Der negative Raum oder die andere Seite des Lichts

Maria Nordman und Nan Hoover: Wahrnehmung Raum Kunst Architektur

Als negativer Raum wird in der Malerei und in der Fotografie jener Bereich bezeichnet, der nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit darstellt und somit den Hintergrund oder auch die Grundfläche in der Figur-Grund-Beziehung beschreibt. Im dreidimensionalen Raum verweist der Begriff negativer Raum nach Rudolf Arnheim auf den Raum, der die Dinge umgibt, aber auch auf die Hohlräume in den Objekten selbst: „(…), ‚negative space‘ refers to the opposite of solid objects.“[1] Der negative Raum ist in diesem Kontext der Raum zwischen den Dingen im Gegensatz zur festen Materie, die Raumgrenzen definiert. Analog stellen auch Schatten einen negativen Raum dar. Sie modellieren den beleuchteten Körper, setzen ihn in Szene und erleichtern die Orientierung im Raum. Mit den Schatten wird die sichtbare Welt erst zum eigentlichen Ganzen. Darüber hinaus können Schatten Raumstimmungen erzeugen, die das subjektive Empfinden berühren.

Eine besondere Stimmung vermittelt etwa die Abenddämmerung, der Eintritt in den Eigenschatten der Erde. Scheinbar vereinigen sich die Schatten des Tages zu einem großen Schatten im Übergang von Tag zu Nacht. In der Dämmerung wird der Erdschatten über gestreutes Sonnenlicht in höheren Schichten der Erdatmosphäre etwas aufgehellt. Die Schatten, die zuvor noch dem beleuchteten Objekt zuzuordnen waren, scheinen dann eigentümlich aufgelöst. Das Gesehene wird diffus und es entstehen Mehrdeutigkeiten. Der Stimmungsraum entfaltet sich zunehmend mit den Schatten, die das visuelle Bild der Raumbegrenzungen schwächen und die Raumimagination verstärken.

An der Schwelle von Helle zu Dunkelheit vollzieht sich im sehenden Menschen eine Veränderung, die seine Raumwahrnehmung entscheidend prägt. Die Dominanz des Sehsinns wird bei zunehmender Dunkelheit von den anderen Sinnen abgelöst.

Ist der Tagraum als Raum der Dinge und Distanzen zu verstehen, in dem auch der Mensch ein Ding darstellt, so ist die Beziehung Mensch-Raum im Nachtraum eine intimere und schließt die jeweilige Befindlichkeit des Menschen stärker mit ein.

Otto Bollnows Buch „Mensch und Raum“[2] ist eine systematische Darstellung des erlebten Raums. Im 4.Teil seines Werkes analysiert Bollnow unter dem Titel Aspekte des Raums die Unterschiede in der Wahrnehmung von Raum unter den Bedingungen von Tag und Nacht und den Übergangserscheinungen wie Dämmerung und Nebel. Der Tagraum ermöglicht nach Bollnow ein Übersehen[3] des gesamten Raums inklusive aller Gegenstände in ihm. Otto Bollnow erläutert diesbezüglich die Vorrangstellung des Tagraums, der für sehende Menschen immer ein Sehraum ist. Im Tagraum ist eine problemlose Bewegung im Raum möglich, die sich nicht nur in der Handlung selbst sondern auch in der visuellen Wahrnehmung über die Möglichkeit des „Visierens“[4] ausdrückt. Indem der Raum visuell in seiner Tiefe erfasst wird, vollzieht sich bereits eine Bewegung in ihm. Ganz anders verhält es sich für den sehenden Menschen im Nachtraum, weil er sich nun nicht mehr auf den Sehsinn verlassen kann.  Die für die visuelle Konstruktion von Raum notwendigen Parameter Horizont und Perspektive sind in der Nacht nicht mehr vorhanden. „Jeden Abend mit dem Einbruch der Dunkelheit verschwindet die Sichtbarkeit der Dinge im Raum. Und trotzdem bleiben wir im Raum. Nur hat dieser Raum einen völlig anderen Charakter.[5]

Bollnow argumentiert, dass es falsch wäre, den Nachtraum nur am Fehlen eines Handlungsspielraums wie er am Tag möglich ist, zu beurteilen.[6] Der Nachtraum wird im Unterschied zum Tagraum als gestimmter Raum wahrgenommen, der im Menschen Emotionen und Gefühle weckt. Am Beispiel der Atmosphäre des Nachtraumes lässt sich die Verflochtenheit von Mensch und Raum nachvollziehen, die tagsüber nicht offensichtlich ist.

