sondern mithilfe der zur Verfügung stehenden Darstellungsmittel – mit der Wahl des Papiers, der Farbe, der Rahmung und der Komposition – übersetzt. Durch die Verschiebung des Fokus und durch eine künstlerische Offenheit, die dem im Prozess des Abzeichnens inhärent ist, entsteht ein zweites, anderes visuelles Produkt.
An dieser Stelle schließen sich kritische Fragestellungen und Überlegungen zu Aufzeichnungssystemen in den Wissenschaften an, die Inskriptionen in einem breiten Diskurs zum einen in ihrer Beschaffenheit als aufgezeichnete Dinge fassen, zum anderen von Seiten ihres Herstellungsprozesses her denken.[9] In diesem Rahmen befassen sich die WissenschaftlerInnen der langjährigen Forschungsinitiative Wissen im Entwurf[10] des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte grundlegend mit der Instabilität der Trennung von Wissenschaft und Künsten.[11] So verdeutlicht Barbara Wittmann in ihrem Beitrag die „medienspezifische Verschränkung von dokumentarischem und subjektivem Zugriff auf die beobachteten Phänomene“[12] in der typologischen Zeichnung. Der Dialog zwischen WissenschaftlerIn und ZeichnerIn wird hierbei durch die „Asymmetrie der Wahrnehmungen“[13] bestimmt und zu einer produktiven Verfremdung hin erweitert. Christoph Hoffmann bezeichnet in seiner Einführung jede Form des Aufzeichnens als aktives Verfahren einer Befragung und im Sinne wissenschaftlicher Prozesshaftigkeit: „So zeigt sich […], dass der Akt der primären Aufzeichnung nicht nur in der Weise an der Entstehung von Wissen teilhat, wie er seine Objekte am Ende exteriorisiert, figuriert und redimensionalisiert zurücklässt. Dass vielmehr durch das Schreiben und Zeichnen vorhergehend eine Begegnung mit dem Objekt statt hat, die zu seiner vertieften Kenntnis führen kann.“[14]
In diesem Sinne eröffnen die beiden Blätter (Abb. 2 und Abb. 3) gerade in ihrer ästhetischen Eigenständigkeit Variationen grafischer Darstellung und Wahrnehmung zwischen hervortretender Linearität und materieller Spur, die bestimmte Beschaffenheiten der Felsgravierungen selbst zu extrahieren scheinen. Entlang des angestellten Vergleichs lässt sich zudem der Stellenwert des gewählten Ausschnitts und die Setzung von Format und Rahmen exemplifizieren, die als solche die Gerichtetheit der Betrachtung und Interpretation in der wissenschaftlichen Praxis bestimmen. Es kommt die Bedeutung des medialen Abgleichs zum Tragen, der eine Kontextualisierung der Aufnahmen ermöglicht und den Forschenden Besonderheiten und Qualitäten jedes Aufnahmeverfahrens zu eröffnen vermag.
III.
Hinsichtlich des Widerstands zwischen Produkt und Aktivität der Aufzeichnung merkt Christoph Hoffmann an: „Auf dem Papier überliefert sind nur solche Aspekte des Verfahrens, die sich in der graphischen Spur abzeichnen, während andere Aspekte des Verfahrens, die in den Rahmenbedingungen des Aufzeichnens begründet sind, im besten Fall indirekt erschlossen werden können.“[15] Wie kann dies auf die Bedeutsamkeit der zu übertragenden Rahmenbedingungen im Fall der mehrdimensional erschließbaren Areale in Valcamonica bezogen werden? Welche Aspekte verschieben sich, wenn Papier und Spur in anderer medialer Verfasstheit, nämlich in der Fotografie, zum Tragen kommen?
