Den scheinbar so einheitlichen wie unabänderlichen Weltlauf als zusammengestückelte Montage aufzudecken war jene Kraft, die Walter Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Film zusprach. Sobald das Geschehen sich als „gemachtes“, künstlich zusammengesetztes zeige, würden wir – so die Hoffnung – sehen, wie wir in die Strömung eingreifen und sie umleiten können anstatt von ihr fortgetragen zu werden. Dass die Ästhetik den Bereich der Wahrnehmung, des Schönen und der Vorstellung nicht dauerhaft von Politik, Geschichte und Ethik würde abgrenzen können, war bereits in der kantischen Formulierung der ästhetischen Freiheit angelegt. Diese Überkreuzung erzeugt eine Tendenz zur Selbstüberschreitung in Kunst und Ästhetik und gibt so einen Anstoß für die große Bandbreite von Themen und Methoden, die all-over in jeder Ausgabe zusammenzuführen sucht.
Julia Haugeneder untersucht ausgehend von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer das gesellschaftspolitische Potenzial der Videoinstallation und geht der Forderung nach der Aktivierung der RezipientInnen auf den Grund. Diese Forderung – von Boris Groys aktualisiert – skizziert eine aktiv-reflektierte Rezeption als selbstbestimmten Parcours durch unkalkulierbare Videoloops.
Unter anderen Vorzeichen nimmt Martina Tritthart den beweglichen Körper im Raum in den Blick. Die Schattenprojektionen und Wahrnehmungsräume von Maria Nordman und Nan Hoover thematisieren Räumlichkeit als umhüllende, atmosphärische Qualität.
Sybille Krämers Konzept der Schriftbildlichkeit kennzeichnet die spezifische Räumlichkeit der Schrift als operationales Feld. Christine Brandner hat für uns die Philosophin zur Schrift als Instrument der Erkenntnis befragt.
Angelika Seppi beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Imitation von Bewegung, Leben und längst überholter Filmtechnik. Ihre Rezension zur diesjährigen Ausstellung im österreichischen Pavillon der Venedig Biennale verortet den dort gezeigten Animationsfilm von Mathias Poledna im Gravitationsfeld der zeitgenössischen Kunstmaschinerie zwischen Markt, Unterhaltung und Kritik.
Mit einem Promemoria würdigt Stefanie Bräuer Ad Reinhardt zum 100. Geburtstag. Die Reinheit der Malerei, die Reinhardt in seinen black paintings zum Ende führte, konterkariert sie mit den kritischen Texten und Kommentaren des Künstlers, der seine Position nicht nur metaphysisch, sondern auch pragmatisch-taktisch abzustecken wusste.
Die Gleichzeitigkeit verschiedener Ströme sowie die Spannungen und Abweichungen dazwischen werden nicht zuletzt in der Bildstrecke thematisch, die innerhalb dieser Ausgabe in Form zweier selbständiger Teile erscheint. Die Künstler Rafael Lutter und Max Leiß nutzen das digitale Zeitschriftenformat von all-over ergänzend zu ihrer aktuellen Ausstellung Strömungsabriss im Ausstellungsraum Klingental in Basel.
In eigener Sache freut es uns mitzuteilen, dass Barbara Reisinger seit diesem Sommer dauerhaftes Mitglied unserer Redaktion in Wien ist.
Hannah Bruckmüller | Jürgen Buchinger | Dominique Laleg | Barbara Reisinger