Der Philosoph Gernot Böhme definiert Atmosphären aus philosophisch-anthropologischer Perspektive als „gestimmte Räume“: „Atmosphären sind etwas Räumliches und die werden erfahren, indem man sich in sie hineinbegibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren, bzw. uns zumindest anmuten.“[7]

Es ist demnach offensichtlich, dass Atmosphären auch Elemente der Architektur sind. Atmosphären werden immer subjektiv erfahren und entziehen sich großteils der objektiven Analyse. „Die analytischen Instrumente sind deshalb so schwer zu erzeugen, weil der atmosphärische Architekturraum sich an den Rändern der Rationalität ausbreitet und nicht mehr unter dem alten ehrwürdigen Aspekt der Ganzheit erfasst werden kann. Er wird ‚von innen‘ erfasst, als eine Gefühlsstruktur, leibbedingt, die wir mit uns herumtragen, und zugleich ‚objektiv‘, als eine Dingstruktur, die vor uns ausgebreitet ist, eben beides.“[8]

Die Dominanz des Sehens und die Übersichtlichkeit des Raums führten in der abendländischen Geschichte zur Formulierung eines abstrakten Raumbegriffs, der wie ein Behälter Dinge und Körper umschließt. Dieses Raumbild geht bereits in die Antike zurück und Isaac Newton entwickelte daraus eine physikalische Raumtheorie, die sich auf die euklidische Geometrie stützt. Newtons Raumtheorie ist zwar mittlerweile relativiert, sie hat aber heute noch praktische Bedeutung für die Vermessung von Dingen und Distanzen. Deshalb entspricht diese Raumvorstellung immer noch der allgemeinen Vorstellung von Raum. Die Soziologin Martina Löw weist darauf hin, dass neben den abstrakten philosophischen und physikalischen Raumbegriffen die Phänomenologie, wie sie von Bachelard, Bollnow, Schmitz oder Kruse vertreten wird, die einzige Theorierichtung darstellt, die das Raumerlebnis systematisch beschreibt.[9] Die Phänomenologie bildet auch die Grundlage für die theoretischen Überlegungen zu Architektur und Atmosphäre bei Gernot Böhme. Böhme nennt den mathematischen Raum den Raum als Medium von Darstellungen und unterscheidet ihn vom erlebten Raum als „Raum der leiblichen Anwesenheit“[10]. Der erlebte Raum ist im Gegensatz zum mathematischen Raum kein neutraler objektiver Raum und zeichnet sich durch die „Involviertheit in diesen Raum“[11] aus. Daher auch die Bezeichnung, „Raum der leiblichen Anwesenheit“, die explizit auf das Verhältnis des Menschen zu diesem Raum hinweist. Der „Raum leiblicher Anwesenheit“ hat im Gegensatz zum mathematischen Raum seinen ausgezeichneten Mittelpunkt bezogen auf den Leib und er hat Richtungen, die mit dem Leib zusammenhängen.[12] Charakteristisch für den erlebten Raum ist die leibliche Erfahrung von Weite und Enge, Vertrautheit und Fremde, Licht und Schatten etc. Der erlebte Raum ist immer zugleich ein Stimmungsraum mit einer spezifischen Atmosphäre, die beispielsweise als feierlich, bedrückend oder heiter wahrgenommen wird, und „die Ausgedehntheit meiner Stimmung selbst.“[13] Atmosphären werden im leiblichen Spüren erfahren und damit auch der Raumcharakter.