Während der zwei Exkursionen 1936 und 1937 entsteht neben dem grafischen Material eine große Anzahl an Schwarz-Weiß-Fotografien, die zum einen die landschaftliche Umgebung und die Forschenden bei der Arbeit zeigen, zum anderen aber auch dezidiert die Felsbildareale in den Blick nehmen. Ausgewählte Fotografien wurden anschließend im Archiv in Frankfurt am Main in heute wieder rekonstruierten Alben zusammengestellt.[16] Das erste fotografische Beispiel (Abb. 5) zeigt einen Ausschnitt des als Bedolina-Map bekannten Bedolina Rock 1. Wie der Name bereits sagt, werden vor allem kartografische Lesarten vorgeschlagen, welche die Gravierungen als besetzte, angereicherte und vernetzte Behausungen, Felder und Wege auf dem markanten und leicht abfallenden Felsmassiv interpretieren. Die Aufnahme zeigt zudem eine manuelle Technik der Sichtbarmachung durch die WissenschaftlerInnen: Das Umreißen einzelner Figuren mit weißer Kreide, welches die Gravierungen als dunkle Flächen erfasst. Dieses grafische Verfahren führt zu Linearisierung und Vereinfachung auf eine Dimension. Es steht dabei der Materialität der Gravierungen und der Bedeutung von abweichenden Einschlägen entgegen. Die Bezeichnung als sich ausbreitende Karte baut dabei auf einen gewissen Grad von Flächigkeit. Dieser Grad ist allerdings nicht zuletzt eine Frage der Perspektive und des Standpunkts, wobei eben diese Komponenten Variablen bleiben. In der Aufnahme (Abb. 5) fällt die Ansicht möglichst gerade und unverzerrt aus, sie nimmt die körperhaften Formungen und Ausbuchtungen des Felsens zurück. Die gewählte Perspektive verstärkt den Eindruck von Flächigkeit, Klarheit und Einheitlichkeit der Darstellung und scheint damit auch einer Bezeichnung als „Bildplatte“[17], wie es Maria Weyersberg formuliert, oder als „Bildfeld“[18] im Sinne Meyer Schapiros zuträglich.
Einen maßgeblichen Faktor stellt in der Fotografie der aufgenommene Lichteinfall dar. Die einzelnen Lichtflecken auf der Felsoberfläche der Gravierungen weisen auf einen entscheidenden Moment der Seherfahrung vor Ort: das Auftreten blinder Flecken und der Wechsel von Sichtbarkeit zu Unsichtbarkeit. Im gleißenden Licht des zweiten Beispiels (Abb. 6) lassen sich undeutlich natürlich gelassene Gravierungen ohne Nachzeichnung sowie dunkle Schatten erkennen, die von Vegetation zeugen. Zum einen verdecken und verunklären diese Elemente und können als Störfaktoren oder Zäsuren gesehen werden, die quer über die Bildfläche führen. Zum anderen bilden sie selbst Formen auf der Felsoberfläche, die als wichtige Bestandteile, als Verweise auf Funktion und Kontext der in die Umgebung eingebetteten Felsbildareale gelten können. Der veränderte Fokus dieser Aufnahme nimmt zudem das Felsmassiv mit seinen Niveauunterschieden, Unebenheiten und Brüchen in den Blick und gibt durch den Schattenwurf auch die Umgebung wieder. Im Vergleich dazu steigert das dritte Beispiel (Abb. 7) in Bezug auf Perspektive und Verortung der Darstellung die Verunklärung, da Niveauunterschiede und Ausrichtung nicht mehr klar auszumachen sind. Erst durch mehrfache Vergleiche und umfassende Kenntnis der Formensprache dieses Areals wird ersichtlich, dass die Ansicht im Vergleich zu den vorherigen Aufnahmen um 180 Grad gedreht wurde und der Standpunkt der Fotografin oder des Fotografen am oberen Rand des Massivs liegt. Die aus dieser Warte wie amorphe Gebilde und Figuren zu deutenden Gravierungen stellen sich als die von unten grafisch gelesenen Felder und Wege heraus. Die Positionsveränderung der fotografierenden Person macht somit auf die Frage aufmerksam, inwieweit sich ein fester Standpunkt der Rezeption bestimmen lässt und inwiefern wir in der Interpretation durch ausgewähltes und sich wiederholendes Bildmaterial in wissenschaftlichen Publikationen einer im Voraus bestimmten Perspektive aufsitzen.