Böhme betont die Schwierigkeit, über Architektur als Kunst zu reden.[14] Im Unterschied zu anderen Kunstrichtungen dient die Architektur einem Zweck. Der Anteil der Architektur, der der Kunst zugeordnet wird, betrifft vor allem die sichtbare Gestaltung der Materie, die von ArchitektInnen und KritikerInnen mit anderen Künsten verglichen wird. „Ein Architekt gestaltet seine Bauten wie Skulpturen, der andere versucht sich im Malerischen, der dritte will Gebäude wie Texte, und der vierte wie Musik.“[15] Die Dominanz des Sehens und des sichtbaren Raumes bestimmt die Architekturpraxis, in der die Architekturpräsentation eine entscheidende Rolle spielt. Die Wahrnehmung von Architektur abseits der Betrachtung von außen, indem man sich in den architektonischen Raum hinein begibt, um den Raum zu erleben und zu beschreiben, ist an sich nichts Außergewöhnliches. Der Raum selbst wird aber meistens nicht beschrieben, sondern es wird der Raum über seine Begrenzungen und Inhalte definiert. Auch das Aufspüren und Benennen von Atmosphären ist schwierig, da sie neben der Funktion eines Gebäudes selten bewusst in Erscheinung treten. Nur dort, wo sie die Funktion aktiv unterstützen, wie beispielsweise in der Kirche oder im Hotel, haben sie primäre Bedeutung und dienen der Inszenierung eines bestimmten Raumerlebnisses. Die subjektive Raumerfahrung im Alltag, die Gefühle mit einbezieht,  beinhaltet die Schwierigkeit, über den Raum objektiv zu reden.  Es gibt daher auch für das Erzeugen von Atmosphären kein eindeutiges Vokabular in der Gestaltung. Wenn Architektur sich nicht wie bisher alleine auf Dinge und Raumbegrenzungen konzentriert sondern auf den Raum selbst im Sinne Böhmes als „Raum der leiblichen Anwesenheit“, dann können sich „durch Artikulation Räume unterschiedlichen Charakters bilden […]. Orientierungen, Bewegungsanmutungen, Markierungen sind solche Artikulationsformen. Sie schaffen im Raum Konzentrationen, Richtungen, Konstellationen.“[16] Diese bilden die Grundlage für neue Raumkonzepte. In der Architektur wird der Mensch immer noch als abstrahierter Körper gesehen und nicht als Leib behandelt, während die folgenden Beispiele in der bildenden Kunst anschaulich zeigen, wie der „Raum leiblichen Spürens“[17] nach Böhme artikuliert werden kann.

Um gestimmte Räume, die affektiv und emotional erlebt werden, geht es in den Werken der beiden Künstlerinnen Nan Hoover und Maria Nordman. Die Kunstwerke ermöglichen eine differenzierte Erfahrung der Leib-Raumbeziehung. Die spezielle Erfahrung, sich in den Kunstwerken zu befinden und leiblich zu spüren, entsteht gänzlich ohne Gegenstände und wird durch Licht- und Schattenräume evoziert. In Nan Hoovers Werk ist der Körper immer auch der Körper der Künstlerin selbst, der auf den Leib und seine Verflochtenheit mit dem Raum verweist. Maria Nordmans Raumgestaltung ermöglicht das leibliche Spüren von Raum anhand der spezifischen Erfahrung eines dämmrigen Raumes.

1. …with the given daylight and the given sound for one or two people

Maria Nordman, Varese 1976...with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Grundriss Schema.

Maria Nordman, Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Grundriss Schema.

Im Bereich der ehemaligen Stallungen der Villa Panza di Biumo in Varese in der Nähe von Mailand befindet sich das Kunstwerk „Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people.[18] der deutsch-amerikanischen Künstlerin Maria Nordman. Der Innenraum ist über zwei Schleusen zu betreten (Abb. 1), die Nordman als  „antirooms with doors“[19] bezeichnet. Die Vorräume sind neutral und je nach Intensität des Tageslichts über ein Fenster in der Tür zur Außenseite diffus beleuchtet (Abb. 2). Dieses Fenster in Augenhöhe ist mit einem teiltransparenten Spiegel versehen.

Maria Nordman, Varese 1976...with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Ansicht Vorraum.

Maria Nordman, Varese 1976…with the given daylight and the given sound for one or two people, 1976, Villa Panza di Biumo, Varese, Ansicht Vorraum.

Die beiden Eingänge weisen darauf hin, dass die Arbeit Nordmans für ein bis zwei Personen gleichzeitig gedacht ist. Der eigentliche Ausstellungsraum, eine leere Halle, erscheint im ersten Moment des Betretens vollkommen dunkel. Die BesucherInnen sehen zunächst nichts. Erst nach und nach lässt sich ein Raum ausmachen, der von einem dichten, dunklen Nebel gefüllt zu sein scheint. Nach einigen Minuten, in denen sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, lässt sich der Raum differenzierter wahrnehmen. Über zwei sehr schmale, raumhohe Lichtspalten in der Mitte der seitlichen Wand dringt kaum wahrnehmbar Tageslicht in den Raum, das diesen in zwei äußere, hellere Lichtvolumen und einen inneren, dunkleren Schattenkörper unterteilt. Maria Nordman bezeichnet die Wahrnehmung von Helligkeit in diesem Raum als „two bodies of daylight.“[20] Es sind verschiedene Abstufungen von Grau, die eine stoffliche Präsenz vermitteln und je nachdem eher der Helle oder der Dunkelheit zugewiesen werden. Die BesucherInnen sehen sich diesen Tageslichtkörpern  gegenüber und befinden sich gleichzeitig im Schatten, der sie selbst einhüllt. Da die Raumbegrenzungen kaum bis nicht wahrzunehmen sind, lässt sich die Größe des Raums nicht bestimmen. Der ganze Raum wirkt diffus, er scheint zu oszillieren und seine Dimensionen scheinen sich zu verändern.

Nach einer Weile werden Geräusche, die von draußen in den Raum dringen, präsent. Es sind zum einen Geräusche, die einzeln aus einer Richtung kommend wahrgenommen werden und so eine bestimmte Stelle im Raum markieren, wie das Rufen eines Kindes, oder sie schwellen an und nehmen ab, wie Schritte im Kies oder das Geräusch eines Rasenmähers, einmal näher kommend und sich wieder entfernend. Ähnlich wie bei der Dunkeladaption der Augen, die einige Minuten benötigen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, entwickelt sich das Hörereignis mit der Zeit. Losgelöst von ihren Quellen gewinnen die Geräusche damit eine räumliche Qualität.

Die Wahrnehmung des Dazwischen, des Zwischenraumes und der Zwischenzeit, also des negativen Raumes, sind im Werk Nordmans von größerer Bedeutung als die Wahrnehmung von Begrenzungen. Die meditative Atmosphäre in Nordmans Kunstwerk und die Raumaufteilung in Nebenräume und Hauptraum erinnert an die traditionelle japanische Architektur eines Teehauses. Tanizaki Jun’ichirō merkt dazu in seinem Essay über japanische Ästhetik Lob des Schattens[21] an: „Vermutlich ist mit dem ‘Mysterium des Ostens’, von dem die Abendländer reden, die unheimliche Stille gemeint, die solches Dunkel in sich birgt. Auch uns selbst überkam in der Jugendzeit jeweils eine unaussprechliche Furcht, ein Frösteln, wenn wir in die Wandnische eines Teeraums oder Studierzimmers hineinstarrten, wo kein Sonnenstrahl hingelangte. Wo liegt also der Schlüssel zu dem Mysterium? Ich will das Geheimnis lüften: Es lässt sich letzten Endes auf die Magie des Schattens zurückführen. Falls man die in allen Winkeln kauernden Schatten fortscheuchte, wäre die Wandnische augenblicklich nichts weiter als ein leerer Raum.“[22] Jun’ichirō beschreibt die Atmosphäre eines Schattenraumes, indem er Gefühle benennt, die er im Teehaus empfunden hat. Gernot Böhme definiert mit Bezug auf Hermann Schmitz Atmosphären als „ergreifende Gefühlsmächte“.[23] Es ist das Zusammenwirken von Raumproportion, Licht- und Schattenverhältnis, Materialität und Befindlichkeit des fühlenden Subjektes, das den Charakter des gestimmten Raumes ausmacht. Analog erzeugt die präzise Abstimmung dieser Faktoren durch die Künstlerin Maria Nordman die spezifische Atmosphäre, die dem Hauptraum in Nordmans Kunstwerk in Varese innewohnt. In ihren Beschreibungen verwendet Maria Nordman nie das Wort „spaces“ für ihre Räume, sondern bezeichnet diese als „rooms“ oder bevorzugt „places“, die somit einen stärkeren Ortsbezug haben. Ihrer Definition nach beschreibt der Terminus „space“ einen leeren Raum.[24] Nordmans Wahrnehmungsraum in Varese enthält zwar keine Dinge, aber er ist dennoch nicht leer. Der von der Künstlerin gestaltete Ort ist für die Funktion der Raumwahrnehmung bestimmt, er existiert erst durch die Auseinandersetzung mit ihm und wird dadurch zum erlebten und gelebten Raum. Würde man jedoch die Faktoren, die die charakteristische Atmosphäre prägen, weglassen, dann wäre auch dieser Raum wie in Jun’ichirōs Beschreibung „nichts weiter als ein leerer Raum“.