Die Abweichungen in der Darstellung und die Ästhetik der Unschärfe beziehen sich nicht auf die „exakte Wiedergabe des Wahrgenommenen, sondern auf die Wiedergabe der Wahrnehmung selbst“[19]. In der dokumentarischen Absicht der hier gezeigten Fotografien lässt sich somit ein Spiel im Umgang mit Effekten der Wahrnehmung sowie mit Positiv-Negativformen als Umrissmaterial wissenschaftlicher Analyse ausmachen, die für ein in archäologischer Forschung geschultes Auge omnipräsent sind.[20]
IV.
Das angeführte Bildmaterial zeugt davon, wie spezifische Qualitäten verschiedener Verfahren genutzt werden können, um jeweils einen anderen Blick auf Form, Funktion und Kontext der Gravierungen zu generieren. Dieses polymediale Vorgehen der Frobenius-Exkursionen erweist sich gerade am Beispiel der schwer fassbaren Gravierungen mit ihrer mehrdimensional anmutenden Struktur zwischen grafischem und plastischem Charakter als interessant. Im wissenschaftlichen Kontext steht das angewandte Verfahren in Kontrast zu den in der Forschungsliteratur meist angeführten Tracings, die in ihrer einfachen Darstellbarkeit vor allem den Zeichencharakter des Ausgangsmaterials herausstreichen. In diesem Sinne erfüllen die unterschiedlich ausgelegten Blätter und Fotografien der Frobenius-Exkursionen nicht einfach die Funktion der möglichst klaren Abbildung des anvisierten Forschungsgegenstands, sondern transportieren und produzieren ein Mehr an Information[21] – gerade durch die übertragenen Techniken, den abweichenden Fokus und die sich letztlich ablösenden Motive. Sie scheinen sich auf spezifische Elemente menschlicher Seherfahrungen zu richten und etwas über die umfassende Wahrnehmung dieser Gravierungen zu verraten: Mehrdimensionalität der Sichtweisen, Potenzial der ständigen Verwandlung und unumgängliche Uneindeutigkeiten. Der auf dem Weg des medialen Transfers entstehende Grad der Verfremdung kann dann produktiv genutzt werden, wenn er von Seiten der Forschenden als Hinweis auf die Variabilität des point of view bezogen wird. Es gilt zu überlegen, ob es gerade die offenen Stellen, die ästhetische Eigenständigkeit und die spürbare Differenz sind, die diese visuellen Produkte der wissenschaftlichen Praxis zu Anknüpfungspunkten für neue künstlerische Positionen machen.[22]
Aus diesen Ausführungen lässt sich schließen, dass die Wahl des Aufzeichnungsmittels maßgeblich von den Absichten der AkteurInnen und den weiteren Verwendungszwecken abhängt.[23] Wie schon das Spannungsverhältnis von manuellen Zeichnungstechniken und neuen, mechanischen Reproduktionsmethoden im Laufe des 19. Jahrhundert deutlich macht, kann eine größere Bandbreite an Medien der Aufnahme zu „einer Schärfung ihrer Verwendungsmöglichkeiten“[24] und zu einer ergänzenden Verwendungspraxis führen.[25] Ein abschließendes Vergleichsbeispiel aus dem Felsbild-Archiv (Abb. 8) und dem jüngsten Forschungsprojekt (Abb. 9) soll hier als Anknüpfungspunkt für weitere Überlegungen dienen. Auf der planen Papieroberfläche (Abb. 8) wirkt das Motiv durch die Verwendung von Mischtechniken, die direkt in das Papier eingedrückte Konturlinien, aufgeraute Pinseltupfen, verlaufende Farboberflächen und modellierende Schattensetzungen kombinieren, wie eine simulierte Textur – ein auf dem Felsträger schwebendes und abgelöstes Etwas. Diese Darstellung kommt dabei nicht nur einem bestimmten Seheindruck vor Ort erstaunlich nahe, sondern lässt in unseren Augen auch Analogien zu digitalen Techniken der Visualisierung von aufgezeichneten Daten zu. Im Rahmen des Forschungsprojekts Pitoti und in Zusammenarbeit mit der Bauhaus Universität Weimar entstehen ab 2009 Close-ups und 3D-Aufnahmen der Felsgravierungen von Valcamonica mit einem speziellen Laser-Scanner, die sich in verschiedene Darstellungsformen (Abb. 9) übersetzen lassen.