Neben Maria Nordman befinden sich weitere raumbezogene Arbeiten in der Villa Panza di Biumo in Varese wie beispielsweise von James Turrell und Robert Irwin, die eigens für die Kunstsammlung des Grafen Guiseppe Panza di Biumo in den 1970er Jahren installiert wurden. Die architektonischen Räume, die die Kunstwerke beinhalten, wurden nach den Plänen der KünstlerInnen in einem Um- und Zubau errichtet.

Die umfangreiche Kunstsammlung beinhaltet neben Action Painting, Newdada, Pop Art, Minimal Art und Conceptual Art auch Environmental Art. Unter der Bezeichnung Environmental Art fasst der italienische Kunstkritiker Germano Celant im Katalog zur Sammlung[25] die Wahrnehmungsräume der oben genannten Künstler sowie jene von Nauman, Orr, Bell und Wheeler zusammen. Die Künstler bearbeiten die vorhandenen architektonischen Räume und erzeugen mit Licht- und Schattenmodulationen spezifische Stimmungen. Wie James Turrell und Robert Irwin hat auch Maria Nordman Erfahrungen in einem (Schall-)reflexionsarmen, völlig dunklen Raum (anechoic chamber) gesammelt, die ihr künstlerisches Schaffen nachhaltig beeinflusst haben.

Germano Celant sieht in der sinnlichen Raum- und Körperwahrnehmung den gemeinsamen Nenner einer bestimmten Künstlergeneration der späten 1960er und 1970er Jahre an der Westküste der USA: „In den Räumen von Nauman, Orr, Wheeler, Asher, Irwin, Turrell und Nordman ist es in der Tat unmöglich, der Identität des eigenen Körpers zu entfliehen. Alles reduziert sich auf die Wahrnehmung eines Phänomens, das zwischen dem Innen und dem Außen und umgekehrt verläuft, ohne auf irgendeinem fest gefügten und quantifizierten Gegenstand oder Produkt zu verweilen.“[26]

Maria Nordman inszeniert eine Abfolge von Räumen und setzt Bedingungen für die Rezeption ihrer Kunstwerke, um die Wahrnehmung selbst zum bewussten Erlebnis zu machen. In Nordmans Schattenraum wird die Stofflichkeit der Dunkelheit zum Thema wie es auch Bollnow beschreibt. Die Umhüllung der Dunkelheit bezeichnet eine engere Beziehung zwischen Körper und Raum als der auf Distanz gehaltene Tagraum. „Es gibt in diesem Raum keinen Abstand, keine Ausdehnung im eigentlichen Sinn, und doch hat er eine eigentümliche Tiefe. Aber diese Tiefe ist anders als die Tiefendimension des Tagraums, denn sie verbindet sich nicht mit der Höhe und Breite, sondern die sich aller Quantifizierung entziehende Tiefe ist die einzige Dimension dieses Raums. Es ist eine dunkle und unbegrenzte Umhüllung, in der alle Richtungen gleich sind.“[27]

2. Movement from either direction

Aus der Malerei kommend inszeniert auch die Künstlerin Nan Hoover Schattenräume, die sich jedoch inhaltlich und technisch von dem Werk Nordmans unterscheiden. Während Maria Nordman ausschließlich mit dem Tageslicht arbeitet, setzt Nan Hoover Medien wie Kunstlicht, Dia- und Videoprojektoren ein. Sowohl in ihren Videoinstallationen in Innenräumen als auch in ihren Lichtinstallationen in Außenräumen vermitteln Schattenprojektionen das unbehagliche Gefühl einer unbekannten physischen Präsenz, selbst wenn es nur der eigene Körperschatten ist, der in Erscheinung tritt.

Nan Hoover, Movement from either direction, 1995, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Raumansicht.

Nan Hoover, Movement from either direction, 1995, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Raumansicht.