[26] Die Sensoren des Gerätes tasten sukzessive die materielle Struktur der Gravierungen ab, sodass die späteren Visualisierungen der gesammelten Daten gerade an der diffizilen Stelle visueller Darstellbarkeit gleichzeitig formgebend und variabel werden – an der mehrdimensional wahrnehmbaren, für die Berührung offenen Oberfläche der Gravierungen.[27] In beiden Beispielen kreist das Interesse also um die (nicht) wahrnehmbare Struktur des Forschungsgegenstandes – die spezifische Art und Weise des Verfahrens aber ist es, die im Prozess unterschiedliche, im Original unter Umständen nur potenziell enthaltene Elemente bestimmt und der Interpretation öffnet. In der Reflexion über wissenschaftliche Praxen scheint nicht nur ein Nebeneinanderstellen der finalen Produkte produktiv, sondern vielmehr ein Verfolgen der Analogien zwischen den Reproduktionsverfahren selbst.[28]
[1] Christopher Chippindale und Frederick Baker, Pitoti. Digital rock-art from prehistoric Europe: heritage, film, archaeology, Mailand 2012, S. 22.
[2] Die Forschungsgeschichte in Valcamonica umfasst zeithistorisch, technologisch und nicht zuletzt ideologisch verschiedene Phasen wissenschaftlicher Praxis, vgl. Emmanuel Anati, Valcamonica rock art. A new history for Europe, Capo di Ponte 1994, S. 23 – 46. Die Aktivitäten des bereits 1898 gegründeten und auf materielle Kulturgüter des afrikanischen Kontinents fokussierten Forschungsinstituts für Kulturmorphologie mit einem Stab an assoziierten Wissenschaftlern und MitarbeiterInnen steht im Fall von Valcamonica in einem dezidiert europäischen Kontext. Die Forschungsreisen müssen in den gesellschaftlichen, nationalistisch, nationalsozialistisch und kolonial geprägten Strukturen und Interessen der Wissensproduktion verortet werden. Vgl. Karl-Heinz Kohl, Leo Frobenius und sein Frankfurter Institut, in: Karl-Heinz Kohl und Editha Platte (Hg.), Gestalter und Gestalten. 100 Jahre Ethnologie in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2006, S. 395.
[3] Christoph Hoffmann, Festhalten, Bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung, in: Christoph Hoffmann (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich 2008, S. 8.
[4] Hoffmann 2008, S. 17.
[5] Den Angaben des Online-Archivs des Frobenius-Instituts zufolge handelt es sich um Maria Weyersberg, Karl Kerenyi und Giuseppe. URL: http://bildarchiv.frobenius-katalog.de/hzeig.FAU?sid=70A60BA1104&dm=1&ind=1&zeig=FoA+18-KB02-17 [19.03.2015].
[6] Zur genderspezifischen Organisation des Instituts und der Rolle der Forscherinnen, vgl. Bettina Beer, Ein kleiner Amazonenstaat. Frühe Ethnologinnen und Ethnographinnen am Institut für Kulturmorphologie (Frobenius-Institut), in: Kohl/Platte 2006.
[7] Hoffmann 2008, S. 7 – 20. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 18 – 34, 76 – 87, 109 – 121. Vgl. Peter Geimer, Einführung, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 7 – 25. Zu den sogenannten Felsbildkopien im Archiv des Frobenius-Instituts, vgl. Kohl 2006, S. 391 – 396. Vgl. Richard Kuba, Frobenius in New York. Felsbilder im Museum of Modern Art, in: Volker Gottowik, Holger Jebens und Editha Platte (Hg.), Zwischen Aneignung und Verfremdung: Ethnologische Gratwanderungen, Frankfurt am Main 2008, S. 139 – 155. Der Begriff der Kopie wird problematisch in der Verkürzung auf eine binäre Struktur zwischen Original und Kopie sowie in Bezug auf Aspekte der Vervielfältigung und der Ähnlichkeit. Der Fokus auf den Prozess der Übersetzung scheint mir hier produktiv zu sein.
[8] Chippindale/Baker 2012, S. 16 – 28. Vgl. Anati 1994. Mein Interesse an den Felsgravierungen von Valcamonica und ihrer Rezeption speist sich aus Momenten der Differenz zu jenem Forschungsmaterial und zu jenen Diskursen, die sich in Überschneidung der disziplinären Felder von Ethnologie, Archäologie, Frühgeschichte und Ästhetik in erster Linie mit Zeugnissen prähistorischer Malerei und Imaginationen zu den Anfängen der Kunst auseinandersetzen.
[9] Hoffmann 2008, S. 10.
[10] Jutta Voorhoeve (Hg.), Welten schaffen: Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Konstruktion, Zürich 2011. Karin Krauthausen (Hg.), Notieren, skizzieren: Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs, Zürich 2010. Barbara Wittmann (Hg.), Spuren erzeugen: Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Zürich 2009 sowie Hoffmann 2008.
[11] Hoffmann 2008, S. 8. Zudem verweisen die bisherigen Beobachtungen auf Produktions- und Wahrnehmungskonventionen von Bildmaterial im wissenschaftlichen Diskurs, die in der Regel durch Imaginationen von Objektivität bestimmt werden. Die umfassenden Publikationen von Lorraine Daston und Peter Galison zu Paradigmen der Objektivität in der Wissensproduktion sind hier grundlegend: Lorraine Daston und Peter Galison, Objectivity, New York 2010. Lorraine Daston und Peter Galison, Das Bild der Objektivität, in: Geimer 2002.
[12] Barbara Wittmann, Porträt der Spezies, in: Hoffmann 2008, S. 54.
[13] Wittmann 2008, S. 57.
[14] Hoffmann 2008, S. 20. Vgl. Rheinberger 2001, S. 114.
[15] Hoffmann 2008, S. 13.
[16] Ich danke an dieser Stelle Peter Steigerwald und Richard Kuba für die freundliche Betreuung und Bereitstellung des Materials im Foto-Archiv und Felsbild-Archiv des Frobenius-Instituts in Frankfurt am Main.
[17] Maria Weyersberg, Reisetagebuch aus dem Archiv des Frobenius-Institut Frankfurt am Main, August 1937, o.S., unveröffentlicht.
[18] Meyer Schapiro, Über einige Probleme in der Semiotik der visuellen Kunst: Feld und Medium beim Bild-Zeichen, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 2001, S. 253 – 254.
[19] Geimer 2002, S. 24.
[20] In Hinblick auf Beobachtungen, die eine Nähe zu ästhetischen Verfahren und Ästhetiken zeitgenössischer Fotografie unterstreichen, kann mit Peter Geimer zum einen auf die vakante Trennung von künstlerischer und wissenschaftlicher Fotografie, zum anderen aber auch auf die Problematik einer retrospektiven Vereinnahmung in das System Kunst verwiesen werden. Vgl. Geimer 2002, S. 10 – 11.
[21] Geimer 2002, S. 7.
[22] Ein wichtiger Bereich der Rezeptionsgeschichte lässt sich an den zwischen 1929 und 1937 in europäischen Städten sowie in Johannesburg und New York organisierten Ausstellungen mit den Beständen des Felsbild-Archivs festmachen, vgl. Kuba 2008 sowie Julia Voss, Leo Frobenius. Der Moderne wider Willen, in: FAZ, 25.11.2011. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/leo-frobenius-der-moderne-wider-willen-11541082.html [19.03.2015].
[23] Hoffmann 2008, S. 9.
[24] Hoffmann 2008, S. 9.
[25] Hoffmann 2008, S. 9.
[26] Von Seiten des Instituts für Mediengestaltung der Bauhaus Universität Weimar: Alexander Kulik, Bernd Fröhlich, Felix Trojan, Marcel Karnapke. URL: http://www.pitoti.org/index.php/en/ [31.03.2015].
[27] Chippindale/Baker 2012, S. 52 – 53.
[28] Hoffmann 2008, S. 14.