Neugier und emotionale Reaktion evoziert etwa die Videoinstallation Movement from either direction (1995, Abb. 3) in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Im schwarz gestrichenen Ausstellungsraum ist ein weiterer Raum errichtet, dessen Wände mit blauem Licht angestrahlt werden. In diesen blau ausgeleuchteten Raum werden übergroße menschliche Schatten projiziert, die sich langsam im Raum von links nach rechts und umgekehrt bewegen.

 

„a room within a room

standing at the door i

watch a shadow moving in the corner“[28]

 

Es handelt sich dabei um die Schattenprojektion der Künstlerin und ihres Assistenten. Die Schattenprojektionen animieren die BetrachterInnen aktiv zu werden, den Raum zu durchschreiten und den bewegten Schattenbildern zu folgen. Sie übertragen die spezifische Geschwindigkeit und Art der Bewegung, die die Künstlerin vorgibt, auf den Raum.

Das dunkle intensive Blau stimmt den Raum vergleichbar mit der Atmosphäre der Abenddämmerung. Die Wirkung der Farbe Blau verstärkt das Raumgefühl der Tiefe. Im schwachen Licht sind die BesucherInnen der Ausstellung selbst nur undeutlich als Konturen zu erkennen, die sich wie Schattengestalten durch den Raum bewegen und dabei gewollt oder ungewollt den Rhythmus der Schattenprojektionen brechen. Für die BesucherInnen erschließt sich deshalb die Herkunft der Schatten nicht eindeutig. Die Schattenprojektionen werden von den realen Schatten der BesucherInnen überlagert, aber da sie nie dieselbe Größe erreichen, führt das zu einer weiteren Irritation. Neben der emotionalen Ebene – den Gefühlen, die beim Betreten dieses Schattenraums entstehen – stellen sich auch Fragen nach dem Verhältnis von Schein und Wirklichkeit. Nan Hoover sucht den Dialog mit den BetrachterInnen, indem ihr Kunstwerk Fragen stellt, für die es keine universelle Antwort gibt. Vielmehr will die Künstlerin die Imaginationsfähigkeit bei den BetrachterInnen anregen. „If you are given something very concrete, then there is no reason for the imagination to be activated.“[29]. Diese Befragung findet nicht allein in der Anschauung mithilfe des Verstandes statt sondern auch auf der sinnlich-emotionalen Ebene des leiblichen Spürens.

Die BetrachterInnen werden selbst zu AkteurInnen, die sich durch experimentell erzeugte raumgreifende Schattenbilder der eigenen Körperwirkung auf den Umgebungsraum nach und nach bewusst werden.

Nan Hoover, Light Composition, 1986, Performance in der Kunsthalle Kiel.

Nan Hoover, Light Composition, 1986, Performance in der Kunsthalle Kiel.

Die Gestaltung der Lichtkomposition für die oft interaktiven Licht-Rauminstallationen ist mit jenen der Performances der Künstlerin vergleichbar.  In den Performances mit dem Titel Light Composition (Abb. 4 & 5), in denen sie ihren Körper in Relation zum umgebenden Raum in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, arbeitet die Künstlerin stets mit der Architektur des Raums und dessen Dimensionen. Entsprechend der ortsspezifischen Herangehensweise entwickelt die Künstlerin für jeden Veranstaltungsort einen genauen Lichtplan, wobei für jede Performance, auch an denselben Orten, ein eigenes Konzept erstellt wird. Die Künstlerin will damit auch die möglichen Variationen, die der jeweilige Raum zulässt, aufzeigen.[30] Allen Orten gemeinsam ist die dunkle Grundstimmung. Das Publikum und die Bereiche des Veranstaltungsraums, die nicht bespielt werden, sind unbeleuchtet. Hoover verwendet farbige Lichtfilter und schwarzes Tonpapier, um mit mehreren Diaprojektoren geometrische Formen auf die Wände zu projizieren. Sie bevorzugt Projektionslicht, daher verwendet sie Diaprojektoren, die annähernd parallele Projektionsstrahlen erzeugen und der Qualität von Sonnenlicht nahe kommen.

Nan Hoover, Light Composition, 1988, The Australian Center for Photography, Sydney.

Nan Hoover, Light Composition, 1988, The Australian Center for Photography, Sydney.

Die Beleuchtung verändert sich während der Performance nicht, dennoch verändert sich die Lichtwirkung im Raum durch die Bewegungen der Künstlerin. Nan Hoover trägt einen weißen Anzug, die Arme hängen seitlich, während sich die Künstlerin sehr langsam dreht oder in eine bestimmte Richtung bewegt. „It´s another feeling in time, when there is not any interruption. I move very slowly. I am concentrated. I can feel a little bit of light coming on the side of my cheek. With my peripheral vision, I can feel the light coming across my cheek, the corner of my jaw. I just shift my body very slowly and let the light roll across my face, and then of course turn and confront the audience with a stripe from one ear going across my nose to my other ear.“[31]

Nan Hoovers Bewegungen sind fließend, ohne Unterbrechung und beinahe unmerklich. So dreht sich beispielsweise die Schulter der Künstlerin in den Strahlengang der Lichtprojektion und erzeugt Schattierungen und Farben, die wechselnde Raumbilder in der Rezeption entstehen lassen. Im Rhythmus von Licht und Schatten entfalten sich aus der ebenen Projektionsfläche scheinbar Volumina, deren Ausdehnung sich im zeitlichen Ablauf verändern. Schließlich werden auch Zwischenräume und Nuancen der Schattierungen sichtbar, die sich aus der Imagination mit der Wahrnehmung überlagern.

Im Œuvre Hoovers finden sich öfter ein oder mehrere diagonale Elemente, die an den schrägen Lichteinfall des Tageslichts erinnern. Die Schrägheit ist daneben nach Arnheim ein Synonym für Bewegung, „Die schräge Richtung ist wahrscheinlich das grundlegendste und wirksamste Mittel zur Erzeugung einer gerichteten Spannung. Schrägheit wird spontan als ein dynamisches Streben wahrgenommen (…).“[32]

In den Performances Hoovers wird offensichtlich, dass der Körper ein wichtiger Referenzfaktor für die Wahrnehmung von Dimensionen und Formen im Licht- und Schattenraum ist. Wesentlich ist die Bewegung des Körpers und somit sich verändernde Raumpositionen, die aus der statischen Beleuchtung eine dynamische und räumlich wirkende Licht- und Schattenkomposition erschaffen. Bereits minimale Positionsveränderungen des Körpers beeinflussen die Wahrnehmung von Helligkeit, Farben und Schattierungen im Raum. Der Tiefeneindruck entsteht durch Überlagerung von Licht-und Schattenformen, die als Schichtung im Raum gelesen werden.[33] Die Interaktion von Körper und Licht erzeugt so eine Abfolge von Raumbildern mit unterschiedlicher Tiefenwahrnehmung.

Dabei dehnt Nan Hoover das Zeiterlebnis in ihren Stimmungsräumen mittels der ungewöhnlichen Langsamkeit ihrer Bewegungen und der Stille, die sie dabei umgibt, und begünstigt dadurch die sinnliche Wahrnehmung von Atmosphären.

Oft wurde das Lichtarrangement für die Dauer einer  Ausstellung beibehalten, wie beispielsweise auf der Documenta 8 1987 in Kassel. Die Performance fand nur einmal am Eröffnungstag statt und der Raum war anschließend für die BesucherInnen geöffnet, die nun selbst Gelegenheit hatten, Schattenkompositionen zu entwickeln und subjektive Raumerfahrungen zu machen.

3. Genuine Raumerfahrung

Die von Nordman und Hoover gestalteten Schattenräume beziehen die Rezeption mit ein und trennen nicht zwischen Objekt und Subjekt. Sie entsprechen Böhmes Definition vom „Raum der leiblichen Anwesenheit“ und der Atmosphäre, das Kunstwerk vollzieht sich im leiblichen Spüren. Mit Bezug auf Dieter Hoffmann-Axthelm stellt Böhme fest, „daß Wahrnehmen immer auch zugleich Nichtwahrnehmen bedeutet.“[34] Dies bewahrheitet sich im Wahrnehmungsraum Nordmans in der Villa Panza di Biumo, der zugleich leiblich spürbarer Dämmerungsraum und negativer Raum ist. Er zeichnet sich durch seine Unbestimmtheit aus und berührt dadurch den Gefühlsraum des Menschen.

Nan Hoover experimentiert und irritiert mit bewegten Schattenkompositionen, indem sie wie etwa in Movement from either directions den Schattenwurf von Körpern mit projizierten Schattenbildern überlagert. In den Performances ist die Kausalität der Schatten für das Publikum prinzipiell nachvollziehbar, aber die Komplexität der Überlagerungen von Lichtprojektion, Reflexion und Schattenwurf in Kombination mit Bewegung und Zeit beinhaltet eine nicht artikulierbare Wahrnehmungsdimension im subjektiven Erleben. Gerade dadurch wird die Aufmerksamkeit des Publikums gesteigert und die Wahrnehmungsweise selbst infrage gestellt.

Hoover und Nordman untersuchen die Grenzen der Sichtbarkeit und beziehen dabei den Leib in die Wahrnehmung mit ein. Die Rezeption ihrer Kunstwerke verlangt eine neue Wahrnehmungsweise, ein neues und anderes Sehen als das kulturell geprägte Sehen von Objekten und ihren Abständen. Hier beinhaltet Sehen zugleich Staunen und Reflexion. Es geht überdies um die Erfahrung und das Erkennen komplexer Prozesse, die Räume und somit Atmosphären bilden. Die von den Künstlerinnen gestalteten neuen Räume stellen für die Architektur Modellsituationen dar, die das gestalterische Denken anregen. Die genuine Raumerfahrung steht im Mittelpunkt der künstlerischen Arbeit und bildet den Ausgangspunkt für das Verständnis von Atmosphären.


[1] Rudolf Arnheim, To the Rescue of Art. Twenty-Six Essays, Berkeley/Los Angeles 1992, S. 92, vgl. dazu die Videodokumentation des öffentlichen Vortrags „Der negative Raum, Teil 1“ von Peter Weibel am Institut für Raumexperimente (Prof. Olafur Eliasson) an der UdK Berlin vom 8. Mai 2009, http://www.raumexperimente.net/de/single/peter-weibel-the-negative-space-part-i/ [06.08.2013].
[2] Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963.
[3] Ebd., S. 215.
[4] Ebd., S. 216.
[5] Ebd., S. 214.
[6] Ebd., S. 229.
[7] Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 16.
[8] Wolfgang Meisenheimer, Der Rand der Kreativität, Wien 2010, S. 101.
[9] Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 19.
[10] Böhme 2006, S. 16.
[11] Gernot Böhme, Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellungen, in: V. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2010/2011, Jürgen Hasse/Robert Josef Kozljanic (Hg.), München 2010, S. 51.
[12] Böhme 2006, S. 16, vgl. Bollnow 1963, S. 17.
[13] Böhme 2010, S. 53, vgl. Bollnow 1963, S. 231.
[14] Böhme 2006, S. 106.
[15] Ebd., S. 107.
[16] Ebd., S. 113.
[17] Ebd.
[18] Germano Celant (Hg.), Das Bild einer Geschichte 1956/1976. Die Sammlung Panza di Biumo. Die Geschichte eines Bildes. Action painting, Newdada, Pop art, Minimal art, Conceptual, Environmental art (Kat.), Mailand 1980, S. 315.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Zürich 1987.
[22] Ebd., S. 38.
[23] Böhme 2006, S. 19.
[24] Ebd.
[25] Celant 1980.
[26] Ebd., S. 295.
[27] Bollnow 1963, S. 227.
[28] Nan Hoover, Night letters, Köln 2000, S. 79.
[29] Nan Hoover in: Rob Perrée, Dialogue: About Nan Hoover, Köln 2001, S. 27.
[30] Nan Hoover, Light and Space (Vortrag), Technische Universität Graz, 11. 04. 2005.
[31] Nan Hoover in: Rob Perrée, Dialogue: About Nan Hoover, Köln 2001, S. 40.
[32] Vgl. Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin New York 2000, S. 426.
[33] Vgl.  ebd., S. 242ff.
[34] Böhme 2001, S. 33.
[35] Böhme 2001, S. 33.

Martina Tritthart studierte Architektur an der TU Graz. Im Moment hat sie Lehraufträge an der TU Graz und arbeitet an einer Dissertation über Raumwahrnehmung und Lichtkunst im Kontext der Architektur.
Dieser Artikel erscheint in der Kategorie Ausgabe 5, Essays. Permalink.